Wer nach dem schatz sucht klopfe ans tor

The Project Gutenberg EBook of Der Tor, by Bernhard Kellermann

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Title: Der Tor

Author: Bernhard Kellermann

Release Date: January 20, 2013 [EBook #41882]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

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Produced by Jens Sadowski





Der Tor Roman von Bernhard Kellermann Achte Auflage

S. Fischer, Verlag, Berlin
1913

Alle Rechte, insbesondere das der �bersetzung, vorbehalten.
Copyright 1908 S. Fischer, Verlag, Berlin.

Erster Teil

Erstes Kapitel

Jener junge Mann, um den es sich hier handelt, ein schlichter junger Mann, wie es deren Tausende gibt, traf gerade zu einer Zeit in der kleinen fr�nkischen Stadt ein, als sich alle Welt in der gr��ten Aufregung befand.

Ein Dienstm�dchen n�mlich, eine brave und beliebte Person, die jeder hundertmal mit ihren roten Backen und dem Mund voll wei�er Z�hne gesehen hatte, nahm sich das Leben. Sie war nicht zur Stelle, als man sie rief; man wartete, suchte und fand sie erh�ngt auf dem Speicher. Aber das war nicht alles. Dieses Dienstm�dchen mit den roten Backen und wei�en Z�hnen, diese ordentliche, unschuldig aussehende Person hatte zuvor ein Kind geboren und es in ihrer Kammer versteckt. Sie hatte das Kind in ein K�rbchen gebettet und in die Ecke hinter einen Schrank gelegt. Ein Gesangbuch lag dabei, ein goldenes Kreuzchen, ein silberner Ring mit einem winzigen blauen Stein. Das Kind war in ein wei�es seidenes Tuch geh�llt. In die Wand, oberhalb des K�rbchens, hatte sie eine Unmenge von Kreuzen geritzt, einen ganzen Friedhof. Pl�tzlich nun schrie das Kind j�mmerlich in der Kammer der Magd. Ja, da schreit ja ein Kind, sagten die Leute, in ihrer Kammer! Und die Frau des Hauses, Frau H�berlein, die Gattin des Bezirksamtmannes, fand das Kind in der Ecke. Es war in ein seidenes Tuch eingeh�llt, das die Frau des Hauses dem Dienstm�dchen einige Wochen vorher zu Weihnachten geschenkt hatte. Ein fast neues, feines Tuch.

Die Stadt geriet mehr und mehr in Aufregung. Man ri� die Fenster auf und rief: Was ist denn wieder? Ein Kind, sie haben ein Kind in ihrer Kammer gefunden! Zwei barmherzige Schwestern schwebten �ber den Marktplatz und verschwanden im Hause des Bezirksamtmannes. Sie trugen das Kind in das Waisenhaus.

Aber damit war es noch nicht zu Ende. Pl�tzlich h�rte man ein Geschrei auf der Stra�e, ein schreckliches Geschrei, und man sah eine verschrumpfte, alte Frau, ein winziges Etwas von einer alten Frau, in gro�en Filzsocken durch die Stra�en rennen. Sie lief in das Haus des Bezirksamtmannes, erschien wieder schreiend, lief zum Westtor und zur�ck zum Osttor, hin und her, und immer tauchte sie wieder auf und ihr Geschrei und entsetzliches Weinen schien �berall zu sein und pl�tzlich dicht unter den Fenstern aus dem Erdboden zu dringen. Die Leute �ffneten die Fenster: Beruhigen Sie sich doch! sagten sie. Sie sagten es mit eindringlicher, tiefer Stimme; sie sagten es weich und tr�stend. Aber die kleine alte Frau sah nichts, h�rte nichts. Sie schlug die H�nde �ber dem Kopfe zusammen, rannte Stra�e auf, Stra�e ab und schrie, schrie.

Vor dem Westtor gab es eine Szene. Hier kam ein Fleischergeselle auf einem Karren angefahren, in dem ein Rudel kleiner Schweine sa�. Arbeiter, Handwerker stellten den Wagen und fielen mit den F�usten �ber den Gesellen her. Der Bursche wehrte sich so gut er konnte und br�llte, da� man es bis in die Stadt hinein h�rte. Die kleinen Schweine steckten die Schnauzen durch das Gitter und quiekten. Zwei Stadtsoldaten nahmen den Fleischergesellen in Schutz, man h�tte ihn sonst erschlagen. Ich bin nicht schuld! schrie er. Sie f�hrten ihn zur Sicherheit aufs Stadthaus. Auf dem Wege dorthin begegneten sie der alten, kleinen Frau, die in ihren Filzsocken hin und her rannte. Das ist er! riefen die Leute und deuteten auf den Burschen. Aber die schreiende Frau sah und h�rte nichts, sie schrie und rannte weiter.

Man sprach den ganzen Abend und den folgenden Tag von nichts anderm als dem Dienstm�dchen und dem Kinde und der kleinen schreienden Frau. Es gab f�rmliche Redeschlachten und erregte Szenen. Man verurteilte, verteidigte, mutma�te, und in dem Abendzug, der von der Nachbarstadt zur�ckkehrte, w�re es beinahe zu einer richtigen Schl�gerei gekommen. Da war ein Lehrer, ein entlassener Volksschullehrer, ein riesenhafter Mann mit einem schwarzen, wilden Kopf, der den Zorn aller Reisenden herausforderte. Er sagte, es w�re nun genug, immer nur dieses Dienstm�dchen und nichts als dieses Dienstm�dchen, eine solch alberne, beschr�nkte Person —

Kurz und gut, damit begann es.

„Genug nun von dieser albernen, beschr�nkten Person, die sich wegen eines Kindes und eines untreuen Geliebten aufh�ngt,“ schrie er. „Genug und abermals genug —“ Aber da erhob sich ein solcher Tumult in dem �berf�llten Coup�, da� man nicht verstand, was er sonst noch sagte, trotzdem er mit einer ungeheueren tiefen Stimme wie eine Ba�trompete wetterte. Eine B�uerin in Trauerkleidern, die bis jetzt ruhig dagesessen war, stand pl�tzlich auf und stie� eine Menge Schimpfw�rter heraus, einen ganzen Strahl von Schimpfw�rtern, allein ihre Stimme schnappte �ber, man h�rte nichts als Gekreische. Sie sch�ttelte einen d�nnen raschelnden Blechkranz in der Hand und machte Miene auf den Lehrer loszufahren; ein starker Geruch von Schmalz und saurer Milch drang aus ihren Kleidern. In der Mitte des Abteils sa� ein j�discher Viehh�ndler, ein dicker, fetter Kerl mit Brillantringen an den H�nden und Stallmist an den Stiefeln, der vor Vergn�gen auf- und abtanzte und mit den H�nden seine kurzen, fetten Schenkel bearbeitete. Er lachte, da� ihm das Wasser aus den Augen sprang und stie� einen hohen gurgelnden Laut hervor, �hnlich einer Turteltaube, w�hrend er hin- und herschaukelte und die Leute zu beiden Seiten zusammendr�ngte. Im Nebenabteil hatte sich eine Dame erhoben, sie blickte �ber die Trennungswand, drehte den Kopf hin und her in einer bauschigen Boa aus schillernden Hahnenfedern und l�chelte mit tief herabgezogenen Mundwinkeln. „Pfui!“ rief sie, „Pfui! Welch entsetzliche Roheit. Pfui!“

Der Lehrer stand ruhig im L�rm und l�chelte. „Sie vergeben, meine Dame!“ wandte er sich mit einer Verbeugung zu dem Kopfe, der sich noch immer in der bauschigen Federboa hin und her drehte. „Aber ich denke, wenn dieses Dienstm�dchen, diese Margarete Sammet oder wie sie hei�en mag, mit Ruhe und �berlegung, mit Stolz —“

Aber man unterbrach ihn. „Ruhe! Ruhe!“

„Die Herrschaften m�ssen doch einr�umen —“

Man r�ume nichts ein, gar nichts r�ume man ein! Alle schrien und der Lehrer lachte und zuckte die Achseln. Der j�dische Viehh�ndler schaukelte auf und ab, so sehr gurrte er, und schlie�lich bekam er einen br�llenden Hustenanfall, der jedes andere Ger�usch verschlang.

In diesem Augenblick hielt der Zug und unwillk�rlich wurden alle still. Aber sobald sich die Laterne in der Nacht drau�en schwang und die Maschine heulte, begann der L�rm von neuem. Eine heisere Stimme arbeitete sich m�hsam durch das Get�se.

„Davon war ja gar nicht die Rede!“ sagte ein Mann mit aufgebl�htem Hals, ein Schuhmachermeister, und ri� die Augen so weit auf, da� man f�rchtete, sie fielen heraus. „Wir sprechen vom Dekan, vom Pfarrer, von der Beerdigung.“

„Ich w�rde sie auch nicht beerdigen!“ sagte der Lehrer mit ruhigem Ba� und der Kopf der Dame mit der Boa schnellte augenblicklich wieder empor.

„Schweigen! Schweigen!“

Der Viehh�ndler ri� den Mund auf, um laut zu schreien, wurde aber im gleichen Moment vom Sitze geschleudert, die B�uerin mit dem Blechkranz und alle auf der einen Bank flogen in die H�he. Ein runder schwarzer Korb rollte aus dem Netz und fiel dem H�ndler auf den R�cken. Die Bremsen waren pl�tzlich angezogen worden, der Zug hatte sich kaum in Bewegung gesetzt gehabt.

Es wurde still und eine Stimme in der Dunkelheit drau�en rief: „Ja, weshalb schlafen Sie denn, wenn Sie mitfahren wollen, Sie! Ein solcher T�lpel — marsch!“ Die Coup�t�re sprang auf und ein junger Mann wurde hereingeschoben. Hut und Mantel des jungen Mannes waren beschneit und mit Eisk�rnern bedeckt, wie sie entstehen, wenn man sich lange in der K�lte aufh�lt. Er zog einen roten Reisesack nach sich, beugte sich zum Fenster hinaus und rief: „Vielen Dank, mein Herr!“ Der Zug fuhr wieder. Alle sahen auf den jungen Mann, dessen Augen von Schlaf, Erm�dung und K�lte ger�tet waren. Er kniff die Augen zusammen, blickte durch die Wimpern, die auffallend lang und dicht waren, in den Tabaksqualm und schob sich behutsam mit seiner Reisetasche zwischen den Stiefeln, Knien, Packen und S�cken hindurch.

„Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er leise, ohne die Lippen zu �ffnen, „vielleicht erlauben Sie mir —“

Alle Augen folgten seinem Reisesack. Es war ein gestickter Reisesack. Auf einem abgewetzten roten Grund war eine Henne gestickt, die auf farbigen Eiern br�tete. Sie hatte einen ziegelroten, flammenden Kamm und als Auge eine gro�e schwarze Perle. Mit diesem roten Kamm und schwarzen Auge sah sie herausfordernd und zornig aus. �ber ihr stand in wei�en Perlen: Gl�ckliche Reise. Der Viehh�ndler deutete auf den Reisesack und gluckste, und alle begannen pl�tzlich �ber die herausfordernd und zornig dasitzende Henne zu lachen. Nur der Lehrer blieb ernst, er sah sich aufmerksam den Reisenden an.

Der junge Mann fand ein schmales Pl�tzchen in der Ecke, er machte sich so d�nn als m�glich, nahm den Hut ab und legte ihn aufs Knie, kn�pfte den Mantel eng zu und schlo� sofort die Augen.

Der Schuhmachermeister mit dem aufgebl�hten Hals betrachtete mit einem raschen Blick die vom Schnee rotgebeizten Stiefel des jungen Mannes, dann lie� er wieder die aufgerissenen Augen von einem zum andern gleiten und schrie:

„Ist das nicht — meine Herren — h�ren Sie! Ist das nicht emp�rend! Der Dekan will sie nicht beerdigen. Nein, er will sie nicht beerdigen!“ wiederholte er und rollte die Augen.

Der Lehrer lachte belustigt.

„Schweigen Sie!“ schrie der Schuhmachermeister emp�rt und deutete auf den Lehrer. „Ja, Sie, Sie sollen schweigen! Ich finde es unbegreiflich! Er beerdigt sie nicht. Wie einen Hund wird man sie einscharren, kein Glockengel�ute, kein Gesang, kein Segen.“ Tr�nen traten in seine gro�en Augen. Er zog die Dose heraus und schnupfte. „Keine geweihte Erde!“ f�gte er hinzu. Die Bauernfrau in Trauerkleidern jammerte. „Oh du lieber guter Himmelsvater —“

„Es wird sich nicht mit den Kirchengesetzen in Einklang bringen lassen,“ sagte der j�dische H�ndler, „so scheint es mir — die Kirchengesetze — eben —“

Hier begann der Schuhmachermeister sich vollst�ndig zu ver�ndern. Er schwoll an, sein Hals, sein Gesicht, er wurde dunkelrot, und mit den stierenden gro�en Augen hatte er �hnlichkeit mit einem jener rotlackierten chinesischen G�tzenbilder. Er sah aus, als wolle er den H�ndler vernichten, aber im letzten Momente schrumpfte er zusammen, er beugte sich zu dem H�ndler und reichte ihm mit �bertriebener krampfhafter Freundlichkeit die Dose. „Mein Freund!“ zischelte er. „Mein Freund, Kirchengesetze, ich bitte Sie! Kirchengesetze hin, Kirchengesetze her. Gehen Sie zum Henker, mein verehrter Herr, mit Ihren Kirchengesetzen. Kirchengesetze? Ich will Ihnen —“

„Ich will Ihnen mal einen Fall erz�hlen,“ unterbrach ihn der H�ndler, die Prise Tabak auf dem Daumen.

„Lassen Sie mich mit Ihrem Fall in Teufelsnamen in Ruhe. Ich sage Ihnen, die Mutter, h�ren Sie, eine alte, kleine, eine arme kranke Frau, rannte wie verr�ckt herum und schrie, verr�ckt, ich wiederhole. Sie lief also ins Pfarrhaus, obwohl sie doch wissen sollte, da� unser Pfarrer gestorben ist. Sie klopft also, trommelt an die T�r, schreit, jammert. Er ist ja gestorben, der alte Hummel, sagten sie, ja, bei allen Heiligen, Sie wissen doch, da� er gestorben ist, vor einem Monat, Sie waren ja selbst bei der Beerdigung. Aber die Frau, h�ren Sie, sie verstand kein Wort, sie klopfte, pochte, h�mmerte an die T�r. Sind Sie denn ganz verr�ckt, sagten sie, wie kann er aufmachen, wenn er tot ist? Es ist niemand da, keine Seele, der neue Pfarrer ist ernannt, aber er ist noch nicht da. Gehen Sie nach Weinberg, zum Dekan, er hat die Verwesung, gehen Sie dahin. Sie lief also nach Weinberg — sie lief eine Stunde weit im Schnee, ge�ngstigt, gehetzt, verzweifelt — sie lief und lief — sie stellte sich vor das Haus des Dekans und schrie. Meine liebe Frau, sagt der Dekan — Gesundheit, Sie beniesen es — meine liebe, gute Frau, es tut mir leid. H�ren Sie in Teufelsnamen, ich brauche also gar nicht erst Ihren Fall zu erfahren — lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem Fall, lassen Sie mich in Ruhe und Frieden damit — diese verzweifelte Frau wirft sich ihm zu F��en, jammert, schreit. Aber alles ist umsonst, f�r die Katze, alles. Meine liebe gute Frau, sagt der Dekan, ich kann nicht. Es ist unm�glich. Ja, wenn der Lebenswandel Ihrer Tochter — ich kann nicht — ich sage, der Lebenswandel Ihrer Tochter — es tut mir leid. Die alte Frau, eine Greisin, grau, alt, ein beklagenswertes Mutterherz, wirft sich ihm zu F��en, beschw�rt ihn in des Heilands Namen, aber er sagt, liebe, gute Frau, tr�sten Sie sich — des Allm�chtigen Wege sind unerforschlich —“

„Da sehen Sie eben die Vorschriften!“ sagte der H�ndler und nieste dr�hnend, indem er Mund und Nasenl�cher und Augen l�ppisch aufsperrte und das Coup� mit spr�hendem Dunst anf�llte.

„Die Frau Dekan hat der verzweifelten Mutter eine Tasse Kaffee angeboten, es sind gute Menschen — aber eine Tasse Kaffee macht ihr die Tochter nicht lebendig, eine Tasse Kaffee ist kein Trost f�r ein verzweifeltes Mutterherz, keine Einsegnung.“

Hier wurde der Schuhmachermeister von einem Herrn mit langem messinggelben Schnurrbart und gro�er Glatze, Postadjunkt Kaiser, unterbrochen. „Sie hat ihn zur�ckgewiesen, den Kaffee“, sagte er. „Die Frau Dekan hat es mir selbst erz�hlt. Mein Mann kann nicht, es ist unm�glich“, sagte sie.

Der H�ndler nieste zweimal, leckte sich den Bart und sagte:

„Die Kirchenverordnung meine Herrn, es steht fest, die Kirche mu� einen Unterschied machen zwischen einem Selbstm�rder und einem anst�ndigen Menschen —“ Der Lehrer lie� ein lautes Lachen h�ren — „zwischen einem M�dchen, das au�erehelich entbindet und einer, sagen wir, einer barmherzigen Schwester —“

Aber der Schuhmachermeister mit dem Bl�hhals fiel ihm ins Wort. „H�ren Sie auf!“ zischte er und sein Gesicht schwoll an, als werde es von einer unsichtbaren Macht bis zum Zerplatzen aufgeblasen. „Was verstehen Sie? Ich sage, solch ein Jammer, eine alte arme Frau, die nahe daran ist, den Verstand zu verlieren, ja, vielleicht hat sie ihn schon verloren? — Sie kniet vor dem Pfarrhaus und schreit wie besessen, sie rennt in alle H�user und bittet die Leute zu bezahlen — die Kosten zu bezahlen — ein jeder ein wenig, dann ginge es. Sie will ja alles zur�ckbezahlen —“

Die Stimme eines kleinen graub�rtigen und sauber gekleideten Mannes, der sich bisher mit keinem Worte an dem Gespr�che beteiligt hatte, sagte: „Der Herr Dekan wird recht wohl wissen, was zu tun ist!“ Die Stimme sprach so bestimmt und die Kinnladen des alten Herrn bewegten sich mit solcher W�rde, da� alle auf ihn h�ren mu�ten. „Weshalb also ereifern Sie sich so, meine Herren? Die Kirche kann ihre Segnungen nur Gliedern derselben angedeihen lassen, die sich ihrer w�rdig zeigen. Ein M�dchen jedoch, das einen solch unz�chtigen Lebenswandel f�hrte und zuletzt zu all den S�nden noch jene des Selbstmordes f�gte, ist meines Erachtens dieser Segnungen unw�rdig — unw�rdig, voll und ganz —“

Der Lehrer, der in der Mitte des Abteils stand, funkelte mit den Brillengl�sern und brach in ein lautes lustiges Lachen aus, der alte Herr hielt inne und starrte ihn mit offenem Munde an. Diese Pause benutzte der Schuhmachermeister. Er rollte die Augen und schrie zu allen gewendet:

„Sodann also rannte die alte Frau, dieses gepeinigte Mutterherz, zu dem katholischen Geistlichen. In des Heilands Namen, helfen Sie mir! Aber der geistliche Rat sagt, es tut mir leid, liebe Frau, gehen Sie zum Herrn Dekan nach Weinberg. Ich habe hier nichts zu tun!“ Er schlug die H�nde zusammen und lie� die Augen fragend von einem zum andern wandern.

Der graub�rtige Herr hatte sich von seiner Verbl�ffung erholt und nahm das Wort wieder auf. „Ich selbst habe Angeh�rige auf dem Friedhof liegen,“ sagte er, „ich glaube den Herrschaften bekannt zu sein — Messerschmied Ulrich, eingesessener B�rger und Magistratsrat — ich w�nsche nicht, da� meine Angeh�rigen in der gleichen geweihten Erde ruhen mit einer Person — nun, ich habe nicht zu richten — aber es ist in Ordnung, was der Herr hier sagt: Es mu� ein Unterschied herrschen! Wer unw�rdig ist, ist unw�rdig.“

O Gott, o Gott, jammerte die B�uerin in Trauerkleidern.

„Hier!“ schrie der Schuhmachermeister, „hier sitzt sie! Hier sitzt eine Tante von ihr! Sie mu� so etwas mit anh�ren!“

Der H�ndler sagte: „Ein Unterschied mu� herrschen, das ist klar!“

Da erhob sich der Schuhmachermeister und schrie zornig: „Was verstehen denn Sie, wie? Sie als Israelit, was verstehen Sie?“ Das rief ein lautes Gel�chter hervor. „Nein!“ fuhr der Schuhmachermeister fort und d�mpfte die Stimme. „Ich kann dem Herrn Dekan nicht recht geben und auch Ihnen, Herr Rat Ulrich, auch Ihnen kann ich nicht recht geben, niemals, niemals!“ Er fl�sterte.

Messerschmied Ulrich zuckte die Achseln. „Ich �u�erte nur meine bescheidene Meinung!“ sagte er und ein b�ser Glanz kam in seine Augen. „Ich gebe dem Herrn Dekan vollkommen recht und kann auf keinen Fall dulden, da� man eine Beh�rde �ffentlich in dieser beleidigenden Weise kritisiert. Das ist meine Meinung! Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!“

„Ja, Gott helfe ihm, Amen!“ sagte lachend der Lehrer. „Gott helfe dem Herrn Messerschmied Ulrich, eingesessenen B�rger und Magistratsrat und mache ihn selig, Amen! Er kann nicht anders! Er hat gestritten f�r die gute Sache und sein Leben dabei aufs Spiel gesetzt! Gott helfe ihm! Hahaha! Aber die Wahrheit ist die, meine Herrschaften, da� morgen Hochzeit auf Schlo� Bruck ist, der Dekan h�lt die Trauung. Hohe Herrschaften kommen von allen Himmelsgegenden, nach der Feier ist gro�es Diner, bei dem der Herr Dekan beileibe nicht fehlen kann. Das ist — hol’ mich der Teufel! — der Grund, weshalb er so standhaft und mutig die in der Erde ruhenden B�rger, Ulrich und Konsorten verteidigt. Im �brigen kann er nicht da und dort sein, das versteht sich von selbst.“

Der dicke H�ndler lie� wiederum den hohen gurrenden Laut h�ren, �hnlich einer Turteltaube, und sein Bauch begann zu zittern. Er zog ein gelbes Taschentuch heraus, eine Art Fahne, die f�r einige Zeit durchs ganze Coup� flatterte und einen Staubregen von Schnupftabak, Brotkrumen und andern Dingen ausstreute; dahinter verbarg er sich.

Aber, was der Lehrer doch daher schw�tze! Der neue Vikar sei ja angekommen — he! — hier, Kaiser habe es erz�hlt!

„Ja, ich habe ihn gesehen!“ sagte der Adjunkt und wischte sich etwas unsicher den langen messinggelben Schnurrbart. „Auf Ehre! Er sieht wie ein Offizier in Zivil aus, schwarzer Schnurrbart, Zylinder. Im �brigen hat mir die Frau Dekan erz�hlt, da� es der neue Vikar ist. Aber ich bitte Sie, meine Herrn — das �ndert an der Sache ja nichts. Der Dekan ist sein Vorgesetzter und er hat zu gehorchen, fertig!“

„Also, trotzdem ein Verweser da ist, trotz alledem, das ist ja — das ist ja —“ sagte ratlos der Schuhmachermeister.

Der Lehrer lachte. „Alterieren Sie sich nicht, mein Freund!“ sagte er. „Ich gebe Ihnen die Versicherung, da� es dem Dienstm�dchen ganz gleichg�ltig ist, ob man sie einsegnet oder nicht, ob man sie beerdigen wird wie einen eingesessenen, ehrenhaften B�rger oder nicht.“

„Wie? Wie?“

„Sie hat, was sie will. Sie ist tot. Basta! Und gesetzt den Fall, da� es einen Himmel gibt — was ich f�r meine Person nicht glaube — so ist es einerlei, ob sie erster, zweiter oder dritter Klasse beerdigt wird. Sie kommt hinein, ob ihr der Herr Dekan von Weinberg einen Empfehlungsbrief mitgibt oder nicht. Oder? Deshalb sage ich, ich w�rde sie auch nicht kirchlich beerdigen — ganz wie der Magistratsrat Herr Ulrich — ebenfalls nicht, nein!“

„Wie? Wie?“

„Nein, denn es ist ja absolut einerlei, absolut einerlei. Ich f�r meine Person verzichte freiwillig auf jede Einsegnung, ja, ich verbiete diesen Pfarrern, Vikaren und geistlichen R�ten, sich �berhaupt einzumischen. Ich will nicht einmal etwas zu tun haben mit dieser Gesellschaft!“

„Wie? Wie? Ja, da h�rt sich denn doch —“

Ein unbeschreibliches Get�se entstand. Einige sprangen auf, und der Kopf der Dame tauchte wieder hinter der Scheidewand empor und drehte sich emp�rt hin und her. Der H�ndler schaukelte vor Vergn�gen hin und her und der Schuhmachermeister sa� wie niedergeschmettert da und starrte mit gro�en, leeren Augen auf den Lehrer.

Der Lehrer antwortete mit einem dr�hnenden Gel�chter.

Aber hier nahm die Sache pl�tzlich eine Wendung.

Zweites Kapitel

Der Messerschmied Ulrich n�mlich stand auf. Er stand auf und trat auf den Lehrer zu. Sein Kinn und sein grauer Bart, der lang und schmal war und �hnlichkeit hatte mit einem Zopfe, fingen an zu zittern, noch ehe er zu sprechen begann.

„Herr!“ sagte er dann. „Herr!“ sagte er dann. „Herr! Ich sage, Sie haben — Herr! — Sie geh�rten fr�her einem Stande an, einem gebildeten Stande — ich h�tte so etwas nicht f�r m�glich gehalten! Nein! Sie haben sich — erfrecht — jawohl, erfrecht, die mir teuern Toten auf dem Gottesacker zu bespei — bespeien, jawohl! — Aber nicht genug damit — Sie haben sich erfrecht, die Religion und ihre Priester zu verh�hnen. Das ist mir zuviel!“ Der Lehrer l�chelte gutm�tig, und der Messerschmied sch�pfte tief Atem, wurde bla� und wiederholte einigemal keuchend: „Das ist mir zuviel!“ Und sein Bart zitterte.

Der Lehrer winkte nachl�ssig mit der Hand und sagte mit ruhigem L�cheln und gutm�tigen Augen hinter den Brillengl�sern: „Beruhigen Sie sich doch, Verehrtester! Sie k�nnen sich in Ihrer Gesundheit sch�digen.“

Jedoch der Messerschmied Ulrich geh�rte dem Stadtrat an und war �berhaupt ein Mann, der keinen Spa� verstand.

„Wie?“ schrie er pfeifend. „Wissen Sie auch, mit wem — mit wem — Sie sprechen? Und erinnern Sie sich vielleicht, was Sie, wer Sie eigentlich sind?“

Der Lehrer l�chelte und sein gleichsam von einem braunen Firnis �berzogenes Gesicht nahm einen g�tigen, v�terlichen Ausdruck an. Seine Augen waren von verschiedener Gr��e, das gr��ere betrachtete erstaunt den Messerschmied, das kleinere lachte ihn lustig an.

„Fragen Sie mich, junger Mann?“ sagte er endlich.

„Junger —!“

„Ich sage vergleichsweise: junger Mann,“ fuhr der Lehrer fort, „denn Sie sind ja mir gegen�ber noch sehr jung, eine Art S�ugling, m�chte ich sagen, ja, noch ungeboren — in der Tat! Ich meine, ob Sie mich fragen?“

„Ob ich Sie frage?“ antwortete der Messerschmied und seine Stimme zitterte, als ob ihn jemand unausgesetzt auf den R�cken klopfe. „Ja, gewi�, ich frage Sie! Ich m�chte das zu gerne wissen!“

Der Lehrer k�mmte mit der Hand den langen, knisternden, schwarzen Bart und sch�ttelte den Kopf. „Wenn Sie mich nun fragen — und Sie fragen mich doch, nicht wahr? — so kann ich Ihnen wohl antworten, aber es tut mir leid f�r Sie, denn ich sage keine Schmeichelei: Sie sind eine Art Scherenschleifer und ich bin ein Edelmann!“

Es wurde ganz still und man h�rte die R�der auf den Schienen stampfen. Der j�dische H�ndler gluckste leise.

Der Messerschmied tat zuerst gar nichts. Es schien, als ob er nichts geh�rt habe. Dann sch�ttelte er die Schultern, als sei ihm der Rock unbequem, er schnitt eine Grimasse, zischelte und pl�tzlich verbeugte er sich tief vor dem Lehrer. Er lachte meckernd und sagte mit w�tender, zitternder Stimme:

„Gut! Sie m�gen im Recht sein, Herr Edelmann — mein Herr Edelmann. Sie m�gen zehnmal im Recht sein — aber, wenn Sie ein Edelmann sind — was hier von all diesen Herren niemand bezweifelt — ach, nein, nein, niemand bezweifelt es — ach, du g�tiger Himmel, nein, nein! — so werden Sie gef�lligst, Herr Edelmann, zuvor Ihre Schulden bezahlen. Nicht wahr, Sie werden zuvor Ihre Schulden bezahlen, mein Herr Edelmann. Sie erinnern sich vielleicht, da� Sie mir seit sechs Jahren — seit sechs Jahren! — neun Mark und f�nfzig Pfennig schuldig sind! Bitte! Ich wei� nicht, wo Ihr Schlo� liegt oder Ihr Besitztum — also, bitte sehr, bitte!“

Gel�chter. Er streckte die bebende Hand hin und musterte mit �bertrieben sp�ttischer Miene den Lehrer vom Kopf bis zum Fu�e. Der Lehrer war ohne Kragen, ein Tuch war um seinen braunen Hals geschlungen. Wie sein Gesicht, so war seine ganze Kleidung verwettert und verwildert, seine Schuhe klafften und man sah die nackten F��e, die �rmel waren an vielen Stellen zerrissen und mit unordentlichen Stichen zusammengen�ht.

Der Lehrer blickte mitleidig l�chelnd auf die bebende Hand des Messerschmieds und sch�ttelte den haarigen Kopf. „Ist das Ihr Ernst?“ fragte er voller Bedauern, im tiefsten Ba�.

„Ja — h�h� — das ist mein Ernst!“

„Wie leid es mir tut, da� Sie sich so in meine H�nde liefern, mein Herr!“ sagte der Lehrer. „Aufrichtig gestanden, ja! Wie niedrig Sie doch denken, Geld, Schulden und dergleichen Geschichten mit dem Begriffe Edelmann in Verbindung zu bringen? Edelmann, mein Herr, das ist Noblesse, Weltgef�hl, Kraft, Genialit�t — Dinge, von denen Sie noch gar nichts geh�rt haben, nicht mehr als ein Hering vom s��en Wasser. Aber nun h�ren Sie: Ich bezahle nie, nie mit Geld. Ich bezahle mit Liebensw�rdigkeit, Geist, Humor.“

„Bitte, bitte!“ heulte der Messerschmied und sch�ttelte die Hand.

„— eine M�nze, die f�r Sie gar nicht existiert, leider. Ich habe die halbe Welt durchwandert, ohne zu bezahlen, Tatsache! Ich habe tausend Freunde in der Welt, Edelleute, F�rsten — ich bringe Gl�ck und frohen Sinn in jedes Haus — man empf�ngt mich mit Freuden, man entl��t mich mit Tr�nen in den Augen — ich kann den ganzen Heine, Schiller, Goethe und Shakespeare auswendig, jede Szene, die die Herrschaften nur immer w�nschen — wollen Sie eine Probe? — Nun, wollen Sie eine Probe — he! Und nun Sie, ein geborener Scherenschleifer, der alle Schaltjahre einen Gedanken hat, eine krankhaft zur Menschen�hnlichkeit aufgebl�hte Blase, ein alter Hanswurst, der drei�igtausend Siriusfernen abseits aller Kultur geboren ist —“

„Bitte, bitte!“ heulte der Messerschmied unaufh�rlich und sch�ttelte die ausgestreckte Hand, da� seine Gummimanschetten rasselten. Alles lachte, weniger oder mehr ungeniert, je nachdem man in freundschaftlicher Beziehung zu dem Magistratsrat stand. Aus dem Lachen des Viehh�ndlers h�rte man die aufrichtige Freude eines fetten Menschen heraus.

Der Lehrer aber stand ruhig wie ein Turm inmitten des Gel�chters, mit seinem verwilderten schwarzen Kopf, seinem nu�braunen Gesicht, seinen kindlichen g�tigen Augen, und deklamierte l�chelnd und in aller Ruhe mit einer solch tiefen Stimme, wie man sie noch nie geh�rt hatte.

„Aha, ich sehe schon, Sie bestehen auf Bezahlung!“ sagte er endlich. „Ich habe nun zwar keinen Pfennig in der Tasche, arm wie eine nackte, junge Ratte bin ich — ich werde Sie trotzdem bezahlen, hier im Augenblick werde ich Sie bezahlen, in diese Hand, Sie sollen sehen, Sie kostbare Versteinerung, teuerste Essenz der b�rgerlichen Gesellschaft, Aush�ngeschild der Kr�mergilde, Sie werden es erleben, da� ich Sie bezahle. Ehe Sie sich auch nur den Geruch Ihrer Lieblingsspeise vorstellen k�nnen, wird das Geld auf Ihrer Hand liegen. Es ist Ihnen doch einerlei, woher ich es nehme?“

„Bezahlen, bezahlen, Herr Edelmann!“

„Gut! Wieviel, sagten Sie? Neun Mark und f�nfzig Pfennig, wenn ich richtig h�rte, nicht wahr? Sch�n. Sofort. Ich habe zwar keinen Heller in der Tasche — aber sofort.“ Er wandte sich an die Anwesenden. „Wer ist so freundlich, mir sofort neun Mark f�nfzig Pfennig zu schenken — zu schenken?“ fragte er und verneigte sich.

Gel�chter. „Bitte, bitte!“ wiederholte der Messerschmied, der sich dem Siege nahe wu�te.

„Seine M�nze ist au�er Kurs!“ sagte der Viehh�ndler. „Hat er nicht selbst gesagt, da� er niemals bezahlt?“

„Schenken, schenken — meine Herrn?“

„Bitte, bitte!“ triumphierte der Messerschmied. „Sie gro�es Maul von einem Edelmann — Sie Vagabond von einem Edelmann (er sagte Vagabond), bezahlen Sie, haha — so etwas von — haha.“

„Geduld!“ sagte der Lehrer. „Sofort werde ich Sie befriedigen, verehrter Herr!“ Er musterte sp�ttisch die Gesellschaft und zog mit der Hand den schwarzen Bart herab, so da� seine roten Lippen zum Vorschein kamen. Sie sahen aus, als pfeife er. Er rief �ber die Scheidewand ins Nebenabteil hin�ber — „neun Mark und f�nfzig — schenken!“ Aber man lachte und sagte ihm Schmeicheleien.

„— so etwas von einem gro�en Maul von einem Edelmann — haha!“

Der Lehrer l�chelte, er verlor nicht die Fassung. Er zuckte bedauernd die Schultern und sagte: „Aus Kieselsteinen l��t sich kein Lik�r abziehen, ich h�tte das wissen sollen. — Aber Geduld, Edler, wenn ich nicht sofort bezahle, so sollen Sie sagen, ich sei eine Null, ein Loch, eine Einbildung, ein eingesessener B�rger.“ Damit wandte er sich an den jungen Mann, der in der Ecke schlief.

Der junge Mann sa� mit geschlossenen Augen. Die Lippen halb ge�ffnet, den Hut auf den Knien, genau so wie er sich nach seinem Eintritt gesetzt hatte. Er hatte dunkelbraunes weiches Haar, eine hohe Stirne, die weit �ber die Augen vorsprang, sein Gesicht war fein, mager und lang, ohne Bart und von jener wei�lichen Hautfarbe, wie man sie oft bei Rothaarigen findet. Sein Mund war knabenhaft und rot.

Der Lehrer n�herte sich ihm und ber�hrte seinen Arm mit der Fingerspitze.

Sofort schlug der Fremde die Augen auf, braune, sanfte Augen; nun sah sein Gesicht auffallend sch�n und strahlend aus.

Der Lehrer verbeugte sich und wiederholte seine Bitte: „neun Mark und f�nfzig Pfennig, sofort. Wenn es dem Herrn m�glich sein sollte.“

Gel�chter.

Aber nun ereignete sich etwas, was alle verbl�ffte, nur den Lehrer nicht. Der Fremde l�chelte, richtete sich ein wenig auf und griff in die Tasche und klimperte mit Geld. Es reichte nicht. Er err�tete leicht, griff nach dem gestickten Reisesack und �ffnete ihn, tauchte mit der langen Hand hinein und zog ein Taschentuch mit einem Knoten heraus. Den Knoten �ffnete er und es fand sich ein zusammengefaltetes St�ck Papier darin Diesem Papier entnahm er ein kleines Goldst�ck und gab es dem Lehrer.

„Danke!“ sagte der Lehrer und verbeugte sich. Er wandte sich an den Messerschmied. „Sie sehen, da� es noch immer Edelleute auf der Welt gibt. Bitte, Herr Messerschmied Ulrich!“

Alle sa�en mit aufgerissenen M�ulern und Augen und begannen erst zu lachen, als der Messerschmied, der einen Augenblick nicht wu�te, was er tun sollte, das Goldst�ck einsteckte und f�nfzig Pfennig zur�ckgab. Diese f�nfzig Pfennig �berreichte der Lehrer dem Fremden, der sofort wieder die Augen schlo� und sich in die Ecke zur�cklegte.

In der letzten Station — Stadt Weinberg — stieg ein Herr mit gl�nzendem Zylinder und schwarzem gewichsten Schnurrbart ein. Adjunkt Kaiser gr��te und r�ckte h�flich zur Seite. Das Gespr�ch stockte. Dann wandte sich der Viehh�ndler an den Herrn mit dem gl�nzenden Seidenhut.

„Verzeihen Sie mir die K�hnheit;“ sagte er mit schmeichlerischer Stimme. „K�nnen Sie mir vielleicht Auskunft geben, ob man dieses Dienstm�dchen, diese Selbstm�rderin, kirchlich beerdigen wird oder nicht?“

Der Herr mit dem Seidenhut legte die Stirne in Falten und sagte k�hl: „Nein — soviel mir bekannt ist — hat das Dekanat von einer Einsegnung Abstand genommen.“

Er zog ein Notizbuch heraus und bl�tterte darin, um weitere Fragen abzuschneiden.

Der H�ndler verneigte sich. „Danke!“ Und er fl�sterte den andern zu: „Nein, nein.“

Der Schuhmachermeister nickte resigniert mit dem Kopfe und bot allen eine Prise an.

Der Zug verlangsamte die Fahrt und schlie�lich schlief er ein und regte sich nicht mehr. Als man hinaus sah, fand es sich, da� man weit drau�en vor der Station stehen geblieben war. Man war angekommen. Der erste, der ausstieg, war der Herr im Zylinder, alle lie�en ihm den Vortritt. Zuletzt stieg der Fremde mit dem gestickten Reisesack aus.

Es war d�ster und kalt; nur wenige Laternen brannten in der kleinen Station, die ganz im Schnee versank.

Drittes Kapitel

Der Fremde stieg aus und er w�re beinahe in den gro�en Filzhut gestiegen, den der Lehrer vor ihm bis zur Erde schwang. Er lachte laut und fr�hlich.

„Sie konnten sich wohl vorstellen, da� ich nicht verschwinden w�rde, ohne Ihnen zuvor unter vier Augen gedankt zu haben!“ sagte er und half dem Fremden beim Aussteigen. Das hei�t, er griff nach dem rechten, dem linken Arm, der Achselh�hle des Fremden, ohne ihn jedoch zu ber�hren. „Erlauben Sie Ihre Tasche — bitte — nur bis Sie richtig auf den Beinen sind.“

Der Fremde l�chelte fein und g�tig. „Danke, ganz und gar unn�tig,“ sagte er. Er hatte sch�ne Augen, denn sie waren golden. Ihr klarer und leuchtender Blick machte den Lehrer einen Moment lang betroffen. Der Fremde sprach leise, als ob er sehr m�de w�re. Er l�chelte und sah den Lehrer an, wie wenn er ihn schon Jahr und Tag kennte. Der Lehrer betrachtete ihn eine Weile, er bog sogar den Kopf zur�ck, um ihn genau ansehen zu k�nnen; dann st�rzte er sich wieder auf die Reisetasche. Er str�mte �ber von Freundlichkeit und Diensteifer.

„Erlauben Sie, nur bis Sie �ber die Geleise sind!“

„Bitte, oh, ich kann ja selbst —“ sagte der junge Mann und zog mit einer geradezu l�cherlichen Besorgnis die Tasche an sich, und verbeugte sich leicht gegen den Lehrer. Er blickte sich um. Er sah die Leute an, die �ber den beschneiten Bahnsteig eilten, er sah in die H�he, nach rechts, nach links, er sog die Luft ein. Jede Kleinigkeit schien ihn zu interessieren.

Aber der Lehrer verneigte sich abermals, zog den Hut und ergriff endlich die Tasche. „Ich betrachte es als eine Auszeichnung, mein Herr!“ sagte er. „Welche K�lte, nicht wahr? Eine verfluchte, angenehme K�lte, bei allen Teufeln! — Sie haben mir einen gro�en Dienst erwiesen,“ fuhr er fort, indem er unvermittelt seinem beweglichen, von vielen Falten durchzogenen Gesicht einen ernsten Ausdruck gab. „Das war eine echte Edelmannstat!“ Seine kindlichen Augen leuchteten.

Der Fremde sah umher. „Aber die Sache ist ja nicht der Rede wert,“ sagte er.

Der Lehrer lachte. „Da haben Sie recht! Klar gesehen ist es etwas ganz Selbstverst�ndliches, ein Edelmann springt dem andern bei, ja, er springt jedem bei, der in der Klemme sitzt. Ganz einerlei wer es auch sei, und sei es der Teufel selbst. Aber trotz alledem, ich freue mich und danke Ihnen! Wenn Sie nun nicht dagewesen w�ren — nehmen wir an — oder keine zehn Mark gehabt h�tten? — Hol’ mich der Teufel, wie w�re ich vor diesen Scherenschleifern und Schuhflickern dagestanden. Es juckt mich immer, sehen Sie, dieses Gesindel mit Worten niederzuschmettern, aufzudonnern — zum Beispiel, einmal wollte ein Lump von einem Gastwirt mich hinauswerfen, buchst�blich hinauswerfen aus seiner Bude. Er hetzte den Hund auf mich! Immer heran mit deinem gichtbr�chigen Hund, schrie ich und breitete die Arme aus — heran mit diesem Floh von einem Hund! — Was glauben Sie, was passierte? Es war eine Ulmer Dogge —“

„Nun?“ fragte der junge Mann l�chelnd.

„Haha, er ri� mich zu Boden, buchst�blich, wie einen Pfahl rannte er mich um — aber, bin ich gegangen? — Nein — werde doch vor keinem Hunde ausrei�en — hahaha!“

Auch der Fremde lachte.

„Dann h�ren Sie, einmal, da donnere ich also, donnere vor Wichten und Schneidern und sage, ich bin ein Mann, der ein Pferd an den Z�hnen in die H�he hebt und einen Kilometer weit damit springt. Hebe den Tisch, sagen sie, hebe diesen Tisch. Ich hob diesen Tisch, ein schwerer Tisch, mein Herr, ich hob ihn und brach mir einen Zahn dabei aus — sehen Sie hier — sehen Sie in der Mitte, diesen sch�nen Zahn, auf den ich immer stolz war, brach ich mir ab — aber ich hob den Tisch! Entschuldigen Sie einen Augenblick!“ Er wandte sich ab und zog den Hut vor einer jungen Dame mit auffallend reichem schwarzen Haar und stolzem Profil, die, gefolgt von einem Diener in ledergelber Livree, die Geleise �berschritt. Der Diener war mit Schachteln und Paketen beladen. „Guten Abend, gn�diges Fr�ulein!“ sagte der Lehrer und verbeugte sich mit gro�er W�rde.

Die Dame aber schenkte ihm nicht die geringste Beachtung.

Der Lehrer lachte gutm�tig und wandte sich an den Fremden. „Sie ist sehr stolz? Haben Sie es bemerkt?“ sagte er mit ged�mpftem Ba�. „Sie dankte mir nicht, aber ich gr��e sie — erstens ist sie sehr sch�n und zweitens ist sie eine Freundin meiner Tochter Susanna! — Deshalb gr��e ich sie und deshalb werde ich sie immer gr��en, wenn sie mir auch hundertmal nicht danken sollte. Denn, wer meiner Tochter Susanna nur zul�chelt, den k�sse ich auch schon, sehen Sie,“ f�gte er mit einem leisen zutraulichen L�cheln hinzu. „Geben Sie acht, eine Schiene. Welche Rattenfalle von einem Bahnhofe, nicht wahr? Sie kommen in Gesch�ften in die Stadt, mein Herr?“

Der Fremde, der der Dame mit dem auffallend reichen schwarzen Haar nachblickte, sagte: „Ja, man k�nnte es so nennen.“ Und er nickte. Die Dame verschwand.

Der Lehrer ber�hrte die Schulter des Fremden. „Verzeihung!“ Er lachte und sein lautes, gesundes Lachen hallte in dem schmalen nach Papier riechenden Gange wieder, den sie durchschritten. „Es war mehr eine Verlegenheitsfrage als Neugierde. Ich hoffe aber, ja, ich w�nsche Ihnen ganz speziell, da� Sie nicht lange hier zu tun haben werden. Eine recht elende Stadt, von b�rgerlichem Volke bewohnt. Ohne W�rde, ohne sch�ne Geb�rde, ohne Ziel und Wunsch, mit ver�chtlichen Ma�st�ben. Eine Grube voller Ausschu�, Scherben von Menschen, wie in den meisten kleinen St�dten, wo die geistige Konkurrenz gleich Null ist und dickranzige B�rger jeden Gedanken in Grund und Boden hineinl�cheln. Sind Sie Sammler von Abnormit�ten, so werden Sie auf Ihre Kosten kommen. Gewisserma�en ein Museum von B�rgerlichkeit und Dummheit. Aber was wollen Sie, verehrter Herr: Ein Kork kann sich so schwer machen wie er will, er sinkt nicht unter! Dies ist wiederum eines meiner dreitausend Sprichw�rter �ber den B�rger.“ Der Lehrer lachte zufrieden; dann fuhr er fort: „Da haben Sie zum Beispiel den geistlichen Rat, fett wie ein Schwein — aber, ich bitte Sie, welch pr�chtiges kluges Gesch�pf ist ein Schwein im Vergleich zu ihm! Er treibt Teufel aus, am lichten Tag und verbrennt sie auf einem Spirituskocher. Da haben Sie wimmelnde Beispiele. Der B�rgermeister allein — von einer Essenz aus ihm gewonnen, w�rde ein einziger Tropfen hinreichen, ein Genie augenblicklich zu verbl�den. Solch eine Stadt ist das! Geist ist alles, sehen Sie, auf Moral pfeife ich!“

Der Lehrer war wieder im Schwunge. Er zog den Hut in die Stirne, so da� sein halber Kopf darunter verschwand, sprach, gestikulierte, lachte, und je l�nger er sprach, desto gl�cklicher und zufriedener sah er aus. Er streckte die Arme bald gerade aus, bald gegen den Himmel, er wiegte sich hin und her und drehte sich auf dem Absatze.

Vor dem Bahnhofe wartete eine Art Wagen, einer gro�en Hutschachtel �hnlich, die ganz oben ein winziges Fensterchen hatte. Aus dem Fenster blickte das fette, zufriedene Gesicht des Viehh�ndlers, der sich im Zuge so gut am�siert hatte. Eine Zigarre glimmte in seinem Munde und sein Gesicht f�llte das ganze Fenster aus. Auf dem Bock des Wagens sa� ein dunkles B�ndel und dieses B�ndel rief: „Wei�er Elefant?“

„Nein, danke!“ antwortete der Fremde, der in der eisigen Luft heftig zu zittern begann. „Ist es denn weit zur Stadt?“

„H�h�! Eine halbe Stunde! Der Herr fahren also nicht mit? H�!“

Die Hutschachtel rollte davon und die glimmende Zigarre des H�ndlers erlosch in der Nacht wie ein kleines F�nkchen.

Der Lehrer lachte herzlich. „Sie k�nnen sich doch denken, verehrter Herr,“ rief er aus, „da� der Bahnhof weit au�erhalb der Stadt liegt! Man bef�rchtete, die H�user w�rden einfallen. Ich werde mir erlauben, Ihnen in aller Eile eine Skizze von dieser Stadt zu entwerfen und Sie werden mir in einer Woche, nein, morgen schon sagen k�nnen, ob ich ein Talent zu Schilderungen habe oder nicht. Diese Stadt also —“

„Verzeihung!“ unterbrach der Fremde den geschw�tzigen Lehrer. „Darf ich mir eine Frage erlauben? Hier in der Stadt hat sich ein Ungl�ck ereignet, nicht wahr?“

„Ja.“

„So viel ich h�ren konnte, ein M�dchen hat sich das Leben genommen?“

„Ja — ja — richtig!“ Der Lehrer blickte den jungen Mann pr�fend von der Seite her an. „Haben Sie denn nicht geschlafen?“ fragte er, ohne seine �berraschung verbergen zu k�nnen.

„Nein!“ Der Fremde l�chelte fein. „Ich habe nicht geschlafen, ich habe jedes Wort geh�rt.“

„Ah!“ Das gr��ere Auge des Lehrers erweiterte sich vor Erstaunen, das kleinere pr�fte den Fremden mit einem langen scharfen Blick.

„Aber Sie haben sich schlafend gestellt?“ sagte der Lehrer langsam, gleichsam f�r sich; und er f�gte rasch hinzu: „Ja, ich habe dies und jenes geh�rt. Interessiert Sie der Fall?“

Der junge Mann nickte. „Ich habe das allergr��te Interesse!“ sagte er.

Der Lehrer erz�hlte. „Was f�r merkw�rdige Dinge auf der Welt passieren!“ schlo� er. „Nicht wahr?“ Er lachte leise. Wenn man des Lebens komischen Spuk recht ins Auge fasse, murmelte er, indem er sich den schwarzen Bart strich, man m�sse die Folgerung ziehen, da� Gott wahnsinnig sei.

Der Fremde blickte den Lehrer mit klaren, ernsten Augen an. „Sie kennen vielleicht die ungl�ckliche Mutter des M�dchens?“

Der Lehrer erstaunte immer mehr. Er trat einen Schritt zur�ck und vermochte nicht sofort zu antworten. Aber er fa�te sich und l�chelte. „Diese kleine, alte Frau?“ sagte er und blickte den Fremden mit einer gewissen Scheu an, die immer wieder in seinen Z�gen auftauchte, so oft er sie auch zu unterdr�cken versuchte. „Sie ist eine Eierh�ndlerin, wissen Sie, geht herum in den D�rfern und kauft Eier ein, um sie in der Stadt zu verhandeln. Ein armes Dingchen, sie wohnt neben dem Armenhaus, dicht daneben, fast im Armenhaus selbst, im Hexeng��chen wohnt sie, jedes Kind kennt sie.“

„Danke!“ sagte der Fremde und streckte dem Lehrer mit einer offenherzigen Bewegung die Hand entgegen. „Danke Ihnen aufrichtig!“ Die Herzlichkeit in seiner Stimme besiegte die sonderbare Scheu des Lehrers vollst�ndig. Ein L�cheln verkl�rte sein m�nnliches, wildes Gesicht. Er streckte ihm beide H�nde hin.

„Verehrter!“ rief er aus. „Verehrter! Es ist mir eine gro�e Freude, Ihnen auf meiner Wanderschaft begegnet zu sein. Ich hoffe, das Gl�ck wird nicht ohne Nachwuchs bleiben, das hei�t, Sie verstehen mich wohl, ich hoffe, da� ich Sie wiedersehen werde. Vielleicht schenken Sie mir die Ehre Ihres Besuches? Ich bin in Acht und Bann, ohne jeglichen b�rgerlichen Kredit, ein entlassener Volksschullehrer — sage es gleich, ohne zu bef�rchten, da� Sie das abhalten k�nnte mein Haus zu betreten.“ Und als der Fremde mit herzlichen Worten f�r die Einladung dankte und seinen Besuch zusagte, f�gte er mit strahlendem Gesichte und aufrichtiger Freude fl�sternd hinzu: „Ah, herrlich! Mein Heim ist bescheiden, aber die Flagge des Gl�ckes flattert dar�ber. Sie werden M�tterchen kennen lernen, meine Frau! — M�tterchen, so hei�t sie in der ganzen Stadt — haha — Sie werden sie kennen lernen, so klein wie sie ist! Ich bezahle Ihnen hundert Flaschen Wein, wenn Sie sich vorstellen k�nnen, wie klein sie ist und wie leicht! Oft, wenn ich in den Feldern herumliege, denke ich, wie klein ist sie doch — wie klein und leicht — wie ein Kork. Und Susanna werden Sie kennen lernen — meine Tochter — ein herrliches Gesch�pf, herrlich an K�rper und Geist — eine Art Heldin — nun, Sie werden sie ja sehen! Ich bin eben auf dem Wege zu ihnen, zu M�tterchen und Susanna, seit einem Jahre bin ich nicht mehr da gewesen — aber pl�tzlich hat mich die Sehnsucht gepackt, so da� ich sogar den Zug nahm, was seit sechs Jahren nicht mehr passierte, ich mache alles zu Fu� —“

„Sie arbeiten also ausw�rts?“ fragte der Fremde.

„Wie?“

„Sie arbeiten also ausw�rts, nicht hier am Platze?“

Der Lehrer gab seinem Kopfe einen Ruck und beugte das Ohr lauschend herab. „Ah!“ rief er, „arbeiten?“ Er sch�ttelte langsam den haarigen Kopf und seine Augen gl�hten. „Ich hasse die Arbeit! Ich bin ein freier Mann, ein Wanderer, wandere umher, jahraus — jahrein — in Sturm und Wetter, in Sonne und Tau — ein Bruder der V�gel, ein Freund der B�ume, ein Sohn der Sonne“ — hier legte er die Hand aufs Herz und seine Augen gl�nzten schw�rmerisch — „ein Schrecken f�r alle eingesessenen B�rger! Ein Komet, der unterwegs ist, wenn Sie wollen. Nein, ich arbeite nicht, junger Freund, haha, was Ihnen doch einf�llt!“ Er betrachtete den Fremden mit einem g�nnerhaften, v�terlichen Blick. „Meine Familie lebt in angenehmen Verh�ltnissen — sozusagen in sehr angenehmen Verh�ltnissen. Ich hoffe, Sie werden den Besuch nicht vergessen, gleich hier beim Bahnhof!“

„Auf keinen Fall.“

Der Lehrer sah den jungen Mann lange an, gleichsam, um sich sein Antlitz f�r alle Zeiten einzupr�gen; er bewegte den Kopf in kleinen Rucken, um genauer zu sehen und tiefer in die Z�ge eindringen zu k�nnen. Dann sch�ttelte er leicht den Kopf.

„Sie sind ein eigent�mlicher Mensch!“ sagte er leise. „Ich habe auch Ihr Gesicht noch nicht gesehen, alle anderen Gesichter habe ich ja tausendfach gesehen. Ich sch�tze es mir zur Ehre, Ihnen begegnet zu sein. Allezeit Ihr Diener!“ Darauf nahm er den Hut ab, dr�ckte ihn gegen die Brust und verbeugte sich. „Erlauben Sie mir, da� ich mich Ihnen zum Abschied vorstelle!“ sagte er in tiefstem Ba�. „Heinrich L�wenherz, ein fahrender Gesell!“

Der Fremde nahm den Hut ab und verbeugte sich seinerseits.

„Richard Grau,“ sagte er.

Der Lehrer verschwand wie ein Phantom irgendwohin und der Fremde sah ihm mit einem nachdenklichen und erstaunten Blicke nach. Aber dieser Heinrich L�wenherz hatte eine sch�ne Empfindung in ihm zur�ckgelassen, und er nahm sich vor, ihn sobald als m�glich aufzusuchen.

Viertes Kapitel

Die kleine Stadt lag schon ganz ausgestorben. In den krummen Gassen brannten einige Laternen, halb zugeschneit, mit kleinen verru�ten Petroleuml�mpchen. Die alten buckligen H�user standen stumm und vorn�ber gebeugt und erinnerten an im Stehen schlafende Pferde. Da und dort schimmerte ein helles Fenster. Der Schuhmachermeister M�nnlein sa� friedlich �ber die Arbeit gebeugt, der Fleischer Keim hackte etwas auf einem Blocke und wischte sich den Schwei� von der Stirn. Auch Fr�ulein Karola Sperling, Modes, hatte noch Licht. Denn sicherlich war sie es, die da droben im Giebelzimmer wohnte.

�ber den �den Marktplatz fuhr der Wind und k�mpfte mit einem Zeitungsblatt, das offenbar die Absicht hatte, die Kirchgasse hinauf zu rollen. Aber der Wind zwang es, umzukehren, zerrte es an den H�usern entlang und lie� es endlich die Gasse, die zum Flusse f�hrte und Fischergasse hie�, hinabflattern.

Sobald das Zeitungsblatt in der Fischergasse verschwunden war, tauchte der Fremde, der sich Richard Grau genannt hatte, aus der langen Gasse auf, den Reisesack in der Hand.

Er ging langsam auf das Hotel „Zum wei�en Elefanten“ zu und sah sich das Hotel von oben bis unten aufmerksam an. Es war ein alter gelber Fachwerkbau, der die Fenster gerade da hatte, wo niemand sie suchte und sich im Gegensatz zu all den andern H�usern ringsum zur�ckbog. Rechts unten hatte es einen kleinen Erker, der sich auf eine kurze, plumpe S�ule st�tzte. Aus dem Erker schimmerte Licht. Vor dem breiten Tor stand der Hotelwagen, der einer gro�en Hutschachtel �hnlich sah.

Die Aufschrift „Hotel zum wei�en Elefant“ zog sich �ber die ganze Breite des m�chtigen Hauses hin und zum �berflu� hing noch ein Schild �ber dem breiten Tore, ein kleiner, drolliger Elefant mit kurzen Sto�z�hnen und geschwungenem R�ssel und listigem Schmunzeln, �hnlich jenen ausgestopften Exemplaren, die die Kinder an einem Stricke hinter sich herschleifen.

Der kleine wei�e Elefant schwang sich im Winde und schmunzelte.

Grau stellte die Reisetasche ab und ordnete sein Halstuch. Es wird wohl besser aussehen! dachte er und suchte in den Manteltaschen nach den Handschuhen. Aber diese Handschuhe, dicke, warme Handschuhe, die er erst gestern gekauft hatte, waren nicht zu finden. Pl�tzlich h�rte Grau auf zu suchen. „Aber nat�rlich!“ rief er aus und l�chelte und sein Antlitz nahm einen gl�cklichen und tr�umerischen Ausdruck an.

Er r�usperte sich und zog die Klingel. Ein kleines Fenster an der Wand fiel herab und eine hastige, sich �berst�rzende, �rgerliche Stimme fragte: „Wollen Sie Bier?“ Es h�rte sich wie Gebell an.

Grau nahm den Hut ab. „Nein,“ sagte er, „ich will ein Zimmer — ein einfaches Zimmer, nicht zu teuer. Nur f�r diese Nacht.“

„�h!“ bellte die Stimme und ein �rgerliches kleines Gesicht fuhr zum Fenster heraus. „Sie haben an der Gassenschenke gel�utet, sehen Sie denn nicht die Fremdenglocke? K�nnen Sie denn nicht lesen?“

Grau l�chelte. „Nat�rlich kann ich lesen,“ sagte er, „entschuldigen Sie nur, wenn ich an der Gassenschenke gel�utet habe —“

„Jajajaja!“ Der Wirt, ein x-beiniger Mann mit winzigem Kopfe kam heraus und musterte Grau. Er schlich im Halbkreis um ihn herum, wog den Reisesack mit den Blicken, betrachtete Graus alten Hut, abgetragenen Mantel, seine frostroten H�nde und endlich machte er die Augen scharf und musterte sein Gesicht, das vor Ersch�pfung bleich und ausgehungert und vor K�lte blau gefroren aussah.

„Treten Sie ein! Ins Gastzimmer!“

Nach all der Dunkelheit erschien das Gastzimmer festlich beleuchtet, obgleich nur eine einzige H�ngelampe brannte. Alles erschien nahezu wei�, die W�nde, der lange, mit Vasen, Papierblumen und Gipsfiguren barbarisch geschm�ckte Tisch, die Vorh�nge, die W�nde und selbst der Fu�boden. Die Decke aber war braun. Es war wohltuend warm hier, und der Duft einer feinen Zigarette vermischte sich mit dem abgestandenen Geruch von Speisen und etwas Ranzigem. Aus dem Geruch schlo� Grau, da� hier die unverheirateten Beamten der Stadt a�en, etwa zehn an der Zahl, die alle gut zu speisen liebten. Ihr durch die Tafel angeregtes Gespr�ch schien noch in der Luft zu h�ngen und irgendwo zu stecken, gleich dem Rauche der schweren Zigarren, die sie nach dem Essen pafften. Nun war das Zimmer �de. Irgendwo zirpte eine Spieldose eine Arie, und an einem Tischchen in einem Erker sa�en eine Frau und ein junger Mann vor einer Batterie von Weinflaschen. Die Frau sa� sehr unsch�n da, den Stuhl weit zur�ckgeschoben, die Ellbogen auf den Tisch gest�tzt, das Gesicht in den H�nden. Der junge Mann sa� in seinem Stuhle, die F��e, an denen er abgeschabte Reitstiefel trug, weit von sich gestreckt und rauchte. An seiner wei�en Hand blitzten Steine. Er kitzelte die Frau mit einer Reitpeitsche am Halse. Beide wandten das Gesicht zur T�re, als Grau eintrat und Guten Abend w�nschte, die Frau tat es, ohne die H�nde vom Gesicht zu nehmen. Sie war blond und sch�n wie eine Puppe. Sie hatte auch das Puppenl�cheln. Der junge Mann hatte ein fahles, langes Gesicht und seine schwarzen gescheitelten Haare spannten sich wie gl�nzender Atlas �ber den Sch�del.

„H�!“ schrie der junge Mann und sprang auf. Er eilte auf Grau zu, nahm die Reitpeitsche unter die Achsel, verbeugte sich wie ein Kellner und rieb sich die H�nde, als wasche er sie.

„Was befehlen der Herr?“ fragte er mit einer f�r seine zwanzig Jahre au�erordentlich tiefen und rauhen Stimme und lachte betrunken. In seiner Rocktasche zirpte die Spieldose.

Grau sah ihn mit erstaunten Blicken an. „Sind Sie der Kellner?“ fragte er, indem er sich, unangenehm ber�hrt, abwandte und den Mantel auszog. Ein alter, etwas knapper, dunkelfarbiger Gehrock kam zum Vorschein. Die �rmel waren mit schwarzen Borten einges�umt und die Brustaufschl�ge zeigten etwas wie schwarze Seide. Da und dort schien der Stoff mit Tinte nachgef�rbt zu sein.

Die blonde Frau lachte kichernd. „Aber, Herr Baron!“ rief sie mit einer Mischung von Vorwurf und Koketterie in der inhaltslosen, hohen Stimme und sah Grau mit ihren gro�en Augen neugierig an.

„Ich f�hle mich hier zu Hause, Tante!“ sagte der junge Mann, den die Frau Baron nannte und lachte. „Deshalb, mein Herr, deshalb. Au�erdem, weil Sie mir gefallen. Sagen Sie das eine, sind Sie kurzsichtig?“

Ja, er sei ein wenig kurzsichtig, entgegnete Grau h�flich.

„Aha — deshalb. Deshalb sehen Sie einen so eigent�mlich an. Wenn Sie nun nicht kurzsichtig w�ren, so w�re — aber Ihre Kurzsichtigkeit entschuldigt Sie, nat�rlich, haha — nat�rlich. Haben Sie schon den Trompeter von S�ckingen geh�rt? Wie? Ja, wenn Sie ihn noch nicht geh�rt haben, sofort soll das Orchester antreten — sofort —“

Der Baron lachte und sprach auf Grau unausgesetzt ein. Er nahm die Spieldose aus der Tasche und zog sie auf. Der Blick seiner dunkelgrauen Augen war unsicher und flackernd, ruhelos und gequ�lt. Grau erinnerte sich, diesen Blick bei einem Manne gesehen zu haben, der mit nackten F��en auf Glasscherben tanzte, um sich zu vergessen, um sich selbst zu foltern — der Mann hatte wohl seinen Grund gehabt. — Auf der rechten Wange hatte der junge Mann einen kleinen Schmutzflecken und gerade dieser Schmutzfleck allein schien sein Gesicht brutal und betrunken zu machen, denn au�erdem war es fein und regelm��ig, ja sanft.

„H�ren Sie das Orchester? Beh�t’ dich Gott — Onkel!“ schrie er den Wirt mit dem kleinen Kopf an. „Bringe mir den schwersten Wein, den du hast im Keller — schwarz mu� er sein — sofort! Das hei�t, du brauchst dich nicht zu beeilen. Du kannst wegbleiben, solange du willst, Onkel, wir brauchen dich ja nicht hier — keine Seele fragt nach dir! Herrgott im Himmel, Onkel, wie ein Floh kommst du mir heute vor, genau wie ein im Dienst ergrauter Floh —“

„Herr von Hennenbach, Herr Baron!“ rief die blonde Frau im Erker und kicherte in die H�nde.

Der Wirt murmelte eine Verw�nschung und n�herte sich Grau. „Was w�nschen der Herr? Abendbrot?“

„Ja, eine Kleinigkeit.“

„Schweinebraten, Schnitzel, Nieren —“

Grau winkte ab und sch�ttelte den Kopf. Der Wirt begann laut zu bellen. „Der Herr k�nnen auch Taube haben, Huhn —“

Grau machte ein hilfloses Gesicht. „Nein, danke,“ sagte er, „ich bin n�mlich gar nicht hungrig, m�ssen Sie wissen. Vielleicht haben Sie etwas Wurst und Bier?“

Der Wirt entfernte sich mit einer �rgerlichen Grimasse.

Die Frau im Erker begann zu kichern und zu keuchen und pl�tzlich stie� sie einen leisen Schrei aus. Dann hustete sie und r�ckte den Stuhl. „Sie sollten nicht mehr trinken, Herr Baron, Sie Wildfang!“ kicherte sie.

„Ruhe, Tante, Ruhe!“ sagte der junge Mann rauh. „Ich trinke die ganze Nacht, morgen, �bermorgen, die ganze Woche, ich habe meine Periode und mu� mich bet�uben —“

Pl�tzlich stand er vor Grau und verbeugte sich. „Darf ich den Herrn zu einer Partie Billard einladen?“

„Danke.“

„Einsatz zwanzig Mark. Ich gebe dem Herrn f�nfzig B�lle auf hundert vor.“

„Ich bedaure, ich spiele nicht Billard.“ Grau sprach sanft und h�flich.

Der Baron lachte. Also nicht einmal Billard spiele der Herr? „Sie waren wohl nie Student? Kann ich mir denken.“

„Doch, mein Herr!“

„Ja, du meine G�te, da haben Sie nicht Billard gelernt? Ich m�chte schon wissen, was Sie dann in Ihrer freien Zeit taten?“

„Ich habe Stunden gegeben.“

„Aha! Das �ndert die Sache allerdings. Aber h�ren Sie, ob Sie Billard spielen oder nicht, das ist ganz egal — ganz egal — Sie lernen es. Trotzdem Sie sehr kurzsichtig zu sein scheinen — trotzdem prophezeie ich Ihnen, da� Sie es in f�nf Minuten k�nnen. Ich gebe Ihnen auf hundert B�lle neunzig vor — Einsatz zwanzig Mark —“

Grau l�chelte. „Entschuldigen Sie —“

„Ich gebe Ihnen f�nfundneunzig vor — neunundneunzig — h�ren Sie — und wenn Sie blind sein sollten — einen Ball werden Sie doch machen.“

„Nein, ich danke Ihnen vielmals. Ich bin zu m�de.“

„Ah!“ Der junge Mann warf sich rittlings auf einen Stuhl am Tische. „Dann vielleicht — Dame, Domino — oder Schach oder M�hle, was Sie wollen — Sie k�nnen ja sitzen bleiben, wenn Sie m�de sind — ja, Sie brauchen nicht einmal zu ziehen, ich ziehe f�r Sie — die H�lfte Steine gebe ich Ihnen — ja, Donner und Doria!“ rief er pl�tzlich aus und lachte laut und roh. Er hatte Graus Reisesack entdeckt. Er sprang auf und besah sich den Reisesack in der N�he. Er lachte und bewegte die Reitpeitsche, als ob er die Henne kitzle. „Was f�r eine kostbare Sache!“ schrie er. „Wohl ein altes St�ck?“

„Es d�rfte ziemlich alt sein, ja.“ Grau l�chelte, er �nderte nicht den Ton der Stimme.

„Wohl ein — ein Familienst�ck — ein Erbst�ck?“

„Nein.“

„Nicht! Es sieht genau so aus. Was w�rden Sie sagen, mein Freund, wenn Ihnen jemand f�r die Tasche zwanzig Mark g�be?“

„Ich verkaufe sie nicht,“ antwortete Grau geduldig.

Der Baron lachte laut heraus. Er lachte Grau ins Gesicht, dicht ins Gesicht und sagte: „Hundert Mark! In die Hand! Na?“

Hier erhob sich Grau und verbeugte sich. „Ich sehe, der Herr sind in guter Laune,“ sagte er, „ich verstehe das recht wohl, da� der Herr scherzen wollen, aber sollte es nicht jetzt genug sein?“ Er sah den Baron an und pl�tzlich ver�nderten sich seine Augen. Eine leichte Glut begann in ihnen aufzuleuchten und ihr Blick schien langsam in die flackernden Augen des Barons einzudringen, bis hinab in die Tiefe.

Der Baron blinzelte, wie um sich von einer Macht zu befreien. Er kniff die Lider zusammen und lachte.

„Aber, Herr Baron!“ kicherte die blonde Frau im Erker.

„Hundert Mark! F�r die Tasche hier! Barzahlung? Nicht? Aber Herr, Herr, was ist mit Ihnen? Sie scheinen nicht allein kurzsichtig zu sein — aber hole mich der Teufel, ich darf Sie doch zu einer Flasche Wein einladen?“

„Ich danke Ihnen herzlich,“ sagte Grau und err�tete, „ich habe keine Lust. Ich bin zu m�de, danke!“

Der Baron lachte und schrie: „Dieser Herr err�tet, Tante, wie ein junges M�dchen, wie ein J�ngferchen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Also, Sie schlagen die Einladung aus?“ wandte er sich wiederum an Grau. Er wartete ein wenig und sah Grau in die Augen; er wollte wieder zu sprechen beginnen, aber er z�gerte und verlor von neuem unter dem Blicke Graus die Sicherheit. Einen Augenblick lang sah er �berrascht aus, dann lachte er heraus und schrie: „Gut! Und wenn Sie mich auch noch so kurzsichtig ansehen, wissen Sie nun, was? — Hole Sie der Teufel!“ Er klappte die Reitstiefel zusammen und drehte sich um.

Grau zuckte die Achseln und winkte den Wirt heran. „Wo ist das Hexeng��chen, bitte?“ fragte er.

„Hexeng��chen? Hexeng��chen? Ja, was wollen Sie denn im Hexeng��chen, im Hexeng��chen?“

„Ich will jemand besuchen, der hier wohnt. Neben dem Armenhaus.“

„Armenhaus? Armenhaus?“

„Eine Frau Sammet m�chte ich besuchen, eine Eierh�ndlerin. Sie wohnt doch da, nicht wahr?“

Nun verstand der x-beinige Wirt mit dem kleinen Kopf, der in Wirklichkeit mit den gro�en Augen, der langen, flachen Nase, dem kleinen Mund und dem verk�mmerten Kinn dem Kopfe eines Flohs glich. „Der Herr kommen zur Beerdigung?“

„Ja,“ sagte Grau und schl�pfte in den Mantel, w�hrend ihm der Wirt den Weg beschrieb.

„Wenn er doch zum Teufel ginge!“ schrie der Baron mit einer zu Graus Verwunderung nahezu ha�erf�llten Stimme.

Ah, wie traurig, dachte Grau, er ist ungl�cklich, und noch so jung!

Grau kehrte nach einer Viertelstunde unbefriedigt zur�ck und ging sogleich auf sein Zimmer. Er hatte die Eierh�ndlerin nicht zu Hause angetroffen.

F�nftes Kapitel

Grau schlo� die T�re seiner Kammer und begann augenblicklich erregt mit sich selbst zu sprechen.

„Man nimmt sich doch nicht so rasch das Leben!“ sagte er und gestikulierte heftig. „Das M�dchen war doch so jung und gesund! Aus Scham allein hat sie es nicht getan, das glaube ich nicht. Nein, nie und nimmer! Es mu�te noch etwas anderes mitspielen, eine Kr�nkung oder sonst etwas. Der Fleischergeselle leugnet. Man kennt den Verf�hrer nicht. Ich werde ihn herausfinden, bei Gott, das werde ich!“

Er war todm�de und legte sich zu Bett. Er war einen vollen Tag unterwegs gewesen und hatte, um Geld zu sparen, noch dazu eine Strecke von f�nfzehn Kilometern zu Fu� zur�ckgelegt, um einen Umweg der Bahnlinie abzuschneiden.

Dieses arme M�dchen! dachte er. Entsetzlich! Mit einem Seufzer der Lust empfangen, in Angst getragen, in Verzweiflung geboren und mit dem Leben bezahlt. Genug, genug!

Er schlief ein, wurde aber gleich darauf durch das Bimmeln einer d�nnen Blechglocke geweckt.

Im Gastzimmer unter ihm rumorte die rauhe Stimme des jungen Barons. Hier und da bellte �rgerlich der kleine Wirt, und in nahezu gleichen Zwischenr�umen lie� sich das leere Lachen der blonden Wirtin h�ren. Es h�rte sich an wie der Ton einer kleinen d�nnen Blechglocke, an der der Baron zog, wann es ihm gefiel. Einmal zog er zweimal nacheinander daran, ein andermal tat er nur einen kurzen, schrillen Ruck. Die Personen da drunten verkleideten sich, der Baron wurde zu einem Manne, der auf Flaschenscherben tanzte und seine Augen gl�hten.

Grau richtete sich im Bette auf. Er konnte nicht schlafen.

„Dieses arme M�dchen ist es ja nicht allein!“ rief er aus und schlug mit der flachen Hand auf die Bettdecke. „Da ist noch diese alte verzweifelte Mutter, die ganz von Sinnen hin- und herrannte und schrie. Da ist noch das arme verwaiste Kind! — Aber auch das ist noch nicht alles!“ fuhr er fort, wobei sich sein Herz zusammenkrampfte. „Tausende solch ungl�cklicher M�dchen gibt es, Tausende solch verzweifelter M�tterchen, Tausende solch verwaister Kinder! Tausende! Tausende! Tausende!“

Er befreite sich von diesem Gedanken.

Aber augenblicklich erschien an einer andern Stelle seines Kopfes ein Gefangener, der an der Wand der Zelle lehnte; es war Nacht, aber er schlief nicht, durch das kleine Gitter �ber seinem Kopfe drang ein fahles Licht, da stand er mit bleichem Gesichte, starrte vor sich hin und nagte an der Lippe. Wieder, da sah er in eine Kammer: Auf dem Bett lag eine tote Frau, eine Kerze brannte daneben, ein Kind sa� auf dem Boden und l�chelte ihm zu. Auf dem fahlen Gesicht der Toten stand mit erschreckender Deutlichkeit geschrieben: Ich wurde geboren und wei� nicht weshalb, ich habe gelebt, wei� nicht warum und weshalb bin ich doch gestorben? Nun aber kann ich den Weg zur Seligkeit nicht finden, ach! Dann sah er einen schlafenden Mann mit kurzen aschgrauen Haaren vor sich und er sah einen Gedanken, der im Haupte des Schlafenden wanderte. Der Gedanke wanderte hin und her, wie ein Licht, das in der Nacht wandert und vor verschlossenen T�ren stehen bleibt. Pl�tzlich stand das Licht ruhig und loderte hell auf und der Schlafende erwachte verst�rt. Er schl�pfte in die Kleider, hastig, schlich sich aus dem Hause, verstohlen, und sein schneller Schritt verschwand in einer dunkeln Gasse. Aus der Ferne drang ein entsetzlicher Schrei.

Grau schrak zusammen. Den Schrei hatte die blonde Wirtin ausgesto�en. Aber es war kein Schrei des Schreckens, es war ein schrilles, ersticktes Lachen. Der junge Baron verabschiedete sich, das Tor fiel ins Schlo� und durch das ganze Haus lief ein dumpfes Zittern vom Keller bis zum Boden. Der Wirt zankte, die Frau lachte ged�mpft. Schritte schlichen hin und her auf knarrenden Dielen, bald unten, bald oben, an seiner T�r vorbei. Es war der kleine Wirt, der nachsah, ob alles in Ordnung war. Er fl�sterte, tuschelte, zankte. Und wieder knarrte sein schleichender Schritt durch das ganze Haus.

Graus Z�ge fielen ein. All das Leid, das auf der Erde war! Er f�hlte es, es lag wie eine Last auf seiner Brust, er h�rte es, ja, er roch es! Dunkler und dunkler wurde es in seiner Brust und endlich erschauerte er von all der Finsternis, die in seinem Innern war. Er pre�te die H�nde vors Gesicht und zitterte und dieses Zittern kam nicht von der K�lte allein. Die ganze Erde schreit ja immerzu, dachte er, sie zittert und bebt ja unausgesetzt. Wenn sich das Schluchzen einer einzigen Nacht vereinigt, so tobt es lauter als das wilde Meer! Dieses leise Weinen in den Kissen, dieses Klopfen der Herzen, das Keuchen der Sterbenden, die Schreie der Geb�renden —

Ob man auch das Auge schlie�t, was hilft es, das verqu�lte Antlitz des Menschen ist �berall, es dringt durch die Lider hindurch, ob man die Ohren verschlie�t, was hilft es doch?

Scheint nicht manchmal ein entsetzlicher Schrei durch die Nacht zu hallen, aller Menschen Stimmen, die sich zu einem einzigen Schrei der Anklage vereinigen, zu einem Schrei nach Erl�sung?

Ein Schweigen noch furchtbarer als dieser Schrei ist die Antwort.

Grau sa� regungslos im Bette und starrte vor sich hin. Und er sah Tausende von Menschen vor sich, die im Bette sa�en und starrten und nur den Wunsch hatten, zu vergessen, zu schlafen, nicht mehr zu denken. Aber drau�en in der finstern Nacht murmelte und tobte es und wollte nicht ruhig werden.

„Wenn man doch etwas tun k�nnte,“ sagte Grau und nickte und seine Augen brannten. „Nichts sollte mir zuviel sein, nichts! Aber man ist ja so arm — viel zu arm!“

Die Kerze erlosch, aber er regte sich nicht. Nun war es dunkel um ihn her und er starrte in dieses Dunkel hinein, seine Z�ge fielen ein, sie verzerrten sich. Er dachte, dachte, grub die Z�hne in die Lippe —

Aber mit einem Male ver�nderte sich der Ausdruck seines Gesichtes und seiner Augen. Er blickte auf das Fenster, und Neugierde, Erstaunen, Verwunderung und Freude spiegelten sich in seinen Z�gen.

Auf diesem Fenster jedoch war nichts Besonderes zu sehen. Es war eine schwarze Scheibe und vom Marktplatze, von irgendwoher fiel der Schein einer Laterne darauf, so da� feine Lichtbogen entstanden, wie man sie um den Mond sieht, wenn er einen Hof hat. Doch das war nicht alles. In diesem Lichtbogen lebte es! Es regte sich, es flimmerte, es zuckte darin. Feine Kristalle formten sich. Es war wie gesticktes Moos, wie feine zitternde Gr�ser, dann strebten schmale, wehende, glitzernde Pflanzen empor, dem Tang �hnlich, der auf dem Grunde des Meeres w�chst. Wei�e Korallenzweige wuchsen zwischen ihnen hindurch, ver�stelten sich feiner und feiner, etwas wie spitze Flossen tauchte auf, Sterne, deren Enden zitterten — und alles glitzerte und flimmerte als sei es aus Splittern von Brillanten gebildet.

Es war ein bet�rend sch�nes Bild, ein Wunder an Reichtum, Glanz und Formen, das eine unsichtbare Hand hier an das schwarze Fenster eines nichtigen Wirtshauses zeichnete.

Grau sa� und seine Augen waren wach und hell und sahen zu, wie es sich formte, ver�nderte, wuchs. Auf seinen knabenhaften Lippen schwebte ein seltsames L�cheln und in seinen Augen war ein fremder Glanz. Er atmete wieder. Er atmete tief und befreit.

„Er schreibt! Er schreibt!“ fl�sterte er leise und Freude erf�llte ihn und stummer Jubel. Gleichzeitig aber sch�mte er sich.

„Ich bin m�de gewesen, er m�ge mir verzeihen!“

Grau schlief ein und er atmete tief und froh und l�chelte im Schlafe. In seinen Traum kam ein alter kranker Bauernknecht mit entz�ndeten Augen, der eine zerrissene Jacke trug und dicke neue Handschuhe an den H�nden hatte; er schwang die H�nde vor ihm und lachte. „Deine Handschuhe sind warm, vergelt’s Gott!“ schrie er und nickte ihm zu.

Sechstes Kapitel

Es kamen viele Leute in Trauerkleidern und stiegen die beschneiten Stufen zu der kleinen Kirche mit dem wei�en Turm empor. Es kamen Leute vom Land, Bauern, die ernste Gesichter machten und langsam daherstampften, es kamen immer mehr, auch die jungen Damen, die ein gutes Herz hatten, kamen; auch der Schuhmachermeister mit dem aufgebl�hten Hals kam, feierlich pustend, in einem engen Gehrock, mit frostroten Handgelenken, ein kleines Bukett aus Wachsblumen in der Hand. Es kamen immer mehr, in all den wei�en Gassen wanderte es. Viele kamen aus Neugierde, nat�rlich. Der kleine Friedhof war ganz schwarz und alle dr�ngten der Ecke zu, die den Namen Selbstm�rderecke hatte. Es war sehr stille �ber dem St�dtchen und die Sonne blendete.

Pl�tzlich h�rte man ein Schluchzen, ein Schreien, und man sah, da� ein Sarg die Staffeln heraufgetragen wurde, ein roher Kasten. Man schaffte ihn aus dem Spital herauf. Hinter dem Sarge kam eine Gruppe von Frauen, die in der Mitte etwas Wei�haariges f�hrten, das sich sch�ttelte und hin- und herwarf und sich auf die Staffeln werfen wollte und schrie.

Der Sarg kam heran und alle nahmen den Hut ab. Man r�usperte sich, man hustete, man zog die Brauen zusammen und in den schwarzen F�usten der jungen Damen erschienen blendendwei�e Taschent�cher. Die kleine Frau schrie ohne Aufh�ren, aber als sie an das Friedhoftor kam, schwieg sie pl�tzlich. Das aber war noch viel schrecklicher als ihr Geschrei. Sie wankte zwischen den Frauen einher, und alle wichen zur�ck, niemand wollte einem solch schrecklichen Jammer nahe kommen. Eine breite Gasse entstand.

Gestern sind ihre Haare noch grau gewesen, aber heute sind sie wei�. Aber diese Haare waren nicht nur wei�, das war es nicht allein, die Haare flatterten. Sie waren d�nn und kurz und befanden sich in ununterbrochener Bewegung, immerzu stiegen einzelne Haare in die H�he, kr�uselten sich, sanken zur�ck, andere l�sten sich und flatterten langsam in die H�he.

Der gelbe Sarg wanderte durch die Menge, getragen von sechs M�nnern, es schien als stelze er auf diesen vielen dunkeln Beinen durch den Schnee, direkt auf das Grab zu, wie auf seine H�hle. Die wei�haarige Frau sagte etwas und machte mit beiden H�nden Zeichen, da� man nichts zu bef�rchten habe. Dann lie� sie sich in die Knie nieder und k��te das Ende des gelben Sarges, k��te es mit gespitzten runzeligen Lippen, wobei sie die beiden Seitenw�nde des Sarges mit den H�nden streichelte. Als die Tr�ger sich anschickten, den Sarg hinabzulassen, begann die alte Frau zu lachen und mit den F�usten auf ihre Stirn zu schlagen. Alle Leute wichen zur�ck und erbla�ten. Der Schuhmachermeister mit dem aufgebl�hten Hals wurde blaurot im Gesicht und �ffnete weit den Mund, die jungen Damen wandten sich ab und bissen in die Taschent�cher.

Da begann es in der Luft zu schwirren, ein feines Sausen schwang sich in der Stille und es klang als fiele ein klingendes Becken hoch aus der Luft herab; die Glocken begannen zu l�uten. S�� und feierlich klangen sie und alle Augen richteten sich auf den kleinen, wei�get�nchten Turm, wo sie sich in den Luken schwangen. Es l�utet! Ja, nat�rlich, es l�utet, es l�utet in der Kirche. Und alle Glocken l�uteten, nicht nur die Beerdigungsglocke. Es gab einige, die sofort in den Turm hineingingen, wo der Kirchner und sein Gehilfe an den Stricken auf und abtanzten. Es l�utet ja?

„Er hat es befohlen, der Neue!“

Die kleine verzweifelte Frau h�rte auf zu lachen und lauschte, indem sie den wei�en Kopf zur linken Schulter neigte und den Mund �ffnete. Sie wandte sich nicht um, sie lauschte nur. Es war das gro�e Gel�ute.

Die schmale T�re der Sakristei �ffnete sich und der Vikar stieg die Stufen herab. Er war im Talar und auf seinem Arme lag ein Buch. Alle sahen ihn kommen und bildeten eine Gasse. Er schritt hindurch, den Blick auf den Boden geheftet. Er trat ans Grab und nahm das Barett ab.

Seine Haare waren braun und weich, mit einem Schimmer ins Rote, und alle konnten sehen, da� sein Gesicht lang und mager war.

Er schlug die Augen auf und sah nun aus, als ob er noch nicht zwanzig Jahre alt w�re. Er l�chelte unmerklich und richtete den sanften, schimmernden Blick auf die wei�haarige Frau. Dann begann er zu sprechen. Es war totenstill und man h�rte einen ged�mpften Schritt im Schnee knarren. So leise sprach der Vikar, da� man ihn kaum verstand, seine Stimme zitterte und pl�tzlich blieb er stecken. Er schwieg eine lange Weile, err�tete, aber er wandte den Blick nicht von der kleinen Frau ab. Dann fand er sich wieder zurecht und nun sprach er rasch und sicher bis ans Ende. Seine Stimme wurde nicht laut, aber sie schwebte doch klar und deutlich bis in jede Ecke des Friedhofes und ein feines, feierliches Echo antwortete von der Kirchenwand her.

Die Rede des Vikars war schlicht und nicht lang. Er sprach von den vielen Kr�nzen, die man der Verblichenen gebracht habe, und da� sie aus Nah und Fern gekommen seien, die sie kannten, so viele, viele seien gekommen, alle habe ihr Tod und ihr Schicksal ersch�ttert und in der Stadt und auf dem Lande trauere ein jeder um sie. Nun erst, da sie tot sei, wisse man, wie sehr man sie geliebt habe.

„Sie war jung und frisch und voll von Leben,“ sagte er, „ihr habt sie gekannt, ich habe nur von ihr geh�rt. Sie wandte sich ab von der Erde und starb den schwersten Tod, den es gibt.“

Der Vikar sprach davon, wie flei�ig und treu sie gewesen sei, wie diensteifrig sie war und wie fein doch ihr Herz war.

„Es war so fein, ihr Herz,“ sagte er und l�chelte leise, „sie starb an ihrem feinen Herzen. Sie glaubte auch, da� ihr alle sie mi�achten w�rdet, sie f�rchtete euren Blick, sie sch�mte sich vor euch. So fein war sie. Das aber wollte sie nicht. Da warf sie denn alles hin, was sie hatte, ihre Jugend, ihre Frische, ihre Erinnerungen, ihre W�nsche und alle Freuden, die auf sie warteten. Das alles warf sie hin. Viel zu viel war es, viel zu viel.“

„Viel zu viel war es, viel zu viel,“ wiederholte der Vikar, und das feine, klingende Echo rief: Zu viel, zu viel.

Da begann die alte Frau zu weinen, ihr Gesicht zog sich zusammen, nichts als braune Runzeln war ihr Gesicht, es sah wie eine Nu� aus.

Der Vikar blickte auf sie und l�chelte. „Sie hat wohl Grund zu weinen,“ sagte er, „wer von uns allen w�rde nicht weinen an ihrer Stelle. Wir w�rden klagen wie sie und Worte k�nnten uns nicht tr�sten. Aber in ihrem Schmerze wird es wie eine feine Freude sein, da� die, um die sie trauern mu�, so fein war und gut. Und sie wird ja ihr Kind haben! Es ist auch ein M�dchen, es wird wachsen, spielen, lachen, es wird etwas sein, das sie tr�stet, nicht alles, aber doch viel, nicht wahr, viel!“

Nun sprach er ausschlie�lich zu der alten Frau und er sagte auch, da� ihre Tochter nun bei Gott sein werde, zu den feinsten Seelen werde sie geh�ren.

„Denn Gott versteht sich wohl besser auf Menschenseelen als wir,“ sagte er. „Er wird sagen: Ich habe gesehen, wie du gek�mpft hast, wie du gerungen hast — ich habe alles gesehen, es ging �ber deine Kraft. Ich habe auch gesehen, da� du auf dem Wege zum Tode einem Kinde begegnetest und du hast es gestreichelt. Auch das habe ich gesehen, auch das. Ein Hund hat vor deinem Hause gebellt und du hast ihm Nahrung gegeben — damals warst du noch ein Kind — auch das habe ich gesehen und nicht vergessen, denke nicht, da� mir etwas entgeht und da� ich etwas vergesse — zittere nicht —“

Die alte wei�haarige Frau lauschte. Sie legte ein wenig den Kopf auf die Seite, ganz wie ein Vogel, der lauscht, und heftete die tr�nenwunden Augen auf die Lippen des Vikars; kein Wort sollte ihr entgehen, nichts, nicht das kleinste Wort. Sie begann leise und schmerzlich mit dem Kopfe zu nicken und die Tr�nen flossen langsam �ber ihr welkes Gesicht und tropften in den Schnee.

Der Vikar segnete die Tote ein und alle beugten die K�pfe, sein Blick ging �ber sie hin.

Unter all den Anwesenden befand sich ein Mann mit gelbem Gesicht und kleinem Spitzbart und dieser Mann war der einzige, der den Kopf nicht senkte. Er stand und l�chelte und heftete die kleinen Mausaugen erstaunt und sp�ttisch auf den Vikar.

Der Vikar ging rasch durch die Menge hindurch und sein Talar verschwand in der schmalen T�re der Sakristei.

Die alte Frau folgte ihm und ging die Stufen empor. Aber hier geschah etwas Merkw�rdiges. Auf jeder Stufe kniete sie nieder und k��te sie. Dann machte sie den Kn�chel des Fingers ganz spitz und pochte an die T�re.

Sie blieb �ber eine Stunde in der Sakristei.

Siebentes Kapitel

Graus H�nde zitterten: Nein, nein, er hatte nicht die rechten Worte gefunden, er hatte es nicht vermocht!

Er warf einen Blick in die kleine alte Kirche, wo er eine blitzblanke kleine Orgel entdeckte und an einem Fenster die Reste einer ehemaligen Bemalung. Ein herrliches Fleckchen Blau, ein Streifen von einem seltenen Weinrot. Dann ging er durch den gedeckten Gang und hin�ber ins Pfarrhaus. W�hrend er sich umkleidete, sah er sich in der neuen Wohnung um. Das Pfarrhaus war ebenfalls alt, klein, mit Winkeln und Erkern, Holzvert�felungen und einer kleinen Wendeltreppe. Im Vorraum hing ein altes pechschwarzes �lgem�lde. An der T�re war eine gro�e Glocke angebracht und zwar war sie so aufgeh�ngt, da� sie gleichsam zu schwingen anfing, wenn man sie nur ansah.

Vorl�ufig war es f�r Grau noch ein R�tsel, was er mit all den Zimmern anfangen sollte.

Er �ffnete eines der kleinen Fenster. Sonne, Stille, Weite! Unter ihm lag die Stadt und die weite Talebene. So unregelm��ig und klippig wie sich das Treibeis staut, so unregelm��ig und klippig dr�ngten sich all diese hundert steilen Giebel und D�cher ineinander. Da und dort klafften Risse und Spalten, das waren die Gassen und kleinen Pl�tze. �ber diese beschneiten Giebel war eine Unmasse von T�rmchen und Dachreitern gesch�ttet. Aus den unz�hligen Kaminen stiegen d�nne opalisierende Rauchs�ulen in die klare Winterluft. Hunderte von Fenstern und Scheiben blitzten und blendeten und farbige F�nkchen tanzten auf den Schneed�chern.

Rings um die wei�e Stadt war alles wei�. Auch der Flu�, der die Stadt die H�he hinaufdr�ngte, war wei�, er war gefroren. Eine Menge von K�hnen, Barken, F�hren und Frachtschiffen mit Masten und Stangen lag fest im Eise und auf den Schiffen kletterten kleine P�nktchen herum, Kinder, die spielten.

Eine wei�e Br�cke spannte sich �ber den wei�en Flu�. Dann begann die Ebene, weit und wei� dehnte sie sich, bis zu den H�henz�gen, ferne W�lder, kriechendem Moose �hnlich, waren �ber sie ausgestreut.

Ein feines Klingen schwang in der winterlichen Stille, es klang aus einer Schmiede. Die P�nktchen, die auf den Schiffen klettern, erwiderten es schrill.

Zwei Fenster gingen auf den Garten hinaus. Der Garten war klein, nahezu dreieckig und in zwei Terrassen angelegt. Er war angef�llt mit unber�hrtem, wie Seide schimmerndem Schnee, und in den Ecken lagen B�sche, Gestr�pp, Stickereien aus Schneekristallen und mit Schichten von Schnee bedeckt, die eigent�mlichen Bl�tentellern �hnlich sahen. Gegen die Stra�e zu, die H�he, war der Garten mit einem gr�nen Zaun abgegrenzt, auf den andern Seiten stie� er gegen G�rten. Da war ein Park, ein wahrer Wald alter, hoher B�ume, die tief im Schnee wateten; er konnte weit in ihn hinein sehen, denn die Mauer war niedrig. Zwischen den St�mmen der alten B�ume schimmerte ein langes wei�es Geb�ude, ein Herrschaftshaus. Die Mauer des andern ansto�enden Gartens war �berm��ig hoch und sah d�ster aus wie eine Gef�ngnismauer. �ber sie hinweg blickten die zwei tr�ben Fenster eines grauen alten Hauses, wie zwei d�stere traurige Augen unter einer niedern vergr�mten Stirn. Die �berm��ig hohe Mauer aber bot einen ganz merkw�rdigen Anblick dar. Sie war mit Glassplittern und Eisenspitzen gespickt und trug eine gro�e Tafel, die man leicht von der Stra�e aus lesen konnte, mit der Aufschrift: Vor den Hunden wird gewarnt! Achtung, Selbstsch�sse! Vorsicht! Fu�angeln!

Grau l�chelte. „Eigent�mlich!“ sagte er.

Dann nahm er rasch den Hut und verlie� das Haus, immer noch zitterten leise seine H�nde. Wie t�richt!

Grau begab sich in den „wei�en Elefanten“ und trug den roten Reisesack in seine Wohnung hinauf. Auf dem Wege begegnete er jenem Mann mit dem gelben Gesicht, der ihm im Friedhof aufgefallen war. Der Mann strich an den H�usern entlang, blieb stehen, als er Grau gewahrte und ging dann geradeswegs auf ihn zu, als ob er ihn ansprechen wolle. Aber er tat es nicht, er machte pl�tzlich einen Bogen, blinzelte und verzog die Lippen zu einem saueren L�cheln. Er griff an den Hut und Grau gr��te hastig und freundlich.

„Ein sch�ner Tag!“ sagte er l�chelnd. „Nicht wahr?“

Der Mann aber machte nur ein verbl�fftes, ernstes Gesicht, zwinkerte und strich sich die Haare aus der Stirn, er gr��te nicht. Wie sonderbar! dachte Grau und verga� die Begegnung nicht wieder.

Nach einer Weile sah man Grau wieder die Staffeln herabkommen, einen l�cherlichen kleinen Zylinder auf dem Kopfe, eine Liste in der Hand. Er ging rasch und schwebend. Er schritt �ber den Marktplatz und trat beim Uhrenh�ndler Lux ein. Hier sprach er lange. Dann erschien der Uhrenh�ndler Lux im Fenster, eine goldene Uhr in der Hand, er ritzte, pr�fte, zw�ngte ein Glas ins Auge und drehte die Uhr hin und her. Darauf verlie� Grau heiter den Laden und der Uhrenh�ndler verbeugte sich hinter ihm.

Grau ging in den „wei�en Elefanten“ und beglich seine Rechnung. Der x-beinige m�rrische Wirt bellte wie am Abend, aber er gab sich M�he zu l�cheln. H�tte er gewu�t, wer der Herr sei, so w�rde er ihm ein besseres Zimmer gegeben haben. „Bitte, bitte, ich habe pr�chtig geschlafen!“ Der Wirt verbeugte sich vor Grau und Grau verbeugte sich vor dem Wirt. Die blonde Frau sah �bern�chtig aus. Grau betrachtete sie mit einem eigent�mlichen Ausdruck der Augen, und ein fades L�cheln kam auf ihr Puppengesicht und in ihre wasserblauen Augen. Grau err�tete und ging.

Nun konnte man Grau mit seinem kleinen Zylinder, die Liste in der Hand, die Stra�e hinab gehen sehen. Er verschwand in den H�usern, verhielt sich einige Zeit darin und erschien wieder auf der Stra�e, um im n�chsten Hause zu verschwinden. Ganz wie ein Brieftr�ger.

Was Grau in den H�usern tat, ist sehr einfach zu erkl�ren. Er klopfte an die T�re, zog den Zylinder, stellte sich vor und r�ckte mit der Liste heraus.

„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, diese arme, alte Frau, sie ist im h�chsten Grade bed�rftig, der Kummer macht sie auf einige Zeit erwerbsunf�hig — dazu die Unkosten — Grau, Vikar Grau — dann ist ja auch das Kind da, verzeihen Sie die St�rung, ich bitte tausendmal um Entschuldigung!“

�berall brachte er das gleiche vor. Die Leute r�usperten sich, putzten sich die Nasen, kamen in Verlegenheit — denn Grau stand geduldig wartend da, blickte sich l�chelnd im Zimmer um und verbeugte sich ab und zu ein wenig mit der Liste in der Hand — sie fuhren hastig in die Taschen und klapperten mit Schl�sseln. Hier und da waren aber diese Schl�ssel absolut nicht zu finden, und sie sprangen umher, rannten gegen T�ren und W�nde, aber die Schl�ssel waren ganz einfach fort. Man wird die Spende ins Pfarrhaus senden.

„Sch�n, sch�n! Ganz nach Belieben, gn�dige Frau. Darf ich Sie vielleicht bitten, Namen und Betrag einzuzeichnen, hier in diese Liste, Bleifeder habe ich, bitte hier. Es ist der Ordnung halber und dann ermutigt es die andern Herrschaften — denn wo ein Sperling ist, da sind auch schon zwei, wo zwei sind, sind drei, wo drei sind, da sind auch gleich hundert, nicht wahr? Hier, erlauben Sie g�tigst, ein ungenannt sein wollender Wohlt�ter hat auf einen Schlag zwanzig Mark gezeichnet, Herr B�rgermeister St�rmer zehn Mark, Frau Tierarzt Hammer f�nf, Frau Rentamtmannswitwe Ulzh�fer eine Mark — wenn es auch nur eine Kleinigkeit ist — mit einem Tropfen kann man den Durst ja nicht l�schen, aber in einer Ansammlung von Tropfen kann man recht sch�n ertrinken — danke, herzlichen Dank, gn�dige Frau.“

„Vergessen Sie nicht zum Steinbruchbesitzer Eisenhut zu gehen, Herr Vikar!“

„Danke, auf keinen Fall! Ich danke Ihnen aufs herzlichste!“

Er kam in alle diese alten, krummen H�user, in alle m�glichen Stuben, zu allen m�glichen Menschen. Jedes Haus roch anders, die Treppen knarrten anders. Die einen waren steil und dunkel und kletterten in eine Art von Turm hinauf, andere waren breit und licht, knarrten vornehm und f�hrten auf weite, helle Vorpl�tze. Zuweilen stand man unvermutet dicht vor den T�ren, es gab aber auch Treppen, auf denen man sich verirren konnte; sie liefen kreuz und quer, endeten im Boden oder f�hrten auf einen Hof hinaus. All die Glocken, die Grau an diesem Tage l�utete, h�tten zusammen ein Konzert gegeben. Da waren sch�chterne und anma�ende Glocken, gutgelaunte und mi�gestimmte, winselnde und lachende, solche die knarrten und fauchten, bevor sie einen Ton herausstie�en, andere, die bei der leisesten Ber�hrung in ein �berm��iges Gebimmel ausbrachen, die einen beruhigten sich sofort wieder, die andern l�uteten flei�ig weiter; es gab freundliche Glocken, die sofort h�flich sagten: Herein, herein! es gab ungastliche, die brummten: Geh weg, weg! Die Zimmer, in die Grau trat, waren weit und licht, oder d�ster, oder schmal wie ein Omnibus. Es gab eine Menge von interessanten Dingen zu sehen, eine Uhr aus Porzellan, einen Ofen, der merkw�rdigerweise an der ungeschicktesten Stelle im Zimmer stand, daf�r aber die zw�lf Apostel auf den Kacheln zeigte, Schr�nke von unglaublicher Gr��e, f�rmliche H�user, alte Waffen, Truhen, Zinnkannen, in jedem Zimmer wenigstens etwas.

Grau sah sich alles aufmerksam an und nichts entging ihm. In einem Hause rannten ihn zwei gro�e Jagdhunde beinahe um, Kinder pr�gelten sich in einem andern und rollten ihm unter die F��e, das aber brachte ihn nicht aus der Fassung. „Bitte, bitte, ich bin ja der Eindringling, entschuldigen Sie — Grau, Vikar Grau.“ Er l�chelte, verbeugte sich vor den jungen M�dchen, die steif wie Besen dastanden, vor den M�nnern und Frauen, den Dienstboten, ja vor den Hunden. An die Hausfrauen hatte er nach dem ersten Anliegen noch ein zweites. Nachdem er sie mit Worten, Entschuldigungsformeln, Redensarten und Sprichw�rtern, die er selbst erfand, allen erdenklichen Liebensw�rdigkeiten gen�gend bearbeitet hatte, um sie f�r sein erstes Anliegen g�nstig zu stimmen, r�ckte er noch mit einem andern heraus. Ja, n�mlich, wo sie Eier, Butter und Schmalz bez�gen? Es w�re am Platze, diese Eierh�ndlerin auch anderweitig zu unterst�tzen. — „Darf ich Ihre Adresse in dieses Notizbuch schreiben, wie? Die Frau wird sich erlauben, zu Ihnen zu kommen, ich habe alles mit ihr besprochen. Gut!“

Er hatte �berall Erfolg. Die Leute waren anfangs ein wenig erstaunt, aber gegen so viel Freundlichkeit und Liebensw�rdigkeit konnten sie nicht aufkommen. Dann waren es auch Graus Augen, die sie alle ansehen mu�ten. Wie merkw�rdig, dieser Mensch hatte goldene Augen. Auch seine Weise dazustehen, zu plaudern, zu l�cheln, so unerh�rt herzlich, frei und fein — sie zeichneten!

Das Ger�cht ging vor ihm her und er fand sie alle vorbereitet; die T�ren waren entweder verschlossen oder sie �ffneten sich sofort, als ob man dahinter gewartet habe. Fr�ulein Karola Sperling, die Modistin, die in der Stadt die „ewige Braut“ hie�, lie� ihn sogar durch ein M�dchen bitten, bei ihr vorzusprechen. Sie sah aus wie ein junges M�dchen und hatte wei�blondes Haar, ihre Manieren waren versch�mt und kokett und doch war sie �ber f�nfzig Jahre alt. Ihr wei�blondes Haar war an den Schl�fen schneewei�. Sie hatte den Br�utigam im Kriege verloren und trauerte seitdem um ihn. Sie erz�hlte Grau ihre ganze Lebensgeschichte, ein trauriges Idyll; sie zeigte ihm auch das Bildnis des Br�utigams, eines Offiziers, w�hrend sie l�chelte und eine Tr�ne verbarg. Zuletzt zeichnete sie drei�ig Pfennig, nicht ohne zu err�ten. Grau dankte ihr aufs herzlichste und h�tte ihr am liebsten die Hand gek��t.

Ein feister, gl�nzender Herr mit einer gro�en Zigarre im Munde, die das ganze Zimmer mit Rauch angef�llt hatte, wies ihn dagegen kurz ab. Er gab prinzipiell nichts.

„Wieso?“

„Ja, zum Teufel — Pardon! — aber ich bin ein Feind von all diesen Dingen, Almosengeben und Unterst�tzungen und so weiter,“ sagte er und paffte, so da� er nahezu in der Rauchwolke verschwand!

„Ah!“ sagte Grau sch�chtern. „Ich bitte um Entschuldigung, wenn es brennt, so nimmt man Wasser und l�scht und denkt nicht weiter. Man kann nicht weniger geben als Geld, mein Herr, glauben Sie mir. Ich habe einen Mann gekannt, der bei keinem Juden etwas kaufte, ja niemals mit einem Juden sprach — ebenfalls aus Prinzip! Was sagen Sie dazu? Hahaha! Aber k�nnten Sie nicht eine Ausnahme machen — diese ungl�ckliche Eierh�ndlerin —“

„Ich habe weder mit Ihrem Manne noch mit der Eierh�ndlerin etwas zu tun!“

„Mehr als Sie glauben!“ Grau setzte sich auf einen Stuhl, obgleich ihn der feiste, gl�nzende Herr nicht zum Setzen aufgefordert hatte. „Weit mehr, als Sie glauben. Ich habe beobachtet, da� eine Schwalbe in einer Dachrinne festgeklemmt wurde, nun kamen hunderte von Schwalben —“ begann er l�chelnd.

„Ich bin aber keine Schwalbe!“ unterbrach ihn der feiste Herr mit einer verzweifelten Geb�rde und verschwand in der Rauchwolke.

„Mehr als Sie glauben, mein Herr!“ sagte Grau und stand auf. „Entschuldigen Sie, da� ich Sie in Ihrer Arbeit gest�rt habe. Vielleicht k�nnten Sie aber Ihre Frau Gemahlin oder Ihre Haush�lterin dazu bewegen, Eier und Schmalz bei dieser armen Frau —“

Der Herr brach in ein zorniges Lachen aus. „Hier!“ sagte er. „Hier nehmen Sie drei Mark, basta. Aber meinen Namen lassen Sie h�bsch aus dem Spiele!“ Er warf �rgerlich die M�nze auf den Tisch.

Grau verneigte sich. „Also ungenannt sein wollender Wohlt�ter — gut, danke! Sehen Sie, wie recht ich hatte, Sie sind doch eine Schwalbe, trotzdem!“

„Ich gebe Ihnen diese Kleinigkeit da,“ sagte der Herr und stand auf, „ehrlich gesagt, um meine Ruhe zu bekommen. Das ist der wahre Grund, der wahre!“

„Das glauben Sie nur!“ sagte Grau, merkw�rdig l�chelnd.

Der dicke Herr stutzte; er griff sich an den Kragen, dann lachte er, und zwar ein komisches Gemisch von zornigem und vergn�gtem Lachen.

„Ich war vielleicht etwas geradeaus!“ sagte er lachend und seine Mienen hellten sich mehr und mehr auf. „Aber es ist mein Prinzip, stets unverbl�mt zu sagen, was ich denke! Ich bin ein Feind aller Verz�rtelung und alles Damenhaften! Hom, hom! Ich bin auch ein Feind der Damen, ehrlich gestanden, hahaha! Ich bin auch ein Feind aller phrasenhaften Entschuldigungen, verdamm’ mich Gott! Aber ich bitte Sie, zum Zeichen Ihrer Nachsicht — Ihrer — ein paar meiner Zigarren zu rauchen. Bitte, bitte!“

Grau wollte ablehnen, aber der feiste Herr sch�ttelte erregt den Kopf und fuhr so energisch in die Zigarrenkiste, da� es aussah, als ob er Grau alle Zigarren auf einmal geben wollte. Je tiefer seine Hand aber in der Kiste w�hlte, desto mehr m��igte er seine Erregung und als er die Hand zur�ckzog, befanden sich nur vier Zigarren darin; er legte sie vor Grau auf den Tisch, merkw�rdigerweise jedoch blieb eine Zigarre in seinen Fingern h�ngen und wanderte wieder in die Kiste zur�ck.

Grau dankte, nahm zwei Zigarren und ging. Der Herr begleitete ihn hinaus, bis ans Stiegenhaus, und verneigte sich laut lachend.

„Also, ich bitte nochmals um Entschuldigung, ich bin zuweilen sehr reizbar — hahaha — auf Wiedersehen, Herr Grau!“ Er lachte noch in das Stiegenhaus hinein, als Grau schon das Haus verlassen hatte.

Grau kam auch zu dem Schuhmachermeister mit dem aufgebl�hten Hals. Hier mu�te er eine Tasse Kaffee annehmen. Der Schuhmachermeister versprach, die Schuhe der alten Frau kostenfrei auszubessern, zu sohlen, zu flecken, auch eine Filzsohle wollte er hineinlegen. �brigens bezog er Eier und Schmalz schon von ihr.

„Vergessen Sie ja nicht, zum Steinbruchbesitzer Eisenhut zu gehen, neben dem ‚Elefanten‘, das alte Haus — er ist der reichste Mann der Stadt!“

„Auf keinen Fall!“

Graus Liste wuchs. Es ging die Stra�en links hinunter und rechts herauf. Er verga� kein Haus. Auf diese Weise lernte er die ganze Stadt kennen; er machte die Bekanntschaft von vielen liebensw�rdigen Menschen; viele G�te, die sich in einem L�cheln verriet, viel Stolz und Feinf�hligkeit, die sich in einem Verstecken des Blickes offenbarte, ja, selbst Adel, den Grau in einer kleinen Bewegung der Hand entdecken konnte. Versteckte Sch�nheiten und viel Sehenswertes, so da� er sich f�r die geringe M�he �berreich belohnt f�hlte. Seine Laune wurde noch besser. Endlich kam er zum x-ten Male auf den Marktplatz und ging auf Eisenhuts Haus zu.

Da lag dieses Haus, in dem der reichste Mann der Stadt wohnte, inmitten all dieser gepflegten, gestrichenen und mit Schnitzwerk und Erkern gezierten H�user, grau, elend und verwahrlost. Ein kalter Hauch ging von ihm aus. Der Bewurf war an vielen Stellen herabgefallen und die nackte Mauer blickte hervor, es war geschw�rzt von Ru� und lange, schmutzige Regenspuren liefen vom Dache bis zum Erdgescho� herab wie Tr�nenspuren �ber ein altes, schmutziges Gesicht. Kinder hatten Gesichter an die Wand gemalt und unter einem riesigen Kopf mit spitziger Nase und zwei kleinen Augen auf der gleichen Seite des Gesichtes stand geschrieben: „Ich bin der Geizhals Eisenhut, bembele bembum —.“ Von der T�re war die Farbe gesprungen und sie sah fleckig aus wie ein Pilz und so staubig, als hinge der ganze Staub vom letzten Sommer daran.

Grau zog an einem Glockenring und eine Glocke im Hause bellte wie ein alter, heiserer Hund. Grau l�utete drei-, viermal, die Glocke bellte und klaffte, aber niemand �ffnete.

Vor dem Nachbarhause stand der Schl�chtermeister Keim unter der T�r des Ladens, dick und wohlgen�hrt, eine Kappe auf dem Ohr. Er stemmte die F�uste in die H�ften und seinen Bauch ersch�tterte ein verhaltenes Lachen. Trotzdem es Winter war, gl�nzte er von all dem Fett, das er ausschwitzte, seine Sch�rze flatterte leicht und er erweckte durchaus nicht den Eindruck der Schwere trotz seiner Dicke. Er erinnerte an einen jener komischen Papierballone, die man zur Volksbelustigung an Jahrm�rkten steigen l��t, und das Zittern des Bauches dr�ckte gleichsam die Ungeduld des Ballons aus, in die H�he zu segeln.

„Er ist da, er ist zu Hause!“ sagte der Schl�chtermeister Keim und schon zitterte das Lachen in seinen dicken Backen. „Er ging soeben hinein.“

Grau l�utete wieder.

„Unterdessen,“ sagte er zu dem Schl�chtermeister, „ich komme in einer Angelegenheit, die nicht nur Herrn Eisenhut betrifft — Grau, Vikar Grau — Sie kennen diese alte Frau Sammet, diese Eierh�ndlerin, Herr Keim, nicht wahr, das ist Ihr Name — auf dem Firmenschild da —“

„Jawohl, Keim, so hei�e ich.“

„Wer so pr�chtig aussieht wie Sie — hier ist die Liste — deswegen wird kein Auge weniger auf der Suppe schwimmen —“

In dem Gesichte des Schl�chtermeisters, der vor Wohlgen�hrtheit nahezu platzte, verschwand augenblicklich jede Spur von Fr�hlichkeit, ja, er sah pl�tzlich betr�bt aus. Er hatte in letzter Zeit soviel gegeben, da� er wirklich nicht mehr konnte. Er r�ckte die Kappe vor, um sich hinterm Ohr kratzen zu k�nnen. Jeden Tag k�me etwas Neues.

Grau sah ihn an und l�chelte. „Aber wer so g�tig aussieht wie Sie?“ sagte er. „Ich glaube ja gerne, da� Sie in der letzten Zeit stark in Anspruch genommen wurden, aber das ist doch ein besonderer Fall, nicht wahr?“

„Jeder Fall ist eben besonders.“ Der Schl�chtermeister steckte die H�nde in die Hosentaschen und schaukelte leise auf den kurzen schwammigen Beinen hin und her.

Grau l�chelte. „Erlauben Sie,“ begann er von neuem, „w�rden Sie sich zu einer kleinen Gabe entschlie�en k�nnen, wenn ich Ihnen einen Scherz erz�hlte, �ber den Sie herzlich lachen m�ssen und den Sie Ihr ganzes Leben — ich sage, Ihr ganzes Leben lang nicht mehr vergessen?“

Herr Keim bem�hte sich ein ernstes Gesicht zu machen.

„Das kommt darauf an!“ sagte er und spuckte gleichg�ltig in den Schnee.

Grau sagte l�chelnd: „H�ren Sie, Sie hei�en Keim, aber wenn Sie schon Keim hei�en, so mu� man zugeben, da� der Keim h�bsch aufzugehen verspricht!“

Der dicke Fleischer brach augenblicklich in ein lautes Gel�chter aus. Er hielt den h�pfenden, dicken Bauch mit den beiden H�nden und sch�ttelte sich.

„Hahaha!“ lachte er und hustete, „hahaha!“

Grau wippte mit der Liste und Herr Keim gab zwei Mark.

Da rasselte etwas an der alten fleckigen Haust�re und ein Guckfensterchen, nicht gr��er als eine Streichholzschachtel, fiel herab.

Dieses Ger�usch des herabfallenden Fensterchens kam Grau bekannt vor. Und nun schien es ihm, als ob er dieses Guckfensterchen selbst schon vorher gesehen h�tte.

Ein Auge funkelte in dem Guckloch und eine zaghafte, hohe Fistelstimme fragte:

„Wer ist da?“

„Ist Herr Eisenhut zu Hause?“

„Nein!“ antwortete die Fistelstimme und Grau glaubte ein feines Kichern zu h�ren.

„Wann kommt er denn zur�ck?“

„Er ist verreist!“ Das Guckfensterchen schlo� sich wieder.

Grau verlie� die T�re mit einer eigent�mlichen Empfindung. Wie merkw�rdig! dachte er und die Fistelstimme klang ihm noch lange im Ohr, w�hrend er die Jungferntreppe hinaufstieg, eine Art von schmalem Kamin, der zwischen kahlen Hausw�nden und Gartenmauern zur H�he f�hrte. Er wollte im Schlosse vorsprechen, jenem wei�en Herrschaftshause, das er heute von seinem Fenster aus gesehen hatte.

Er ging durch den weiten Park, dessen B�ume so hoch waren, da� er sich winzig klein dagegen vorkam, und sann dar�ber nach, wo er das kleine Guckfensterchen schon gesehen habe. Jenes Ger�usch, das es beim Herabfallen verursacht hatte, verfolgte ihn hartn�ckig. „Es ist doch h�chst einerlei,“ sagte er vor sich hin, „wo ich solch ein Guckfenster schon gesehen habe, was liegt viel daran? Aber trotzdem, trotzdem! Ich habe dieses Guckfenster schon gesehen oder vielmehr geh�rt, das ist es.“ Er sch�ttelte den Kopf und stand vor dem wei�en Hause. Nun erst sah er, da� ein Fl�gel des Herrschaftshauses einge�schert war bis auf den Grund. Die Brandst�tte war abger�umt, Ger�ststangen waren eingerammt, aber man sah keine Handwerksleute.

Er stieg die Treppe hinauf, �ffnete die schwere T�re und stand pl�tzlich vor einem pechschwarzen Neger, der eine Laterne auf dem Kopfe trug.

„Ach,“ ging es ihm durch den Kopf, „jetzt erinnere ich mich! Ich habe dieses Guckfensterchen schon gesehen in einem Hause, in dessen Flur eine alte Holzfigur stand, ein Heiliger. Die Arme des Heiligen waren abgeschlagen. Aber wo, wo denn?“

Der pechschwarze Neger war aus Bronze und von der Laterne hingen schwere Messingketten herab. Grau wollte eben an einer T�re pochen, als ein Diener hinter ihm fragte, was der Herr w�nsche. Die Jacke des Dieners war gestreift und erinnerte an das Fell eines Zebras. Der Diener �ffnete die T�re eines kleinen Salons und bat Grau zu warten.

Der Salon wurde von einem Sonnenstrahl erhellt, der sich durch die Gardinen zw�ngte. Die M�bel waren hell und niedrig und standen auf zierlichen wei�en Beinen.

Grau wartete und wagte nicht zu atmen, so still war es hier und so vornehm. Er h�tte sich gerne ger�uspert, aber das ging wohl nicht gut hier. Da h�rte er einen ged�mpften Schritt und eine junge Dame erschien in der T�re.

Sie nickte und fragte: „Womit kann ich Ihnen gef�llig sein?“ Sie sprach h�flich aber k�hl.

Grau erwiderte nichts. Er sah die junge Dame an. Sie hatte auffallend reiches Haar von tiefschwarzer Farbe und war von fremder, stolzer Sch�nheit. Sie stand im Schatten und ihr Gesicht sah lang und bleich aus. Ihre Augen waren klar und ernst. Aber das Merkw�rdige daran war, da� sie heller aussahen als selbst die blassen, langen Wangen. Das kam von den schwarzen wie Atlas gl�nzenden Haaren, die fast die ganze Stirn bedeckten und von den langen gl�nzenden Wimpern, die die Augen eins�umten. Etwas von dem Glanze, der Kerzenlicht bei Tag eigen ist, war in diesen Augen.

„Womit kann ich Ihnen gef�llig sein, mein Herr?“ wiederholte das M�dchen.

Grau brachte hastig seine Bitte vor, und die junge Dame erwiderte, da� sie mit ihren Eltern sprechen werde und ihm Bescheid zugesandt werden w�rde.

Grau verbeugte sich und sah noch einmal in dieses sch�ne, regungslose Gesicht und ging. Er verga� ganz mit seiner Liste herauszur�cken und zu fragen, wo die Herrschaften Eier und Schmalz bez�gen.

Er ging rasch durch den Park hindurch und war so erregt, da� er nichts sah und nichts h�rte, bis er wieder auf dem Marktplatze stand.

„In welche Stadt bin ich doch da geraten!“ fl�sterte er. „Zuerst diese Sache mit dem Guckfensterchen und nun dieses M�dchen. Ich habe ja dieses M�dchen schon einmal gesehen, irgendwo und irgendwann, ich erinnere mich deutlich an dieses Gesicht und diese sonderbaren Augen.“

Er eilte weiter und erst nachdem er bis zum Flusse hinabgelaufen war, fiel ihm ein, da� er noch einen Besuch hatte machen wollen.

Achtes Kapitel

Grau sprach bei Frau Bezirksamtmann H�berlein vor, wo das Dienstm�dchen zuletzt gedient hatte. Hier hielt er sich l�ngere Zeit auf.

Die Frau des Hauses, eine Dame mit breiten H�ften, schmaler, fast zierlicher B�ste, porzellanartigem Teint und viel �u�erlicher Vornehmheit, empfing ihn mit �bersprudelnder Herzlichkeit im Salon. Ihre Stimme bimmelte immerfort wie ein kleines helles Gl�ckchen, besonders hell, wenn sie lachte; sie konnte aber auch und zwar ganz unvermittelt, Teilnahme, Mitleid, Resignation, Ergebenheit, Schmerz, Trauer und sogar Verzweiflung ausdr�cken, um gleich darauf wieder in Heiterkeit zu erklingen.

Frau H�berlein verheimlichte nicht, da� sie ein wenig verletzt sei, da Grau so sp�t erst zu ihr komme. Als Frau des Bezirksamtmannes spielte sie die Rolle einer K�nigin in der Stadt und jeder ankommende Beamte beeilte sich ihr augenblicklich unter tiefen B�cklingen seine Ergebenheit zu F��en zu legen. Aber als Grau ihr mitteilte, da� er absichtlich zuletzt zu ihr gekommen w�re, um sich �ber das ungl�ckliche M�dchen n�her zu erkundigen, erklang das kleine Gl�ckchen ihrer Stimme um so lebhafter und heller. Mit Vergn�gen!

Sie begann sofort eifrig zu sprechen, schien aber merkw�rdigerweise Graus Anliegen zu vergessen. Sie sprach von ihrem Gatten, ihrem Vater — sie war von adeliger Abkunft — eine Menge Offiziere in bunten Uniformen und mit ordengeschm�ckter Brust tauchten auf, besonders ein General, ein Onkel von ihr, erfreute sich ihres Interesses, und schlie�lich wimmelte es in ihrem Gespr�che von Herren und Damen wie in einem Ballsaal. Sie plauderte ohne Pause, mit vor Liebensw�rdigkeit und Eifer gl�nzenden Augen, die sie nur gelegentlich von Grau abwandte, um sie einem schr�gen Wandspiegel zuzuwenden, in dem sie sich selbst sprechen sehen konnte. Wie man einen Hasen mit Speck verziert, so war ihr Gespr�ch mit Worten und Zitaten aus allen lebenden und toten Sprachen gespickt.

Gl�cklicherweise mu�te sie niesen und es gelang Grau ihr ins Wort zu fallen. Er erfuhr nun die n�heren Umst�nde der Katastrophe, Einzelheiten aus dem Leben des M�dchens, nichts wesentlich Neues.

Ja, sie sei ein braves, ein sehr flei�iges M�dchen gewesen, ordentlich, reinlich, sparsam, ehrlich, frohsinnig — mit einem Wort — es sei sehr, sehr schade, da� sie so traurig enden mu�te.

„Man sagt, ein Fleischergeselle soll der Vater ihres Kindes sein?“

Wie unangenehm ihr die ganze Angelegenheit sei — wie peinlich — bei all dem Bedauern mit dem armen M�dchen, nat�rlich — kein Mensch k�nne sich vorstellen — wie peinlich ihr die Angelegenheit sei. „Ja, so sagen die Leute, der Bursche aber leugnet es.“

„Er wollte wohl nichts mehr wissen von ihr?“

„Nicht eigentlich das. Er wartete oft stundenlang vor der Haust�re — Margarete klagte oft dar�ber — er belagerte das Haus, so da� ich meinen Gatten aufforderte es ihm zu untersagen.“

„In den letzten Monaten wartete er?“

„Ja, sogar in den letzten Wochen.“

Grau versank in Nachdenken. „Das ist sehr merkw�rdig,“ sagte er. Er dachte nach und erinnerte sich erst wieder, wo er war, als Frau H�berlein sich leise r�usperte.

„Entschuldigen Sie, gn�dige Frau,“ sagte er, „darf ich noch fragen, wie lange das M�dchen in Ihrem Hause gedient hat?“

„Ein halbes Jahr. Genau ein halbes Jahr.“

„Und vorher?“

„Bei Herrn Eisenhut. Ach, solch eine heikle und penible Angelegenheit!“

Grau erhob sich. „Entschuldigen Sie die lange St�rung, gn�dige Frau!“ Er verbeugte sich. „Ich bin Ihnen zu gro�em Dank verpflichtet f�r Ihre g�tige Aufkl�rung.“ Er ging, aber unter der T�re wandte er sich zur�ck und sagte: „Noch eine Frage, verzeihen Sie g�tigst. Von welcher Farbe waren die Augen des M�dchens?“

Frau Bezirksamtmann H�berlein l�chelte und sagte mit feiner Stimme, sie bedaure, so genau pflege sie ihre Dienstm�dchen nicht zu betrachten.

„Ja, entschuldigen Sie g�tigst. Aber Sie mu�ten es ja sehen, ohne zu wollen. Waren die Augen braun oder grau oder blau, erinnern Sie sich nicht?“

„Wenn ich mich recht erinnere, so hat sie braune Augen gehabt, dunkelbraune Augen, die im Dunkeln schwarz und gl�nzend aussahen. Sicherlich waren sie braun, ja, ich glaube ganz sicher zu sein.“

„Das stimmt mit der Aussage der Mutter des M�dchens �berein,“ sagte Grau. „Danke.“

Die Sammlung hatte eine h�bsche Summe eingebracht, Grau war zufrieden und lachte in sich hinein. Ordentlich habe ich abgegrast, dachte er. Er ging geradeswegs ins Waisenhaus.

Die Schwestern empfingen ihn mit wenigen feierlichen und g�tigen Worten in den stillen R�umen, in denen sie sich ohne Laut bewegten. Er gab das gesammelte Geld ab, die eine H�lfte bestimmte er f�r die alte Frau, die andere H�lfte bat er f�r die Verpflegung des Kindes zu verwenden.

„Kann ich das Kind sehen?“ fragte er.

„Oh, recht gern k�nnen Sie das,“ lispelten die Schwestern und er sah das Kind. Er betrachtete es lange und aufmerksam. „Es kann ein sch�nes Kind werden,“ sagte er, „was f�r kluge, hellgraue Augen es doch hat! Ist es nicht auffallend zierlich gebaut? Aber es sieht kr�nklich aus, oder t�usche ich mich?“

Ja, der Arzt sei ebenfalls nicht zufrieden, es liege an der Amme. Eine Schlossersfrau habe sich erboten, das Kind zu n�hren, aber sie sei brustleidend.

„Nein, das geht freilich nicht. Ich werde nachfragen. Sie haben niemand im Hause, der das Kind stillen k�nnte?“ fragte Grau.

Die Schwestern l�chelten und err�teten unter der wei�en Haube. „O nein,“ fl�sterten sie.

Grau sah sie erstaunt an. Dann err�tete auch er und machte sich eiligst davon. „Du bist doch der gr��te Dummkopf der ganzen Welt,“ sagte er zu sich und lachte in sich hinein.

Am andern Morgen besuchte er zum Erstaunen der Leute alle drei Hebammen, die es am Platze gab, um nach einer geeigneten Amme zu fragen. Er war den halben Tag unterwegs, bis es ihm gelang, eine Magd dazu zu �berreden, sich des verwaisten Kindes anzunehmen. Die Magd war derb und stark, sicherlich gesund und nach Graus Meinung imstande zwei, drei Kinder spielend zu stillen. Die Magd erkl�rte sich nach langem Str�uben bereit, aber nun stie� er unerwartet auf Schwierigkeiten bei der Dienstherrschaft.

Das waren zwei alte Leutchen, ein alter Rentier und seine Gattin, und sie wollten die Erlaubnis nicht hergeben. Sie waren ohnedies �rgerlich, da� das M�dchen, eine Verwandte von ihnen, in ihrem Hause geboren hatte, und wollten nicht, da� es noch weiter bekannt wurde als es schon war. Sie blickten einander an, der Alte, der eine Kappe mit einer Quaste auf dem kahlen Sch�del trug, und seine Frau, eine verschrumpfte Greisin mit schneewei�em st�rrischen Haar und pfiffigem L�cheln, und sagten nein, ein f�r allemal nein. Da sa� denn Grau zwei geschlagene Stunden auf einem harten Sofa und f�hrte die Unterhandlung mit den beiden Alten, die noch dazu schwerh�rig waren. Der Greis besch�ftigte sich damit, aus einem Topfe Mehlw�rmer hervor zu suchen f�r ein Rotkehlchen, das lustig in seinem Bauer trillerte. Dann zerdr�ckte er Hanfk�rner mit einem B�geleisen. Die Greisin tat nichts, sie sa� da und blickte pfiffig l�chelnd auf Grau.

Grau gab sich alle erdenkliche M�he, aber die Alten r�hrten sich nicht. Endlich sagte der Alte mit der Quaste: „Wir sind ja katholisch, mein Herr, das Dienstm�dchen aber ist ja protestantisch gewesen.“

Grau lachte. „Aber, du g�tiger Himmel.“

Nun wollte der Greis den wahren Grund sagen. Er sagte: „Das w�re es ja nicht, Herr, aber es wird so bekannt — so bekannt �berall — und wir wollten in aller Stille Gras �ber das Kind unserer Verwandten wachsen lassen.“

„Gut! Aber man mu� sich doch des verlassenen Kindes annehmen, nicht wahr?“

Oh, da gebe es ja die schwere Menge, sagte die Greisin und l�chelte pfiffig.

„Ganz einerlei! Man mu� sich jedes einzelnen Kindes annehmen. Da ist nun der Herr besch�ftigt, Hanf zu knacken und er hat extra Mehlw�rmer gez�chtet und richtet jeden einzelnen her f�r sein Rotkehlchen wie einen Braten, man kann recht gut beobachten, mit welcher Sorgfalt er es tut — und nun ein Kind! Ein Menschenkind! Vielleicht wird etwas Besonderes aus ihm — das ist wie eine Lotterie, vielleicht ist es ein Treffer.“

Man gewinne nie etwas. Der Alte mit der Quaste gluckste. Er band sich eine gr�ne Sch�rze um und begann Schlei�en zu schnitzen.

„Oh, erlauben Sie recht sehr, ich habe bei einem Tischler gewohnt, der gewann das gro�e Los — er hat jetzt ein Karussell und ein Wachsfigurenkabinett, zieht umher und bl�st die C-Trompete“ — nein, vielleicht sei es nur ein kleiner Treffer, oder gar kein Treffer, man m�sse sich des Kindes unbedingt annehmen.

Die Alten sahen einander an, l�chelten, glucksten und sagten: „Nein!“

Grau wechselte das Thema. Er sprach �ber alles m�gliche, �ber die Zucht von Mehlw�rmern und die Lebensweise der Rotkehlchen, �ber die Verkehrsverh�ltnisse in fr�herer Zeit und was f�r eine Sache das doch gewesen sei, mit Zunder und Stein Feuer zu machen. Die Alten lachten und glucksten und machten es ihm vor. Sie konnten es, ja, das war eine Freude, es zu sehen! In der ganzen Stadt gibt es vielleicht keinen mehr, der es kann! Alterchen ging, um Kaffee aufzutischen, das andre Alterchen nahm die gr�ne Sch�rze wieder ab, nachdem es genug Schlei�en zum Ansch�ren geschnitten, und brachte aus einem Schranke ein Gl�schen mit �l, ein paar alte Schl�ssel und krumme N�gel und �lte all das mit einer Taubenfeder behutsam ein.

Grau erkundigte sich, ob sie S�hne oder T�chter h�tten. Ja, das hatten sie, einen Sohn, zwei T�chter. Nun wollte Grau gerne wissen, wo sie lebten, wie sie lebten, ob sie gesund und gl�cklich seien, welchen Beruf der Sohn und die Schwiegers�hne h�tten, jede Kleinigkeit. Aber ehe sich’s die beiden Alten versahen, sprang Grau auf die Enkel �ber, ja, diese Enkelchen, nicht wahr? Sechs, oh du meine G�te! Die Greisin ging und brachte Photographien herbei und der Greis putzte sich die H�nde an einer Zeitung, einem Ballen Putzwolle und einem wollenen Lappen und entnahm dem Schubfache ein Vergr��erungsglas, denn er mu�te nun die Enkel ebenfalls genau sehen.

Grau fragte, wie alt die Enkel seien, wann sie geboren seien, ob sie krank waren, er mu�te alles genau wissen. Er sah die Bilder an, lobte den trotzigen Zug eines Knaben, �ber den kleinen Zopf der Enkelin Babettchen wurde er ganz au�er sich vor Freude. Er besang diese Enkel. Ja, so klug, so gesund, so bl�hend —

Die beiden Alten kicherten und glucksten.

Pl�tzlich sagte Grau: „Also, wie steht es jetzt mit der Amme? So ein armes, verwaistes Kindchen, nicht wahr?“

Die Alterchen erschraken — denn jetzt konnten sie ja nicht mehr, sie konnten nicht — sie sagten: „Ja.“

Grau sch�ttelte ihnen die H�nde. Der Alte nahm die Kappe mit der Quaste ab und lie� es sich nicht nehmen, Grau an die T�re zu begleiten; sein kahler Sch�del gl�nzte wie ein Feuerwehrhelm.

„Da f�llt mir noch etwas ein,“ sagte Grau, „k�nnten Sie nicht im Fr�hling Ihr Rotkehlchen fliegen lassen, zum Beispiel?“

„Wie?“

Neuntes Kapitel

Als Grau nach Hause kam, warteten drei Leute auf ihn. Zwei Dienstm�dchen, die Geld brachten, das die Herrschaft gezeichnet hatte; dann stand noch eine kleine, elend aussehende Frau da, die ihn zu sprechen w�nschte.

Sie war die Frau eines Flickschneiders, ihr Mann war krank und dazu waren noch f�nf Kinder zu erhalten. Sie hatte nun gedacht, vielleicht k�nnte Herr Grau ihr helfen.

Grau freute sich �ber ihr Vertrauen. „Ich danke Ihnen!“ sagte er und dr�ckte ihr die Hand und seine Augen leuchteten. „Bitte, treten Sie ein!“ Er plauderte mit der Frau, der es offenbar Erleichterung verschaffte, ihm ihr Herz auszusch�tten. Sie war sehr arm, der Kranke hatte nicht einmal ein ordentliches Bett. Grau ermutigte sie und sprach mit ihr wie ein Freund. Dann ging er in die K�che hinaus, wickelte etwas Geld in Papier und �bergab es der Frau. „Ich werde morgen fr�h kommen,“ sagte er. „Sagen Sie keinem Menschen etwas davon,“ f�gte er fl�sternd hinzu, „und kommen Sie heute abend mit einem Karren zu mir, ich habe den ganzen Keller mit Holz gef�llt. Auch ein Bettst�ck will ich Ihnen geben, es mu� nat�rlich unter uns bleiben, denn die Sachen geh�ren ja zum Hause und nicht mir, es mu� ganz im geheimen geschehen.“

Grau machte Feuer und packte eine B�cherkiste, die eingetroffen war, und den roten Reisesack aus. Das nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Die B�cher stellte er, ohne sie anzusehen oder zu ordnen in ein Gestell, der rote Reisesack enthielt nur weniges. Ein alter Anzug, etwas W�sche, ein Pack beschriebener Papiere, Hefte, zwei zusammengerollte Bilder, ein Glasprisma, eine Tabakspfeife, eine verkorkte Flasche Rotwein und verschiedene Kleinigkeiten. Die Flasche Rotwein, die ihm ein Freund, ein Gef�ngnisdirektor, auf die Reise mitgegeben hatte, stellte er in die Ecke, die Tabakspfeife stopfte er und setzte sie in Brand. Die Pfeife war von jener Art, wie J�ger und Bauern sie rauchen. Der Kopf einer Gemse war auf den Porzellankopf gemalt.

Die Pfeife war kaum richtig im Gange, als es klopfte und der Fleischergeselle Anton Hammerbacher eintrat. Er war ein dicker, kleiner Mensch, trug eine Bluse, eine aufgerollte Sch�rze und gestickte Hausschuhe. Sein Gesicht war rund und freundlich, seine Backen leuchteten wie rote �pfel, aber seine kleinen dunklen Augen waren scheu und verschlagen. Auffallend an ihm war, da� er immerfort den Mund zu einem breiten L�cheln verzog und sich vergeblich abm�hte, ein ernstes Gesicht zu machen. Seine H�nde waren vor K�lte aufgesprungen und das rote Fleisch sah hervor.

Er sagte, da� er hierher k�me, weil es nicht mehr auszuhalten sei. Sie h�tten ihn fast totgeschlagen, niemand verkehre mehr mit ihm, aus dem Kegelklub h�tten sie ihn gestrichen und der Metzgerverein habe ihn ausgesto�en.

Grau rauchte die Pfeife. „Setzen Sie sich, bitte, nehmen Sie Platz,“ sagte er, indem er den Burschen von oben bis unten musterte. „Es ist mir sehr angenehm, da� Sie kommen, wenn ich offen sein will, ich habe Sie auch erwartet. Wenn Sie nicht gekommen w�ren, so h�tte ich Sie aufgesucht. Sie haben ein Verh�ltnis mit Fr�ulein Margarete Sammet gehabt, nicht wahr?“

„Ja.“

„Wann hat es geendet?“

„Vorige Weihnachten.“

„Gut. Und warum? Haben Sie es abgebrochen oder das M�dchen? Erz�hlen Sie mir, wie es herging. Und erlauben Sie mir, da� ich unterdessen diese Sachen hier in Ordnung bringe. Sie k�nnen ganz frei reden, denn es wird alles unter uns bleiben, ich gebe Ihnen mein Wort.“ Grau streckte ihm die Hand hin.

Der Bursche mit den rotleuchtenden Backen begann zu erz�hlen. Grau unterbrach ihn.

„Ein Wort noch,“ sagte er. „Sie k�nnen mir alles sagen und Sie d�rfen sicher sein, einen Freund und Ratgeber in mir zu finden. L�gen Sie nicht, denn es ist so l�cherlich zu l�gen und auch ganz und gar unsinnig, denn ich f�hle es ja sofort, ich h�re es am Ton Ihrer Stimme. Nun, bitte!“

Grau nagelte die zwei Bilder, die sich im Reisesack gefunden hatten, an die Wand, w�hrend der Bursche erz�hlte. Das eine Bild war ein Farbdruck nach einem wenig bekannten alten Niederl�nder; es stellte einen Heiligen dar, der in einer Landschaft sa� und dachte. An seiner Seite sa� ein kleines wei�es Lamm. Der Heilige hatte den Kopf in die rechte Hand gest�tzt und sein Gesicht zeigte einen so tiefen Ausdruck des Nachdenkens, da� es nahezu idiotisch erschien. Aber gerade dieses nachdenkliche, nahezu idiotische Gesicht liebte Grau an dem Bilde. Er liebte auch die nackten F��e des Heiligen, sie waren unsch�n, eckig, die Zehen aufw�rts gestellt; aber auch diese F��e schienen nachzudenken. Nach Graus Meinung war dieses Bild eines der gr��ten Meisterwerke psychologischer Darstellung. Das andere Bild war eine Radierung von Klinger, die Grau irgend einer Zeitschrift entnommen hatte: Ein nackter J�ngling, der mit verh�lltem Gesicht vor dem offenen Meere im Grase kniet. Es war betitelt: An die Sch�nheit.

„Das hei�t, sie fing an das Feine zu lieben, ist es nicht so?“ wandte sich Grau an den Burschen.

„Ja,“ sagte der Bursche. „Sie sagte, ich rieche wie das Schlachthaus. Sie kaufte mir einen Hut, weil ihr meine M�tze nicht gut genug war, sie konnte auch meine Bluse nicht mehr leiden. Ich habe mir dann alles neu gekauft, aber sie wollte trotzdem nichts mehr wissen von mir.“

„Man hat Sie aber im Sommer noch und im Herbst mit dem M�dchen gehen sehen, was sagen Sie dazu?“

Das sei wahr. Sie habe ihm einmal zugerufen auf der Stra�e, wie es ihm gehe. Darauf habe er sie gefragt, ob es nicht wieder wie fr�her zwischen ihnen sein k�nne.

„Was hat sie darauf geantwortet?“

„Sie hat gesagt, sie wolle es mir bald sagen.“

„Hat sie wirklich bald gesagt?“

„So �hnlich. Sie kann auch bald gesagt haben.“

„Und das n�chste Mal, sagte sie es da?“

Der Bursche sch�ttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „aber sie war sehr gut zu mir. Ich habe mit ihr unter der T�re gesprochen. Es war ein sehr sch�ner Abend und ich sagte, ob wir nicht ein wenig spazieren gehen k�nnten. Wir gingen bis ans Tor aber da blieb sie stehen und sagte, sie m�sse heim. Ich wu�te nicht, was sie hatte. Sie weinte auch ein wenig.“

„Sie verstanden sie nicht mehr?“

„Nein.“

„Damals war sie schon sehr ungl�cklich!“ sagte Grau und nickte. „Verzweifelt war sie damals schon. Sie dachte, vielleicht kann er mir helfen, aber trotzdem sie schon ganz verzweifelt war, tat sie doch nichts Unehrenhaftes. Sie haben keine Unw�rdige geliebt, mein Freund. Aus all dem, was mir die Leute erz�hlt haben, konnte ich mir ein Bild von Fr�ulein Sammet machen. Sie h�tten wohl alles f�r sie getan?“

„Ja!“

Grau nickte. „Das ist sch�n von Ihnen und macht Ihnen alle Ehre. Halten Sie das Ged�chtnis der Toten hoch!“

Pl�tzlich nun zog Grau einen Ring mit einem winzigen blauen Stein aus der Westentasche und hielt ihn Hammerbacher dicht unter die Augen. Er sah den Burschen mit scharfen, eigent�mlichen Blicken an. Der Bursche sa� verbl�fft und sah fast erstarrt zu Grau empor.

Grau l�chelte unmerklich.

„Ich habe schon mit ganz anderen Leuten gesprochen,“ sagte er leise und lie� den Burschen nicht aus den Augen, „mit Verbrechern und M�rdern, aber sie konnten mir nicht auskommen, sie mu�ten die Wahrheit sagen. Und nun, haben Sie den Ring dem M�dchen gegeben? Sie wissen ja von welcher Bedeutung dieser Ring ist. Nun? Nein? Gut!“

Grau steckte den Ring wieder in die Westentasche, er l�chelte und klopfte Hammerbacher auf die Schulter. Er fuhr in ver�ndertem Tone fort: „Ich will Ihnen sagen, was ich denke, mein Freund. Wir brauchen kein Wort mehr �ber diese Angelegenheit zu sprechen. Ich habe das und jenes gesagt und gefragt um Sie zu pr�fen, um ganz sicher zu gehen. Sie sind unschuldig, absolut unschuldig. Fr�ulein Sammet h�tte sich ja auch nicht das Leben genommen, wenn Sie der Vater des Kindes w�ren. Es ist vielmehr so, irgend einer hat sie beschw�tzt, einer aus einer h�heren Schichte der Gesellschaft. Sie hat ihn geliebt, auch das wei� ich, ich sage Ihnen nicht, wieso ich es wei�. Und er, ein roher, ungebildeter Patron, hat das M�dchen auf dem Gewissen. Ich sah mir zum Beispiel auch Ihre Augen an, Herr Hammerbacher — aber das hat ja wenig zu sagen, ich k�nnte mich ja allein schon auf mein Gef�hl verlassen. Ihre N�he macht mich weder unruhig noch zweifelnd! Ich will Ihnen sagen, ich war fr�her Gef�ngnisprediger und Dutzende von Gefangenen haben mir geschworen, da� sie unschuldig seien. Sie haben geweint, sich fromm gestellt, wahnsinnig gestellt — man f�hlt aber nur zu deutlich was Wahrheit und was L�ge ist. Aber h�ren Sie, unter diesen vielen Dutzenden war einer, der wirklich unschuldig war. Sein erster Blick sagte es mir! Er sollte zehn Jahre absitzen wegen eines Verbrechens, das er nicht beging — er ist nun frei. Doch, das alles geh�rt ja nicht hierher, ich will Ihnen nur sagen, da� von meiner Seite nicht der geringste Verdacht auf Sie f�llt und da� ich alles tun werde, was in meinen Kr�ften steht, um Ihre Ehre zu verteidigen!“

Der Bursche verzog den Mund und zeigte seine gro�en schaufelf�rmigen Z�hne.

Grau stopfte die Pfeife und steckte sie in Brand. Er setzte sich Hammerbacher gegen�ber und sagte in vertraulichem Tone: „Nun sollen Sie mir aber einiges erz�hlen. Sie wissen ja, ich bin erst wenige Tage hier und weder mit den Verh�ltnissen der Stadt noch mit den Menschen hier vertraut. Ich bin nun nicht gerade neugierig — aber ich habe meine Gr�nde — die Unterredung bleibt nat�rlich ganz unter uns. Das versprechen Sie mir. Wo hat Fr�ulein Sammet zuerst gedient?“

„Bei einem Wirt in Weinberg.“

Grau stellte einige Fragen. „Und hierauf?“

„Bei Herrn Eisenhut.“

„Gut. Was f�r ein Mann ist das doch, dieser Herr Eisenhut, der Steinbruchbesitzer? Ist er nicht eine Art Sonderling, es scheint mir so.“

Herr Eisenhut erfreute sich keineswegs eines guten Rufes. Trotzdem er zw�lf gro�e Steinbr�che besa�, war er sehr geizig. Er hatte die merkw�rdige Angewohnheit, Holz- und Kohlenst�cke auf der Stra�e zu sammeln und seine Jagdtasche war stets gef�llt mit Tannenzapfen, wenn er von der Jagd zur�ckkehrte. Seine Dienstboten hielt er knapp und meistens besorgte er sein Hauswesen selbst, um Ausgaben zu ersparen. Man sagte ihm nach, da� sein Sinn f�r Reinlichkeit nicht besonders entwickelt sei. Zu all dem kam noch, da� er ein Trinker war und oft des Nachts auf allen Vieren nach Hause kroch; zuweilen war er auch am lichten Tage betrunken und taumelte durch die Stra�en, gefolgt von einer Menge Kinder, die Spottverse sangen. Seine Furchtsamkeit war bekannt, er konnte zuweilen nachts mit einem Revolver in der Hand durch sein Haus streichen.

„Er ist nicht verheiratet?“ fragte Grau.

„Ach nein!“ Hammerbacher lachte laut auf. „Keine mag ihn, trotzdem er so reich ist. Er hat auch einmal Margarete einen Antrag gemacht.“

„Unm�glich!“

„So wahr ich dasitze! Sie hat es mir selbst erz�hlt. Er sagte: Du sollst ein seidenes Kleid haben, eine Uhr, Ohrringe, einen Wagen und in acht Tagen wollen wir Hochzeit machen, diese Damen vom Tennisklub sollen vor Neid gr�n und blau werden.“

„Ah! Er hatte wohl schlimme Erfahrungen gemacht?“

„Er soll sich einen Korb geholt haben, ja. Aber auch Margarete mochte ihn nicht. Sie ging aus seinem Hause.“

Grau stand auf und ging ans Fenster. Wie merkw�rdig und wie einf�ltig, nun hatte ihn pl�tzlich ein Gef�hl der R�hrung ergriffen. Aber was in aller Welt sollte denn Ergreifendes an dieser Erz�hlung sein?

„Er hat wohl keine Freunde, Herr Eisenhut?“ fragte er endlich.

„Doch, er hat schon Freunde, die kommen zu ihm um zu trinken. Sie trinken oft die ganze Nacht hindurch bei ihm, das ist in der Stadt bekannt, sie schreien und br�llen bis zum Morgen. Wenn ich ins Schlachthaus fahre, gehen sie heim, sie sind dann alle betrunken und schreien und lachen. Sie hei�en sich: ‚Der goldene Zirkel‘.“

„Dazu ist er also nicht zu geizig? Wie soll man das verstehen?“

„Er schickt ihnen am andern Tag die Rechnung.“

„Tut er das?“

„Ja, Margarete hat immer die Rechnungen herumtragen m�ssen, aber sie haben nur gelacht und nie etwas bezahlt!“

„Was f�r Leute sind das, die bei ihm verkehren?“

„Das? Das sind immer die gleichen. Das ist ein Arzt, der Doktor N�rnberger, ein Jude, der dicke Professor Richter von der Realschule, ein Adjunkt von der Post, Kaiser hei�t er, dann der junge Herr von Hennenbach, vom Schlo�, Amtsrichter Leutlein, ein Rechtspraktikant Schmitt —“

„Nun ja, ja —“ unterbrach ihn Grau. „Die Herren sind wohl zumeist Junggesellen?“

„Ja, man kennt sie alle hier in der Stadt. Margarete hat mir genug von ihnen erz�hlt. Manchmal, wenn sie betrunken sind, da —“

Grau unterbrach ihn. „Ich will das nicht wissen,“ sagte er.

„Herr Eisenhut hat mir einmal f�nf Mark angeboten,“ fuhr der Bursche fort, „daf�r sollte ich die Herren alle durchpr�geln.“

Grau l�chelte.

„Ja, f�r f�nf Mark wollte er, da� ich mich zwei Monate einsperren lasse!“ Hammerbacher lachte. „Sie treiben oft ihre Sp��e mit ihm und da wird Herr Eisenhut rasend vor Zorn. Einmal da drohten sie ihm ihn zu erschie�en. Sie nahmen Gewehre und Revolver, die er hat, und Herr Eisenhut rannte in den Garten hinaus, aber sie umzingelten ihn. Er hat sie Diebe und R�uber genannt. Er schrie um Hilfe, da sagten sie, wenn du dich entschuldigst, so wollen wir dich diesmal noch laufen lassen. Aber du mu�t auch das Notizbuch herausgeben.“

„Was f�r ein Notizbuch?“

„Wo er hineinschreibt, was sie ihm schuldig sind. Dann hat er ihnen allen die H�nde k�ssen m�ssen und sie haben furchtbar gelacht. Am andern Morgen habe ich das Fleisch gebracht und Eisenhut hat mich gefragt, ob ich mir f�nf Mark verdienen will.“

„Sie haben aber abgelehnt?“

„Ja.“

„Vielleicht hatten Sie nicht den Mut dazu?“ fragte Grau und rauchte l�chelnd.

Der Bursche antwortete mit einem k�hnen Blick.

„Ich? — Oh, was das anbetrifft — aber ich riskierte zuviel.“

„Ein wenig Pr�gel h�tten die Herren wohl verdient,“ sagte Grau; „wenn Ihnen Herr Eisenhut aber hundert Mark angeboten h�tte?“

„Dann schon!“ sagte der Bursche und lachte.

Grau sah ihn an.

Er stand auf. „Ich darf wohl annehmen, da� Sie �ber unser Gespr�ch Stillschweigen beobachten,“ sagte er und gab Hammerbacher die Hand. „Ich danke Ihnen f�r Ihren Besuch und Ihr Vertrauen. Ich denke es wird das beste sein, Sie durch eine Notiz in der Zeitung von dem Verdachte zu reinigen, nicht wahr? Das w�re wohl das kl�gste und wirksamste. Guten Abend, Herr Hammerbacher! Eine Frage noch, erlauben Sie, Herr Eisenhut steht ganz allein, wie? Leben seine Eltern nicht mehr?“

„Sein Vater ist tot, er ist vor Geiz verhungert. Herrn Eisenhuts Mutter lebt noch, aber sie ist nicht richtig im Kopfe.“

„Wohnt sie bei Herrn Eisenhut?“

„Nein. Sie wohnt bei einer Lehrersfrau beim Bahnhof drau�en.“

„Sie wissen nicht wie die Lehrersfrau hei�t? Hei�t sie nicht L�wenherz?“

„Nein, ich wei� es nicht. Aber sie hat den Namen M�tterchen, weil sie so klein ist.“

„Ah, ja!“ rief Grau aus. „Herr Eisenhut wird wohl �fters hinaus kommen zu seiner Mutter?“

„Ja, ich sehe ihn oft hinausgehen.“

„Gut, danke Ihnen, mein Freund! Morgen werde ich die Notiz in der Zeitung bringen. Und vergessen Sie nicht, Herr Hammerbacher: Halten Sie das Andenken an Fr�ulein Sammet hoch!“

Grau schob nie etwas auf. Er setzte sich augenblicklich an den Tisch und warf folgende Notiz auf ein Blatt: „Der Fleischergeselle Herr Anton Hammerbacher hat sich auf dem Vikariate eingefunden und die Erkl�rung abgegeben, da� seine Beziehungen zu dem Dienstm�dchen Fr�ulein Margarete Sammet seit Jahresfrist vollst�ndig gel�st waren. Seiner Aussage ist unbedingter Glaube zu schenken. Grau, Vikar. —“

Nun wurde es Abend.

Zehntes Kapitel

Der Schnee im Garten drau�en leuchtete stahlblau, die Nacht brach schnell herein und mit ihr kam die K�lte, die kahlen B�ume begannen zu glitzern.

Grau gab sich dem sch�nen Gef�hle des Alleinseins hin. Er setzte sein Abendessen zu, Linsen, dann ging er wartend hin und her in seiner Stube und dachte an tausend Dinge. All diese vielen Menschen, die er in den letzten Tagen kennen gelernt hatte, welche Mannigfaltigkeit und welche Einheit trotzdem.

Die Linsen begannen zu duften. Herrlich! Welch wunderbare Produkte es doch auf dieser Erde gab, Linsen, N�sse, Erdbeeren, die Birne, die Weintraube. Man brauchte Stunden dazu sie alle aufzuz�hlen, nur um die Namen aller N�sse zu nennen, wie lange doch? Und schon von den Namen dieser Dinge geht ein Zauber aus, man sieht sie, man schmeckt und riecht sie, sie sind die Meisterwerke von Millionen gro�en Chemikern, jeder noch so unscheinbare Strauch hat gearbeitet mit aller Kraft, um seine Frucht herrlich zu bereiten in dieser Welt, da in die kleinsten Dinge der Wunsch nach Vollendung gehaucht ist.

Man spricht ja nur von den einfachsten Produkten, wie Eisenbahnz�ge und Schiffe sie in jeder Stunde �ber Kontinente und Meere tragen — Eisenbahnz�ge und Schiffsb�uche gef�llt mit Wohlger�chen, Farbenr�uschen und Formenwundern! Man spricht ja von nichts anderem, oder?

Spricht man hier zum Beispiel von den Steinen? Von den Kristallen, den Quarzen, den Topasen, Smaragden, Diamanten? Oder von Perlen, Korallen und Muscheln? Nein. Man kann ja nur an ein Ding denken, man kann ja nur in eine Richtung denken. Wenn man gleichzeitig in alle Richtungen denken k�nnte, in tausend Richtungen? Man hat zuerst an die N�sse gedacht, dann an die Diamanten, aber wenn man gleichzeitig an alle Dinge denken k�nnte? An die Steine, die Pflanzen, die Tiere und alle, alle Dinge zu gleicher Zeit? An die Muscheln, den Sand, die Palmen, die Kirschbl�te, die Orchidee, die Mammutfichte, den Seestern, den S�gefisch, die Wale, die Tiger und die Giraffen, an die Papageien und die Adler — an alles in seinem Wesen, seinem Charakter, seiner Form und Farbe, w�rde man nicht taumeln wie der Habgierige, auf den es Gold herabregnet?

Man spricht ja nur von den einfachsten und n�chstliegenden Dingen.

Und doch da drau�en existiert das alles, jetzt, in diesem Augenblick wehen die Palmenw�lder, die endlosen Fischz�ge ziehen durch die Flut, die Elefantenherden weiden, da und dort ist eine Insel, auf der sich Schw�rme von Paradiesv�geln sonnen, da und dort gl�ht jetzt eine Wiese in der Sonne und Tausende von farbenpr�chtigen Faltern schaukeln sich, an einem fernen Flu�ufer stehen Armeen von Flamingos, die W�lfe heulen im Schneefelde, in diesem Augenblick �ffnet die sch�nste purpurne Blume in irgend einem einsamen Gebirgstale den Kelch, einerlei wo, in dieser Sekunde funkelt der Gischt einer Woge im stillen Ozean in der Morgensonne — es ist sch�n das zu denken, es bet�ubt, berauscht. Hat man an alle Dinge gedacht, nein, nur an wenige. Hat man an die j�ngsten Gesch�pfe gedacht, die der Mensch selbst schuf? Die Geige, die sausenden Maschinen, menschliche Gehirne in Eisen, die gro�en Dampfer, die mit ihren Schrauben die Flut des Meeres peitschen? Es ist sch�n daran zu denken, es macht reich.

Aber man hat ja nur an die Oberfl�chen der Dinge gedacht, an das Sichtbare der Erscheinungen. W�rde man erst in die Dinge hineinblicken, wie? Schon wie Zelle sich an Zelle gliedert, wie das Blut in den Adern rollt. Der Gedanke allein macht schwindlig.

H�tte man auch das getan, h�tte man schon alles getan?

Man h�tte ja nur an das gedacht, was auf der Erde ist, an nichts anderes, nicht an den Raum, die Sterne, die Geheimnisse, die sich zwischen Wesen und Wesen spinnen, nicht an die ungesehenen Str�me, die in jeder Sekunde aus unendlichen Fernen fluten und das Menschenherz erbeben lassen.

Es ist ja gut, da� man nicht an alle, alle Dinge in einer Sekunde denken kann —

Die Linsen waren gekocht und Grau setzte sich zur Mahlzeit nieder. Es war sch�n, allein zu sein. Er konnte denken an was er wollte, an allt�gliche Merkw�rdigkeiten, zum Beispiel an den L�ffel, den Teller, an die Fliege dort auf dem Buche.

Drau�en erwachte ein leiser Wind und Grau lauschte auf ihn. Bald h�rte er ihn wie ein Ger�usch, bald unterschied er kleine Melodien, die immer wiederkehrten und doch nie dieselben waren. Wie merkw�rdig ist doch mein Ohr nur, dachte er. Etwas Merkw�rdigeres kann ich mir kaum denken. Wie eine Orgel, in die der Wind f�hrt, wie eine Geige, wie eine Trommel, was man will. Dazu habe ich zwei Ohren, aber weshalb wohl zwei? Ich habe zwei Augen um rund zu sehen, vielleicht habe ich zwei Ohren um rund zu h�ren? Sollte es das sein?

Grau l�chelte. Hat nicht jeder Punkt meines Leibes Augen und Ohren, sieht und h�rt nicht mein kleiner Finger?

Er lachte: Ah, ich denke f�r mich, ich spreche f�r mich, niemand schadet das etwas, das sind meine Gedanken und ich bin gerne bereit, die andern Leute zu vernehmen.

Meine Haare, zum Beispiel, welch geheimnisvolle Funktionen — genug!

Er winkte mit der Hand, als ob er jemand zum Schweigen auffordern wolle, und l�chelte. Dann machte er sich an die Arbeit.

Zu den M�rrischen und Griesgr�migen wollte er reden, zu den Kleinherzigen, Eng- und Kaltherzigen, den Armen, den Geizh�lsen und Ofenhockern. Es ist ja zuviel Armut in der Welt, meine Freunde, zuviel Geiz. Zuviel Zaghaftigkeit, Schw�che, Mi�trauen und Tr�gheit und Ha�! Zuviel Hader und Zank!

Da bist du zum Beispiel, du Kleinherziger! Wenn du allein bist, so ist dein Herz mit Liebe angef�llt, du denkst, das werde ich tun und jenes, das wird ihn freuen — sobald du aber einen Menschen siehst, so mi�f�llt dir seine Stimme oder sein Anzug und deine Seele zieht sich zur�ck wie die Schnecke in ihr Haus. Habe ich dich entdeckt, Kaltherziger! Ich halte dich fest! Du sollst ihn ansehen, er hat gelitten, er hat gewartet, ja siehst du nicht, da� er gewartet hat im Wachen und im Schlafen, da� jemand zu ihm spr�che, sich M�he g�be ihn zu verstehen.

Und du, Empfindlicher, der f�r jedes Wort empfindlich ist, das man ihm sagt, und so rasch die Laune verliert?

Und du, du Fauler, wie? Du bist dick und rund und deinem Gesichte sieht man die Gutm�tigkeit an. Eine Bettlerin pocht an deine T�re und fleht, ach, denkst du, ich habe mich eben ein wenig ausgestreckt, ich w�rde ihr ja gerne etwas geben, aber ich bin m�de, ich werde still sein und sie wird denken, es ist niemand zu Hause und wird fortgehen. Willst du denn dein ganzes Leben lang so faul bleiben? Sprich?

Die Menschen wu�ten ja nicht, welche Sch�tze in ihren Herzen lagen. Er war gekommen darin zu graben und die Sch�tze ans Licht zu heben.

Ein Mensch ohne Liebesf�higkeit, wie sollte er f�hig sein, die Sch�nheit zu empfinden — oder jenes Gr��te zu f�hlen, das Liebe und Sch�nheit einschlie�t und sich dem Menschen nur in seltenen, kostbaren Augenblicken offenbart?

Ja, wolle Gott ihm die Kraft verleihen, f�r die Griesgr�migen und Geizigen und Faulen die richtigen Worte zu finden! Was war es doch, das sein Herz so wild schlagen lie�, wenn er sich vorbereitete zu den Menschen zu reden, so wild, da� er stets glaubte, sterben zu m�ssen?

Bald war Grau in die Arbeit vertieft, und der Heilige an der Wand, dessen F��e sogar nachdachten, sah ihm zu.

Elftes Kapitel

Schon am n�chsten Tage machte sich Grau auf den Weg, die Lehrersfrau zu besuchen, bei der Eisenhuts Mutter wohnte. Es traf sich so g�nstig, da� er von dem Lehrer zu einem Besuche aufgefordert worden war.

Es war kalt, aber die helle Sonne schmolz den Schnee auf den D�chern und wo man ging, fielen einem langsame schwere Tropfen auf die Hand, den Hut, die Schultern. Vor allen H�usern waren Kinder, Frauen und M�nner besch�ftigt, das Eis aufzuhacken; in der ganzen Stadt hackte und pickte es lustig. Ein heller gleichm��iger L�rm erf�llte die Stra�en, fast wie ein Singen. Und unwillk�rlich begann Graus Herz mitzuklingen. Im ersten Stocke eines sch�nen alten Hauses blitzte ein Fensterspiegel und das war wie ein Winken, ein Gr��en und durchfuhr ihn wie ein Gru� des Lichtes von weither. Vor einer Schmiede stand ein Schimmel und Grau sah ihm einen Augenblick lang in die gro�en Augen, die wie zwei schwarze Zauberspiegel gl�nzten. Er streichelte die Schnauze des Pferdes und fl�sterte ihm ins Ohr und der Schimmel wandte sich nach ihm um, als ob er verstanden habe.

Die Stra�e machte eine Biegung und tauchte vollst�ndig in Sonne. Die Sonne blitzte in allen Fenstern, in all den Picken und �xten, in all den Tropfen, die langsam und schwer von den D�chern fielen.

Grau suchte sich seinen Weg zwischen den arbeitenden Leuten; er hatte eine eigent�mliche Art sie anzusehen, ihnen zuzul�cheln und in die Augen zu blicken. Was ist doch so sonderbar an den Menschenaugen, jener Schein, frage ich? Nun, sie haben alle Sonne, Mond und Sterne im Blut, das ist jener Schein, nicht wahr? Aber was ist doch jenes Leuchten in den Menschenaugen, jenes besondere Leuchten?

Grau nickte den kleinen Knirpsen zu, die arbeiteten, da� sie schwitzten, und als ein junges M�dchen mit halboffenem Munde an ihm vor�berging, starrte er das M�dchen beinahe erschrocken an. Das M�dchen knickste hastig und wurde rot. Ja, dachte Grau, etwas Sch�nes ist ein junges M�dchen, ob es nun Sommer oder Winter ist; die V�gel, die Bl�ten, Kinder und junge M�dchen, das ist alles ein und dieselbe Sache.

Er blickte dem jungen Ding nach und w�re beinahe �berfahren worden. Ein Jagdwagen fuhr rasch daher, der junge Freiherr von Hennenbach kutschierte.

Grau durchschritt den Torturm. Es war ein sch�ner Tag heute, das mu�te man sagen! Er atmete die frische Luft ein und f�hlte wie seine Augen klarer und sein Geist freier wurden. Es ist ja nur die Luft, dachte er, gro�er Gott im Himmel, nur die Luft, nichts als die Luft, die V�gel atmen sie, die B�ume und Menschen, aber was ist sie doch? Er blickte in die H�he, da glitzerte die Luft als sei sie aus kristallhellen Sternen gebildet. Die B�ume der Allee streckten ihre �ste zitternd in diese helle, sonnige Luft empor.

Vor seinen Blicken breitete sich die wei�e, weite Ebene aus. In ihrer Mitte lag der vom Rauch geschw�rzte kleine Bahnhof und aus einer Lokomotive, nicht gr��er als ein Kinderspielzeug, stieg feiner brauner Rauch empor. Der Schnee lag unber�hrt auf den Feldern, nur da und dort hatte der Wind mit ihm gespielt, ein Feld klippiger kleiner Berge gebaut oder Wellen und Schleifen in ihn gezeichnet. Er lag weithin wie schimmernder wei�er Samt, auf dem es glitzerte, als sei der Samt mit Brillanten bestickt. In der Ferne sah es aus, als beginne der Schnee zu brennen, farbige Feuerchen bewegten sich auf ihm hin und her; lichtes Gr�n, feuriges Rosa, Schwefelgelb.

Auf der Stra�e gingen drei junge M�dchen und ein hagerer, etwas schiefschultriger Mann, der ein B�ndel Schlittschuhe trug. Sie hatten es nicht eilig und gingen ganz langsam. Die M�dchen sprachen und lachten mit klingenden Stimmen und der schiefschultrige Mann, der in einem gelben abgetragenen �berzieher steckte, ein rotbraunes Halstuch und einen kleinen spitzen Hut trug, meckerte dazwischen und sprach in hastigen, abgerissenen S�tzen.

Zwei der M�dchen gingen Arm in Arm und waren ganz gleich gekleidet, ihre Haare waren von schlichtem deutschen Blond, auch ihr Gang war der gleiche; sie gingen beide als schritten sie auf einem Seil. Offenbar waren es Schwestern. Das M�dchen, das an ihrer Seite schritt, war etwas gr��er, freier in allen Bewegungen; sie trug den Kopf wie ein stolzes Tier im Walde. Sie war gekleidet in ein langes flottes Jackett aus seidenhaarigem Pelz, eine kleine Pelzm�tze sa� auf dem auffallend reichen, schwarzen Haar, das in einen lockeren Knoten gebunden war. Ein d�nner gelber Schleier flo� um die Pelzm�tze herum und flatterte lustig im Winde.

Grau sah wie sie sich dahin bewegten und etwas in der Art ihrer Bewegung ergriff ihn nahezu bis zu Tr�nen. Sie gingen mit der Seele der Frau, mit der schwebenden, wehenden Seele der Frau, die in die Weite strebt, wartet, sp�ht, lockt und hofft. Der Mann an ihrer Seite dagegen ging nicht, er schlich. Seine Seele war zusammengedr�ngt, gefesselt, er blickte in sich hinein, er war besch�ftigt mit sich selbst, ob er auch plauderte und lachte.

Grau holte die Gesellschaft ein und da der Weg nur zum Teil vom Schnee freigemacht war, mu�te er sich hinter ihr halten. Er h�rte, was sie sagten.

„Haben Sie die Geschichte von dem Manne geh�rt, der von der Doktorkutsche auf der Stra�e gefunden wurde, nachts, im Schnee?“ wandte sich das M�dchen mit den schwarzen Haaren an den Mann, der die Schlittschuhe trug. Sie sprach scharf, mit einem kaum h�rbaren fremden Akzent.

„Adele!“ sagten die Schwestern leise und l�chelten.

Der Mann mit den Schlittschuhen lachte meckernd. „J�,“ sagte er, „ich habe diese Geschichte geh�rt, nat�rlicherweise habe ich sie geh�rt — am andern Tag — aber ich kann schw�ren —“

„Schw�ren Sie besser nicht!“ fuhr das M�dchen fort. „Wie leicht h�tten Sie im Schnee erfrieren k�nnen.“

„J�, wie leicht h�tte ich im Schnee erfrieren k�nnen!“

„Sie sollten sich sch�men, ich an Ihrer Stelle w�rde mich sch�men.“

„Gewi�, Sie, ja Sie w�rden sich sch�men, Fr�ulein von Hennenbach.“

„Sie ruinieren sich auch. Sie sind ein ganz origineller Mann, aber vollst�ndig verwahrlost. Vielleicht sind Sie auch nur originell, weil Sie verwahrlost sind.“

Der junge Mann mit dem spitzen Hut lachte. „Wie geistreich!“ sagte er und l�ftete ein wenig den Hut, indem er ihn bei der Spitze mit zwei Fingern anfa�te und in die H�he hob. „Wie geistreich!“ meckerte er. „Wie geistreich!“

„Es ist nichts mit Ihnen anzufangen!“ sagte k�hl das junge M�dchen und wandte sich den Freundinnen zu.

Eine Weile blieb es still, dann begann sie von neuem: „Lassen Sie sich’s gesagt sein,“ sagte sie, „da� ich meinem Bruder nicht mehr erlaube, Sie zu besuchen. Sie treiben es zu toll bei Ihren Gelagen. Das ist ja die reinste Lasterh�hle. Vier N�chte nacheinander hat er mit Ihnen durchgezecht. Es wird auch Hasard gespielt, nicht wahr? Heute nacht hat er zweihundert Mark dabei verloren.“

„Was hat er verloren?“

„Zweihundert Mark. Er hat sie heute von mir verlangt. Wei� Gott, es ist unrecht von Ihnen. Nat�rlich mu� er bezahlen, wenn er sein Ehrenwort gegeben hat, aber es ist eine S�nde von Ihnen, er ist noch so jung.“

Der schiefschultrige Mann lachte laut heraus. „Aber es ist ja keine Silbe wahr von all dem, was Sie da sagen!“ rief er. „Keine Silbe, nicht eine einzige Silbe! Er war eine ganze Woche nicht bei mir, kein Mensch war bei mir. Wie kann er da zweihundert Mark verloren haben, wie denn? Ich habe nicht mit ihm gespielt, das schw�re ich Ihnen!“

„Schon gut! Sie werden es ja nicht eingestehen, Sie werden es leugnen. Das ist selbstverst�ndlich. Ich werde Ihnen aber die Polizei ins Haus schicken, mein Herr! Da� Sie es nur wissen. So wahr ich hier gehe, das werde ich tun. Es ist Ihnen doch bekannt, da� Hasard polizeilich verboten ist, nicht wahr?“

Der Mann rasselte mit den Schlittschuhen, warf dem M�dchen einen b�sen Blick zu, aber dann lachte er wieder. „Was Sie nicht sagen?“ rief er aus. „Ich bek�mmere mich nicht um die Polizei. Sehen Sie, ich stecke jedem eine Flasche Wein in die Tasche und dann gehen sie wieder. �brigens, Fr�ulein von Hennenbach, hat gerade Ihr Herr Bruder das Spiel eingef�hrt. Er brachte es von Monte Carlo mit.“

Es blieb einen Augenblick still, dann erwiderte das M�dchen: „Er war ja nie in seinem Leben in Monte Carlo, niemals!“

„Also hat er auch keine hundertundf�nfzigtausend Mark dort verloren, wie? Also l�gt er?“

„Er macht sich einfach lustig �ber Sie, das ist alles!“

Der junge Mann nahm den Hut ab und verbeugte sich. Er lachte.

„Herr von Hennenbach l�gt nicht!“ rief er aus. „Herr von Hennenbach machen sich einfach lustig. Er macht sich lustig, ja, das mu� man sagen, er l�gt nicht, er macht sich lustig. Er sagt, er habe zweihundert Mark im Spiel verloren und er hat drei Tage vorher mich um genau zweihundert Mark gebeten, da er sie brauche. Ich habe sie ihm aber abgeschlagen — rundweg — ich gebe nichts mehr, keinen Pfennig, ich habe die schlimmsten Erfahrungen gemacht in der letzten Zeit!“

Grau watete nun durch den Schnee und beschrieb einen weiten Bogen um die Gesellschaft. Hinter ihm meckerte der junge Mann, er r�usperte sich und rasselte mit den Schlittschuhen.

„Aber, nein!“ sagten die Schwestern vorwurfsvoll, und die junge Dame f�gte in scharfem Tone hinzu: „Was denken Sie doch —?“

Doch der junge Mann lachte nur. Er sagte laut: „Alle Welt macht sich �ber mich lustig — ergo — weshalb soll ich mich denn nicht auch ein wenig lustig machen, wenn es mir einf�llt! Wie? Bin ich etwas andres vielleicht als die andern Menschen? Ich erlaube mir das zu fragen! Man soll sich nur ein wenig in acht nehmen vor mir. Ich k�nnte eines sch�nen Tages einen Skandal heraufbeschw�ren und das w�re manchen Leuten nicht angenehm, nein!“ Er meckerte, aber er schien zornig zu sein.

„Sie sind ja ein ganz gef�hrlicher Mensch!“ sagte eine der Schwestern.

Fr�ulein von Hennenbach aber sagte kurz: „Tun Sie doch, was Sie nicht lassen k�nnen, aber lassen Sie mich mit Ihren Anspielungen gef�lligst in Ruhe!“

Darauf bat der Mann um Entschuldigung. Ein solch harmloser Mensch, wie er sei! Wenn er sich nur erlaube, zu scherzen —

Die Stimmen verloren sich. Grau war beim Bahnhof angelangt, blieb stehen und blickte sich um. Dem Bahnhof gegen�ber stieg der Wald an; eine H�tte, gef�llt mit Brettern, Leitern, Balken, lag am Wege, dort stand ein dicker, niedriger Turm mit leeren Fensterl�chern — ein alter Wartturm — aber von einem Wohnhaus war nichts zu sehen. Allein dieser Lehrer, dieser Lehrer L�wenherz, hatte er nicht gesagt: Gleich beim Bahnhof?

Die Gesellschaft holte ihn ein. Die M�dchen standen still, f�hrten fl�sternd eine Beratung, dann sagte eine der Schwestern: „Suchen der Herr etwas?“

Grau zog den Hut. „Ja, ich suche ein Haus,“ sagte er.

„Hier sind keine H�user,“ sagte der Mann mit den Schlittschuhen mit d�nner Stimme und l�chelte sp�ttisch. Grau hatte ihn schon gesehen. Er hatte ein gelbes Gesicht, einen kleinen Spitzbart und Mausaugen.

„Ja, hier scheinen allerdings keine H�user zu sein,“ sagte Grau und blickte umher. „Aber man hat mich hierher gewiesen — ich suche das Haus eines Lehrers, eines gewissen Lehrers L�wenherz!“

„L�wenherz?“

Die jungen M�dchen blickten einander an. Sie besannen sich und sch�ttelten die K�pfe. Die Schwestern sahen einander so �hnlich, wie zwei rotbackige �pfel auf einem Zweig. Man h�tte sie nicht zu unterscheiden vermocht, wenn nicht die eine ein kleines braunes Mal auf der Wange gehabt h�tte. Sie hatten frische, runde Gesichter mit roten Wangen, die etwas rissig von der K�lte waren, und nachdenkliche blaue Augen.

Fr�ulein von Hennenbach sah nicht so bleich aus wie neulich, als Grau in ihrem Hause vorsprach, ihre Wangen waren von einer feinen R�te �berzogen, aber ihre Augen erschienen um so klarer und heller. Sie waren nahezu wei�.

Der Mann mit den Schlittschuhen begann pl�tzlich zu kichern und zu lachen. Er streckte wichtigtuerisch die spitze Nase vor. „Es ist der Lehrer!“ rief er aus. „Sicherlich ist es der Lehrer. Er hei�t Lenz, mein geehrter Herr. L�wenherz! Was sagen die Damen dazu? Ein ausgezeichneter Einfall — L�wenherz!“

Fr�ulein von Hennenbach �ffnete erstaunt die Lippen. „Ah, Susannas Vater!“ sagte sie, und die Schwestern f�gten wie aus einem Munde hinzu: „Ach ja, Susannas Vater!“

„Ich erinnere mich, er sprach von seiner Tochter Susanna,“ sagte Grau.

„Das ist ganz in der Ordnung, er wohnt hier. Nur mu� man durch den Turm gehen, bis zur Br�cke. Der Herr hier hat im gleichen Hause zu tun.“

Sie gingen zusammen und schwiegen. „Ein sch�ner Tag!“ sagte Grau nach einer Weile. „Ja!“ antworteten die M�dchen wie aus einem Munde und sahen ihn alle an. Es war sch�n, wie sie alle die Gesichter zu ihm wandten, die au�en gehende mu�te sich etwas vorbeugen. Er sah in diese drei Paar Augen hinein. Aber es fiel ihm weiter nichts ein, was er den M�dchen sagen h�tte k�nnen.

Von der Br�cke aus konnte man ein kleines H�uschen im Felde liegen sehen. Dieses H�uschen lag ganz einsam, halb zugeschneit lugte es mit zwei tr�ben, kleinen Fenstern aus dem Schnee. Weit und breit war nichts zu sehen als Schnee, kein Baum, kein Strauch, nur einige Kr�hen bewegten sich langsam in einem Acker. Es lag da gleichsam ausgesto�en aus der Stadt, wie ein Siechenhaus, wie die H�tte des Abdeckers. Ein Zaun lief um das Haus herum wie ein Gitter, aus dem Kamin stieg ein Hauch von Rauch, den man nur mit scharfen Augen wahrnehmen konnte.

Dieses Haus sei es!

Grau nahm den Hut ab. „Ich danke, meine Damen!“ sagte er und verneigte sich vor den drei jungen M�dchen. „Bitte, bitte!“

Fr�ulein von Hennenbach blickte ihn an. Sie heftete ihre hellen, klaren Augen eine Weile auf Grau, dann sagte sie: „Wie sch�n Sie neulich gesprochen haben!“ Sie streckte ihm die Hand hin. Sie l�chelte, aber ihr Mund und ihre Z�ge blickten trotzdem ernst.

Die Schwestern l�chelten ebenfalls, Gr�bchen erschienen in ihren Wangen und ihre wei�en, kleinen Z�hne blitzten; sie richteten die Augen gro� und leuchtend auf Grau.

Grau verbeugte sich verwirrt. Er wagte kaum, die Hand des M�dchens zu ber�hren. Er err�tete und machte abermals eine verwirrte Verbeugung.

„Viele Gr��e an Susanna, viele Gr��e!“ riefen die M�dchen.

„Morgen kommen wir!“ setzten die Schwestern hinzu.

Der junge Mann lieferte die Schlittschuhe ab und ging an Graus Seite feldeinw�rts. Sie wateten bis an die Knie im Schnee. Grau ging wie ein Tr�umender.

Wie merkw�rdig, dachte er, wie merkw�rdig! Und unwillk�rlich wandte er sich nochmals nach dem M�dchen um. Nun f�llt es mir ein, wo ich dieses M�dchen schon fr�her gesehen habe. Ich ging einst im Traume mit ihr �ber die Heide — damals unter dem Sternschnuppenregen. Es sind dieselben Augen und besonders ihre Art, den Kopf zu tragen — wie merkw�rdig ist das Leben!

Er h�rte kaum, was sein Begleiter sagte, obwohl er sich aus mehreren Gr�nden au�erordentlich f�r ihn interessierte.

Zw�lftes Kapitel

Der Mann mit dem gelben Gesichte und den Mausaugen begann sogleich zu sprechen; er sprach hastig und nahezu ohne Pause, bis sie das H�uschen erreicht hatten. Er kicherte und h�stelte, w�hrend er sprach, und er sah Grau immerzu mit seinen blinzelnden Augen an. Aber jedesmal, wenn Grau ihm den Blick zuwandte, tat er, als suche er etwas im Schnee. Er kicherte, auch als Grau einmal im Felde ausglitt.

Vorhin hatte er mit gezwungener Keckheit gesprochen, nun aber sprach er mit unterw�rfiger, fast dem�tiger Stimme, nach der Art vieler M�nner, die ihr Benehmen vollst�ndig �ndern, sobald sie die Gesellschaft von Frauen verlassen.

„Sie erlauben wohl, da� ich Sie begleite?“ begann er und l�ftete den spitzen Hut. „Ja, ich habe geh�rt, auf welche Weise der Herr mit dem Lehrer zusammengetroffen sind, man hat es mir erz�hlt. Sie haben den Lehrer nat�rlich nicht gekannt, sonst w�ren Sie wohl etwas vorsichtiger gewesen. Ich mu� Ihnen leider sagen, da� man sich mit den Leuten hier in acht nehmen mu�. Sogar gebildete Herren, �rzte, Professoren, sie versprechen Ihnen das Blaue vom Himmel herunter und halten — nichts. Man kann hier Geld zusetzen, du gro�e G�te!“

„Kennen Sie Herrn Lenz?“ fragte Grau.

„Ja, und ob ich ihn kenne. Jedermann kennt ihn. Er kommt auch zuweilen zu mir, mitten in der Nacht kommt er angeschlichen. Er darf sich ja in der Stadt nicht blicken lassen.“

„Er darf sich in der Stadt nicht sehen lassen? Was hei�t das?“

Der junge Mann zog einen kleinen Zigarrenstummel aus der Tasche und steckte ihn in Brand. „Er hat den Stadtverweis, mein Herr!“ sagte er vergn�gt l�chelnd und paffte. „Auch seine Familie, seine Frau, seine Tochter, niemand darf die Stadt betreten.“

„Ja, was hat er denn Schreckliches getan?“ fragte Grau und blieb stehen.

Der junge Mann lachte meckernd. „Er hat,“ sagte er fl�sternd und kicherte — „er hat sie durchgepr�gelt! Die Polizeidiener zuerst und dann den B�rgermeister. Weil sie ihn entlie�en. Er war ja Lehrer hier in der Stadt.“

„Warum wurde er denn entlassen?“

„Oh, er machte Streiche. Er hat auch oft getrunken, mehr als er vertragen konnte. Einmal lag er am Morgen betrunken auf dem Marktplatze, gerade als die Sonne aufging. Ich mu� lachen, wenn ich nur daran denke! Denn ich habe ihn liegen sehen, bevor noch jemand kam, und gewartet und gedacht: Was f�r ein Spa� wird das werden! Er lag so komisch da, er lag da, als ob er eben einen gro�en Sprung machen wollte, so lag er da. Ich dachte, das wird einen h�bschen Spa� geben. Dann kamen die Leute, die Kinder kamen, die in die Schule gingen, Frauen, M�nner, aber er lag da und schlief, er war nicht wach zu bekommen. Was ich gelacht habe!“

„Deshalb also wurde er entlassen?“

„Nein, nein. Damals unterrichtete er das T�chterchen des B�rgermeisters, deshalb wurde er nicht entlassen. Auch seine Frau, die lief zum B�rgermeister, flehte und winselte, und deshalb lie�en sie es hingehen. Aber sp�ter. Er hatte so eigent�mliche Einf�lle und er machte Streiche �ber Streiche. Er sagte zu den Kindern: Heute ist keine Schule, es ist zu sch�nes Wetter, geht hinaus in den Wald. Das ist aber doch keine Schule, nicht wahr? Oder er hat ihnen keinen Unterricht gegeben, er hat ihnen tagelang M�rchen erz�hlt. Aber das tollste, was er gemacht hat, sehen Sie, das hat ihm auch den Hals gebrochen. Ja, er ging also mit der Klasse spazieren, er hatte die M�dchenklasse, an einem sehr hei�en Tag im Juni. Da kamen sie nun an einen Bach, es war sehr hei�, wie gesagt, und was meinen Sie nun, was er tat? Er sagte: Alle auskleiden! Nun, Sie k�nnen sich denken, das ging hui, hui, das kam den kleinen M�dchen gerade recht, sie kleideten sich aus und pl�tscherten alle drei�ig im Bach herum. Er, Lenz, er sa� dabei und lachte. Pl�tzlich aber kam der katholische Geistliche, der geistliche Rat — ein fetter — ein etwas korpulenter Herr — er kam — und so war es, der Lehrer mu�te gehen. Aber h�ren Sie, er ging nicht, er ging nicht!“

„Er ging nicht?“

„Nein, er sagte es, er sagte es zu mir. Ich werde nicht gehen, sagte er, ich lasse es darauf ankommen. Ich werde morgen Schule halten und werde sie hinauswerfen, wenn sie kommen. Tue das, sagte ich, welch einen Spa� wird das geben, einen unbezahlbaren Spa�. Er sagte auch, da� der B�rgermeister sich ein wenig in acht nehmen solle, au�erdem k�nne er Pr�gel fassen. Ja, tue es, tue es, sagte ich, das wird ganz unsagbar drollig werden. Du nimmst dich meiner Familie an, ja? Ja, sagte ich, du kannst ruhig sein. Und h�ren Sie, Herr, er tat es, er tat alles. Er hielt Schule und sie wollten ihn aus dem Schulhaus weisen, aber er pr�gelte die Polizeidiener durch, dann ging er ins Rathaus und pr�gelte den B�rgermeister durch — vor all den Schreibern —“

Der junge Mann lachte und hustete.

„Ich habe niemals mehr gelacht. Solch ein Mensch — er mu�te dann sitzen, lange, lange Monate, er verlor seine Stellung, sein bi�chen Verm�gen, alles, alles — h�h�h� — nun treibt er sich in der Welt herum und seine Frau und seine Tochter sie sitzen hier. Wir wollen hoffen, da� der Herr ihn antreffen.“

Sie n�herten sich dem H�uschen und Graus Herz begann eigent�mlicherweise zu pochen.

„Sie hat keine Pension?“ fragte er. „Die Frau?“

„Pension? Aber wieso denn Pension? Woher?“

„Hm. Sie hat auch kein Verm�gen?“

„Hahaha, nein. Verm�gen, um Gottes willen —!“

„Sie ist also arm,“ sagte Grau leise zu sich selbst. „Wie sagten Sie? Sie glauben also nicht, da� wir Herrn Lenz antreffen werden?“ f�gte er hinzu und blickte den Mann mit dem Spitzbart an.

Der Mann mit dem Spitzbart zuckte zusammen. „Nein,“ sagte er verwirrt, „ich glaube es nicht. Er bleibt immer nur da, bis ihn seine Frau zusammengeflickt hat, dann geht er wieder. Ich habe auch geh�rt, da� er in Weinberg in einer Wirtschaft alle Fenster eingeschlagen hat, nun wird ihm wohl der Boden zu hei� geworden sein. Vielleicht ist er da, wer wei� es? Er ist sehr am�sant und er kann deklamieren — was er doch alles im Kopfe hat! Er kann Ihnen ganze Theaterst�cke vorspielen. Er hat mir oft die ganze Nacht hindurch vorgespielt.“

„Sie lieben es wohl, ihm zuzuh�ren?“ fragte Grau l�chelnd.

„Warum?“

„Nun, ich meine nur!“ sagte Grau und l�chelte.

„Ja, ich liebe es!“ antwortete der Mann mit dem Spitzbart und err�tete ein wenig und blinzelte. „Er deklamiert oft die ganze Nacht bei mir, bis er zu lachen anf�ngt —“

„Zu lachen?“

„Ja, zuletzt lacht er stets f�rchterlich, so da� Sie Angst bekommen — dann wird er gef�hrlich — hier sind wir!“ Er �ffnete das Gartent�rchen und lie� Grau eintreten. Man h�rte keinen Laut hier au�en, auch das Haus lag ohne jedes Zeichen von Leben. Eine ganz besondere Stille und Einsamkeit herrschte hier und auch der Wind, der leise um die W�nde des H�uschens strich, schien ein besonderer Wind zu sein.

Der Mann mit dem gelben Gesicht klopfte an die Haust�re. Sie warteten und standen einander gegen�ber.

Grau sah sich seinen Begleiter aufmerksam an. Eigentlich war das Gesicht nicht gelb, es spielte in allen Schattierungen von Gelb bis Grau, gegen die Schl�fen zu ins Gr�nliche. Es war von tiefen Furchen durchzogen, die f�cherartig von den Augenwinkeln ausgingen und sich hart um den Mund eingruben. Diese Furchen waren grau und es schien als sei Schmutz in ihnen. Der Bart am Kinn sprang vor wie ein Gei�bart; seine Haare waren von unbestimmter Farbe, sie schienen feucht und klebend zu sein und waren grau an den Schl�fen, obgleich der Mann die Drei�ig kaum �berschritten hatte. Seine Augen waren leicht entz�ndet, klein und neugierig bewegten sie sich in dem getr�bten Wei� hin und her. Die Lider zwinkerten unaufh�rlich.

Dieses Gesicht verriet keinen bestimmten Charakter; Sch�chternheit, Keckheit, Demut und Hochmut, Habgier, Bosheit und Argwohn, alles konnte man in diesen Z�gen finden; aber Grau entdeckte ein Paar sch�ngezeichneter Lippen, die sich zusammenzogen und gleichsam hinter dem d�nnen Schnurrbart versteckten, der in feuchten, kurzen B�scheln �ber den Mund herabhing.

Ihre Blicke begegneten sich und pl�tzlich h�rte der Mann mit dem Gei�bart auf zu blinzeln; das Blut stieg ihm in die Wangen, als ob er tief erschrocken w�re, dann erbleichte er. Er griff hastig an den Hut und sagte mit kaum h�rbarer Stimme: „Eisenhut!“

Grau reichte ihm die Hand. Eisenhuts Hand war feucht und schlaff.

Eisenhut begann wieder zu blinzeln. Er legte sein gelbes Gesicht in Falten zu einem L�cheln, so da� man seine schlechten braunen Z�hne sah, und sagte: „Danke, danke, es ist mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Er sprach hastig, ruckweise, und man h�tte sagen k�nnen, auch seine Stimme blinzelte.

Die T�re �ffnete sich lautlos, und ein schm�chtiges M�dchen, eine Hornbrille auf der gro�en Nase, stand im Rahmen.

Dreizehntes Kapitel

Guten Tag, M�tterchen!“ sagte Eisenhut zu dem schm�chtigen M�dchen, das die T�re �ffnete. Er deutete auf Grau und f�gte geheimnisvoll hinzu: „Hier ist ein Herr vom Gericht, der etwas von Ihnen will!“

M�tterchen kr�mmte sich zusammen und lugte scheu durch die Brille, aber sie versuchte zu l�cheln.

„Keineswegs!“ rief Grau aus und zog den Hut und trat n�her. „Herr Eisenhut scherzt. Ich komme lediglich —“

Eisenhut lachte. „Nein,“ unterbrach er Grau, „haben Sie keine Angst, M�tterchen, es ist ein Herr, der Sie besuchen will, Herr Vikar Grau.“

Grau verbeugte sich und sagte, da� er so gl�cklich gewesen sei, Herrn Lenz kennen zu lernen, einen ausgezeichneten und interessanten Mann, Herr Lenz habe ihn zu einem Besuche aufgefordert.

M�tterchen �ffnete den welken Mund, ging ein paar kleine Schritte r�ckw�rts und verbeugte sich sch�chtern und m�dchenhaft. Sie war klein, schmal, h�ftenlos wie ein M�dchen. Mit den pechschwarzen Haaren und der gebogenen Nase sah sie wie eine kleine zusammengeschrumpfte J�din aus. Sie starrte mit gro�en fragenden Augen, die wie bestaubter schwarzer Samt aussahen, zu Grau empor, dann sch�ttelte sie langsam den Kopf.

„Sie haben ihn gesehen?“ fragte sie leise und singend, und ihre Stimme zitterte. „Er ist nicht hier!“ Sie sch�ttelte traurig den Kopf, dann f�gte sie ganz leise hinzu: „Er wird noch zu tun haben.“ Sie versuchte zu l�cheln.

„Ja, er wird noch zu tun haben, auf ein Haar!“ rief Eisenhut boshaft aus und ging hinein ins Haus.

M�tterchen stand ratlos, sie wu�te nicht, was sie tun sollte. Sie zog den verblichenen t�rkischen Schal enger um die schmalen Schultern und blickte Grau hilflos an.

Aber Grau ging nicht.

Er sah M�tterchen an, die T�re, das Haus, er blickte auf die matten dunkeln Fenster, er wandte den Blick wiederum auf M�tterchen.

„Wie fatal, wie fatal!“ sagte er, und es hatte den Anschein als wolle er gehen. Aber er ging nicht. Er sann nach, err�tete und begann pl�tzlich hastig zu sprechen. Ja, wie unangenehm es ihm doch w�re, den Herren nicht anzutreffen. Er habe sich so darauf gefreut mit ihm zu sprechen. Und vieles mehr.

„K�nnte ich nicht auf ihn warten?“

„Warten?“

„Ja, warten, auf ihn warten!“ wiederholte Grau und sah aus, als horche er in sich hinein. Er blickte wiederum auf das Haus, die Fenster, und f�gte hinzu: „W�re es nicht m�glich, da� er gerade jetzt k�me? Aber nat�rlich, im Falle ich st�ren sollte? Gewi� erscheine ich Ihnen zudringlich, Frau Lenz.“

„St�ren?“ M�tterchen l�chelte und sch�ttelte den Kopf. „Der Herr st�ren keineswegs,“ fl�sterte sie, „wenn der Herr mir die Ehre antun wollen?“ Sie trat zur�ck und forderte Grau mit einer linkischen, r�hrenden Verbeugung auf einzutreten.

„Die Ehrung ist auf meiner Seite!“ sagte Grau freudig und verbeugte sich ehrerbietig vor M�tterchen. „Wie liebensw�rdig von Ihnen, Frau Lenz!“

M�tterchen �ffnete eine T�re zur rechten Hand. Das erste, was Grau sah, als er in das von verbrauchter warmer Luft erf�llte Zimmer eintrat, war der am Boden hinhuschende Schein eines Feuers und zwei gl�nzende, gro�e Augen in einem fahlen, mageren Gesicht. Ein krankes, zwerghaftes M�dchen sa� in einem Lehnstuhle, eine Decke �ber den Knien. Sie heftete unausgesetzt die gro�en Augen mit einem forschenden, starren Blick auf ihn. Das also ist Susanna, dachte Grau, von der der Lehrer sprach. Unwillk�rlich wurde er kleiner, er duckte sich und sah nun nicht mehr so heiter aus.

„Hier ist ein Herr, Susanna,“ sagte M�tterchen leise. „Herr —?“

„Grau!“ Grau l�chelte. Er ging auf die Kranke zu und begr��te sie. Sie legte ihre kleine gelbe Hand in die seinige, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von ihm zu wenden. Sie machte auch einen Versuch aufzustehen, aber Grau erlaubte es nicht.

„Wie sch�n!“ sagte Susanna. „Seien Sie herzlich willkommen. Es ist so selten, da� uns jemand besucht, so da� es mir stets wie ein Traum erscheint. Ach, M�tterchen, gib dem Herrn einen Stuhl.“ Graus Herz begann zu pochen, als Susanna zu sprechen anfing.

Susanna sprach mit einer hohen d�nnen Stimme und sehr leise. Wie M�tterchen so sang auch sie beim Sprechen ein wenig, aber ihre Stimme schien gleichsam durch eine Wand zu kommen. Ihre Augen aber gl�nzten wie schwarze Spiegel, w�hrend sie sprach, und sie sahen ihn unausgesetzt an. Die Lider schienen nicht zu zucken. Sie sah gealtert aus und doch sah man, da� sie jung und noch nicht zwanzig Jahre alt war. Sie hatte ein Gesicht wie ein seltsamer Vogel. Ihr Hals war d�nn und gelb und zwei schmale Sehnen hielten den kleinen, abgemagerten, vorgebeugten Kopf. Die Augen lagen tief und f�llten die ganzen Augenh�hlen aus. Die Haare waren schwarz und glatt �ber der niedrigen Stirne gescheitelt, zwei d�nne, straffgeflochtene Z�pfchen hingen �ber die Ohren herab, in denen sie Ringe mit langen silbernen Quasten trug.

Grau bestellte die Gr��e, die ihm die M�dchen aufgetragen hatten, und erz�hlte, welcher Zufall ihn hierher bringe.

„Die Schwestern werden Sie morgen besuchen,“ f�gte er hinzu.

Susanna l�chelte ein wenig. Es war ein kleines, gl�ckliches L�cheln, das nur m�hsam den langen Weg vom Herzen bis zu den Lippen zu finden schien. „Danke!“ sagte sie und blickte Grau an. „Ich habe auch schon von Ihnen geh�rt, Herr Grau,“ f�gte sie hinzu, „und ich habe gew�nscht Sie zu sehen — und nun sind Sie hier. — Wie eigent�mlich ist doch das? Aber noch merkw�rdiger ist es, da� ich mir gedacht habe, das mu� Herr Grau sein, der mit Herrn Eisenhut �ber die Wiese kommt. Nicht wahr? Ich f�hlte es. Ich wei� nicht warum.“ Sie sah Grau abermals aufmerksam an und drehte den Kopf etwas zur Seite, wie um besser seine Augen sehen zu k�nnen.

„Das ist eigent�mlich!“ sagte Grau l�chelnd. „Und doch hat jeder Mensch das so und so oft erlebt. Zum Beispiel als ich hier ankam, sah ich im Friedhof einen Herrn und als ich sp�ter von Herrn Eisenhut reden h�rte, wu�te ich, da� er jener Herr sein m�sse, er und kein anderer.“

„Er war es auch?“

„Ja.“

„Merkw�rdig. Vielen Dank f�r die Gr��e, Herr Grau. Ich sah sie alle f�nf �ber die Br�cke gehen. Es waren die Schwestern Sinding von der Buchhandlung, sie sind Zwillinge, Klara und Maria Sinding. Sie sollten sie kennen, so gut sind sie, so treu und schlicht. Und dann war ja auch die andere dabei, nicht wahr?“ Susanna blickte fragend in Graus Augen. „Haben Sie die andere gesehen?“

„Fr�ulein von Hennenbach?“

„Ja, ja, ja! Haben Sie sie genau angesehen? Wie hat Sie Ihnen gefallen?“ Sie l�chelte.

Sie war so gelb, so w�chsern, so h��lich mit ihrer Hakennase, den eingefallenen Wangen und der niedern Stirn, aber sobald sie l�chelte, sah man all das nicht mehr, man sah nur das L�cheln; es verzauberte ihre Wangen, da� sie jung und s�� wurden, ihre Lippen kr�uselten sich und enth�llten eine Reihe schneewei�er Z�hne, die Augenbrauen zogen sich ein wenig an der Nasenwurzel in die H�he, der Glanz ihrer Augen ver�nderte sich. Wenn sie darauf sprach, so war das L�cheln gleichsam in ihrer Stimme, sie wurde sanfter und singender. Mit dieser l�chelnden Stimme wiederholte sie: „Nun, wie hat sie Ihnen gefallen?“

„Wie sch�n sie doch ist!“ sagte Grau und l�chelte ebenfalls.

Susanna nickte ein paarmal. „Ja, wie sch�n sie doch ist!“ sagte sie. „Sie ist ber�ckend sch�n, ja! Wenn die zu mir kommt — und sie scheut sich nicht zuweilen zu mir zu kommen, so stolz sie auch ist, wir sind Schulfreundinnen, m�ssen Sie wissen — wenn sie nun eintritt in das kleine Zimmer hier, so ist es mir, als w�re es Mai, Mai, und ich f�hle mich gesund und stark und so reich werde ich pl�tzlich im Herzen. So sch�n ist sie! Ich liebe sie! Wie stolz sie geht! Ganz anders wie andere Menschen! Wie langsam sie den Kopf bewegt! Ich liebe es sch�ne Menschen zu sehen, ich liebe es, man f�hlt sich selbst sch�n bei ihrem Anblick. Ich liebe Adele besonders. Wenn ich ein Mann w�re, so w�rde ich nicht eher ruhen, als bis sie mich wiederliebte. Nun es waren ja auch alle M�nner der Stadt in sie verliebt!“

Grau l�chelte. „Jetzt nicht mehr?“ fragte er.

„Freilich, aber sie h�ten sich wohl es laut werden zu lassen,“ fuhr sie geheimnistuerisch fort, „denn sie hat sich �ber alle, alle lustig gemacht. Sie hat in Gesellschaft wieder erz�hlt, was sie zu ihr sagten — nun, das war ja vielleicht nicht recht von ihr — sie haben es alle wieder h�ren m�ssen, und dann — dann sagen sie auch, sie lege es darauf an, jeden Mann an sich zu ziehen — aber das ist ja immer so — auch er“ — sie fl�sterte und deutete auf die T�re — „auch er, Herr Eisenhut, ist verliebt in sie, auch er!“

„Also deshalb!“ sagte Grau, und Susanna sah ihn fragend an.

„Susanna!“ sagte M�tterchen. „Wenn er es h�rt!“ Sie warf einen �ngstlichen, argw�hnischen Blick auf Grau.

Susanna lachte leise und hustete. „Wie sollte er es h�ren k�nnen, M�tterchen, er kann es nicht h�ren und wenn er das Ohr an die T�re legt — Herr Grau wird ihm nichts verraten, du solltest dir deine Leute doch ansehen. Aber der Herr steht ja immer noch, M�tterchen, siehst du es nicht? Ach, nicht diesen Stuhl, mein Herr, er ist nicht fest auf den Beinen.“

M�tterchen hatte sich abgem�ht einen gro�en Lehnsessel herbeizuschleppen und wartete bis Grau Platz nehmen wolle. Grau dankte und lie� sich nieder. Der Stuhl war alt und knarrte, einen Augenblick lang glaubte Grau bis auf den Erdboden zu sinken. Aber schlie�lich sa� er und es sah aus, als ob er nicht tiefer sinken sollte. Nun stand M�tterchen wieder wartend in der Ecke; in das Tuch geh�llt, mit der Brille sah sie wie eine Eule aus.

Susanna l�chelte, blickte auf ihre gelben kleinen H�nde und blickte wieder auf Grau.

„Aber das ist es ja nicht allein, da� sie so sch�n ist!“ fuhr sie fort. „Es ist noch etwas anderes.“

„Sie ist gewi� sehr eigent�mlich.“

Ja, ob er das gefunden habe?

„Ich glaube, man kann es recht gut an ihren Augen sehen,“ sagte Grau, der Susanna unausgesetzt in die Augen blickte.

„Nicht wahr! Ja, sie ist so eigent�mlich. Sie ist wie eine Fremde und hat eine ganz andere Seele als wir andern alle. Es ist so schwer sie zu kennen, und niemals kennt man sie ganz, denn immer kommt etwas Neues zum Vorschein. Man kann nie wissen, was sie f�hlt. Sie ist so verschlossen. Sie scheint sich weder zu freuen, noch scheint sie zu leiden, ja manchmal k�nnte man glauben, sie habe gar kein Herz. Aber sie ist ja nichts als G�te, nur ist sie ganz anders gut als andere Menschen. Sie ist auch sehr mutig, unerschrocken und kaltbl�tig. H�ren Sie, als es gebrannt hat im Schlo� — Herr Grau haben wohl geh�rt von dem Brande —“

„Ich habe die Brandst�tte gesehen.“

„— was denken Sie, was sie tat? Sie ging beim ersten Alarm zu ihrer Mutter ins Schlafzimmer und gab ihr ein Schlafpulver in Zuckerwasser. Denn die Mutter Adeles ist leidend und w�re wohl vor Schrecken gestorben. Die Mutter hat es selbst den Schwestern Sinding erz�hlt. Ist das nicht bewundernswert?“

„Solch ein Gedanke!“ sagte Grau. „Wie rasch sie denkt!“

„Ja, so rasch denkt sie! Der G�rtner bemerkte das Feuer zuerst, er ging leise zu den Leuten und weckte sie, auch Adele. Sofort ging sie nun zu ihrer Mutter. Auch dann, w�hrend des Feuers, blieb sie so ruhig und gefa�t und gab an, was man tun sollte. Alle Leute hatten den Kopf verloren, auch die Feuerwehrm�nner. Es brennt so selten hier, das ist der Grund.“

„Wann war denn der Brand?“ fragte Grau.

„M�tterchen, wann war es wohl?“

M�tterchen sagte: „Mitte August!“

„Und wie entstand das Feuer? Es hat ja einen ganzen Fl�gel zerst�rt, nicht wahr?“

Das wisse niemand. Susanna sch�ttelte den Kopf. „Niemand wei� es,“ sagte sie. „Ja, es hat einen ganzen Fl�gel zerst�rt und gerade den, der nicht bewohnt war. Kein Mensch wohnte darin, kein Dienstbote, niemand.“

„Welch ein Gl�ck!“

„Ja, nicht wahr! Man hat wochenlang von nichts anderem gesprochen. Vielleicht war es ein Racheakt. Aber man wei� es nicht. Sie dachten an ein Dienstm�dchen, das nicht richtig im Kopfe ist und das die Herrschaft entlie�. Aber dieses Dienstm�dchen war zu einer Hochzeit verreist, also konnte auch sie es nicht getan haben. Das Feuer mu� von selbst entstanden sein.“

„Von selbst?“ Aber ein Feuer k�nne doch nicht von selbst entstehen? Grau sch�ttelte den Kopf.

„Doch, ganz von selbst! Durch Wolle oder Vorh�nge oder irgend etwas. Es war furchtbar f�r die Familie. Denken Sie nur, all die alten kostbaren M�bel und Bilder, die verbrannt sind. Aber das ist es nicht allein. Sie m�ssen wissen, da� die Hennenbachs sich seit Jahren in Schwierigkeiten befinden. Oh, denken Sie doch, solch ein feines Haus! Der Freiherr war Major und ist ein Leben gro�en Stils gew�hnt, der Sohn, was er Geld brauchen mag —“

„Der Sohn?“ unterbrach sie Grau.

„Ja,“ erwiderte Susanna ein wenig �berrascht. „Kennen Sie ihn?“

„Ich habe ihn ganz fl�chtig kennen gelernt,“ antwortete Grau. „Was ist das f�r ein Mensch, ich interessiere mich f�r ihn.“

„Das? Ach, er ist ein sehr liebensw�rdiger junger Mann, aber ein wenig — ein wenig —“

Grau l�chelte. „Nun?“

M�tterchen in der Ecke sagte: „Er ist ein Leichtfu�!“

Susanna lachte leise: „Aber wie kannst du das doch behaupten, M�tterchen! Nun, ja, er ist ein wenig leichtsinnig, Herr Grau. Und er ist verschwenderisch. Die ganze Familie gibt das Geld leicht aus. Auch Adele braucht viel Geld, ja, sie wirft das Geld zum Fenster hinaus, kann ich Ihnen sagen. Und nun brach das Feuer aus! Sie waren hoch versichert.“

Susanna blickte Grau lange an. „Denken Sie, wie b�se die Menschen sein k�nnen! Sie wissen, was ich meine!“ Susanna ballte die F�uste.

„Ja,“ sagte Grau; „es ist �brigens recht gut m�glich, da� das Feuer von selbst entstanden ist,“ f�gte er hinzu, „durch Wolle, Sp�ne oder irgend etwas.“

Susanna l�chelte. „Aber h�ren Sie, es war doch ein Gl�ck dabei. Ja, ein gro�es Gl�ck. N�mlich er, der Major, er wollte keine Versicherung mehr bezahlen. Auch die Freifrau nicht. Der Beamte der Gesellschaft unterhandelte mit ihnen und da warf sich Adele ins Zeug und sagte, man m�sse versichern. Die Freifrau hat es den Sindings-M�dchen erz�hlt. Wie gut, da� wir Adele nachgegeben haben, sagte sie.“

„Das war allerdings Gl�ck im Ungl�ck!“ sagte Grau.

„Aber ich wollte ja von Adele erz�hlen, wie eigent�mlich sie ist,“ fuhr Susanna fort. „Denken Sie, sie hat keine Miene ger�hrt, als das Feuer ausbrach und niemals dar�ber gesprochen. Sie war der einzige Mensch in der Stadt, der nicht davon sprach, es war gerade, als ob nichts geschehen w�re. Auch den gl�cklichen Umstand, da� gerade sie es war, die auf die Erneuerung der Versicherung drang, lie� sie unerw�hnt, zu keinem Menschen sprach sie davon. Auch als sie sich verlobte — sie hat sich mit einem Baron Kirchgang verlobt, aus einer sehr reichen und feinen Familie — ja, da hat sie ebenfalls keine Miene ger�hrt. So eigent�mlich ist sie. Manchmal scheint es als ob sie aus einer andern Welt sei.“

Grau blickte Susanna an. „Vielleicht ist sie es auch, nicht wahr?“

„Wie?“

„Vielleicht ist sie aus einer andern Welt,“ sagte Grau mit eigent�mlichen L�cheln.

„Ich verstehe nicht?“ sagte Susanna gespannt.

„Nun, vielleicht ist sie aus einer andern Welt als der Erde. Weshalb sollte das nicht m�glich sein?“

„Ja, wieso sollte es m�glich sein?“ fragte sie.

Grau zuckte die Achseln. „Ja, wieso sollte es nicht m�glich sein?“ fragte er.

Susanna sah ihn lange an, sie l�chelte verwundert, dann sch�ttelte sie leise den Kopf und wandte den Blick dem Fenster zu. Der Schnee schimmerte auf den Feldern.

„Ich werde jetzt mit Herrn Eisenhut reden, Susanna,“ sagte M�tterchen leise und wandte sich langsam der K�chent�re zu.

„Ja, tue das. Stelle es ihm vor, M�tterchen, nicht wahr? Du wei�t ja, er hatte noch immer ein Einsehen.“

„Ja,“ sagte M�tterchen kleinlaut. Dann wandte sie sich an Grau. „Der Herr m�ssen mich einen Augen — blick ent — schuldigen —“

„M�tterchen ist sehr scheu,“ fl�sterte Susanna. „Sie kann nicht sprechen, aber sie f�hlt. Ich m�chte Sie auch bitten, nicht vom Vater zu sprechen in ihrer Gegenwart. Sie leidet so. Er war hier, ich wei� es. Ich sah ihn zum Fenster hereinblicken, in der Nacht, und am Morgen, da sah ich die Fu�spuren im Schnee. M�tterchen hat nichts gemerkt, das ist gut. Sie geht umher und denkt an ihn, aber sie spricht nichts. Manchmal, wenn es st�rmt, beginnt sie zu weinen. Es ist solch schlimmes Wetter, sagt sie. Sonst nichts. Aber ich wei�, da� sie meint, Vater k�nnte drau�en sein. So ist sie. Manchmal — ach, nicht oft — vielleicht zwei-, dreimal im Jahr, da sagt sie: ‚Wenn er doch einen Brief schriebe!‘ Dann kann sie nicht mehr schweigen, dann mu� sie von ihm sprechen. Vater kommt so selten — so selten! Er hat eine unruhige Seele, aber er ist der allerbeste Mensch von der Welt.“ Sie hielt inne und lauschte gegen die T�re, hinter der man Stimmen h�rte, sie zitterte ein wenig, dann sagte sie: „Ich hoffe, Sie werden noch ein Weilchen dableiben, Herr Grau, nicht wahr?“

„Mit dem gr��ten Vergn�gen,“ sagte Grau. „Ich liebe es, Ihnen zuzuh�ren. Aber ich mu� meinen Mantel ablegen d�rfen.“

„Nat�rlich, nat�rlich! Oh, denken Sie, wie ich mich gesehnt habe, mit jemand zu sprechen.“

„Verzeihen Sie einen Augenblick,“ unterbrach sie Grau, „da wir vorhin von dem jungen Herrn von Hennenbach sprachen — er ist wohl Student?“

„Ja. Weshalb?“

Grau l�chelte. „Ich kann nicht verstehen, da� er hier ist, wenn er doch Student ist. Er lebt wohl immer hier bei seinen Eltern?“

„Ja. Er ist seit zwei Jahren an der Universit�t eingetragen, aber er war noch nie dort.“

„So, so. Er lebt also immer hier?“

„Ja, ja. Ich verstehe nicht —“

„Oh, bitte, es ist nur eine kleine Neugierde — aber sprechen Sie doch nun, bitte, Fr�ulein Lenz!“

Susanna l�chelte, sah Grau an und fuhr fort: „Ja, ich freue mich, sprechen zu k�nnen. Ich f�hre zuweilen lange Gespr�che mit mir selbst, ich spreche zu meiner Seele und meine Seele spricht zu mir. Und nun wei� ich ja nicht, wovon ich anfangen soll. Und denken Sie, wie ich mich gesehnt habe, einen fremden Menschen, einen neuen Menschen zu sehen!“

„Warum gerade das?“ Grau r�ckte den Stuhl n�her heran.

Susanna kicherte. „Sie werden vielleicht lachen!“ sagte sie mit hoher Stimme. „Aber, nein, Sie werden es wohl verstehen. Ich liebe es, ein neues Gesicht zu sehen. Es ist mir fremd und gibt mir zu denken. Und ein neuer Mensch, h�ren Sie doch, was hat er alles gesehen und geh�rt! Die Menschen, die in unser Haus kommen, was haben denn die gesehen? Sie haben die Stadt gesehen, den Wald, die D�rfer ringsumher, alle Gesichter, die auch ich gesehen habe, alles, was sie gesehen haben, das kenne auch ich. Aber ein neuer, ein fremder Mensch! Er hat so viele St�dte gesehen, ferne St�dte mit wunderlichen H�usern und T�rmen, und obwohl ich ja das nicht sehen kann, so ist es mir doch, als br�chte er all das mit. Er hat fremde Menschen gesehen und mit ihnen gesprochen, all das scheine ich auch zu erleben, wenn er zu mir kommt. Er hat gesehen, wie sie k�mpfen da drau�en um all die neuen Ideen — all das f�hle ich. Er hat Musik geh�rt, gro�e Werke, gro�e K�nstler, das alles bringt er mit zu mir herein. Er ist ein Erlebnis, denn all die Zeitlang, die ich nun hier sitze oder liege — es ist ein Jahr und noch ein halbes dazu — habe ich nur sechs verschiedene Menschen hier bei mir gesehen — ja, sechs waren es.“

„Wie lange sind Sie denn schon leidend, Fr�ulein Lenz?“

„Es ist nun,“ sagte Susanna und blickte in die Weite, „es ist nun vier Jahre. Aber erst die letzten Jahre ist es so schlecht, da� ich nur im Sommer noch ein wenig im Freien gehen kann.“ Sie l�chelte. „Trotzdem vergeht die Zeit sehr rasch f�r mich. Ja, mein Gott, wo kommen doch die Tage hin? Es ist so selten, da� ich mich langweile —“

„Wie gut das ist! Das ist gut!“ unterbrach sie Grau.

„So selten. Nur wenn es in meinem Kopfe leer wird, dann kann es geschehen, da� ich die R�schen der Tapete z�hle, oder die Tassen im Glasschrank, oder ausrechne wieviele Fingerbreiten wohl von hier zur T�rschwelle sein m�gen.“

„Jeder Mensch hat solche Augenblicke!“

„Ja, das mag sein. Es ist selten. Zuweilen ist es mir erlaubt zu lesen. Die Sindings bringen mir B�cher und Adele, die alle B�cher hat, die es nur gibt. Da lese ich dann. Diese Ideen! Ich liebe die Ideen, m�ssen sie wissen, die neuen! Ja, wie ganz anders er doch die Welt betrachtet, denke ich. Ich liebe die Dichter! Siehst du denn alle Menschen, von denen er spricht, sage ich zu mir. Siehst du sie? Manchmal sch�ttle ich den Kopf: Nein, sage ich, das ist nicht wahr. Aber ich liebe die Dichter! Ich liebe die sanften, die zuweilen in den B�chern zu singen anfangen, so da� sie sagen: Ja, wie sch�n, wie sch�n ist das doch! Ich liebe die grausamen, die von wilden Herzen reden. Ich sitze und denke dar�ber nach, all das ist so fern, so fremd, aber ich denke, von jeder dieser Personen hast du ein kleines Etwas, von jeder, sie m�gen schlecht oder gut sein.“

„Wie sch�n Sie das sagten!“ sagte Grau bewundernd und nickte.

Susanna fuhr fort: „Es ist schade, da� es mir verboten ist, viel zu lesen, denn sonst — ich w�rde ja Tag und Nacht lesen, ich tue alles leidenschaftlich, was ich tue. Aber dann kann ich ja dasitzen und zum Fenster hinaussehen. M�tterchen hat den Stuhl so gestellt, da� ich zur Br�cke sehen kann. Es kann nichts in die Stadt gehen, es kann nichts aus der Stadt kommen, ohne da� ich es sehe. Ist das nicht herrlich! Es ist nun so sch�n und spannend, dazusitzen und zu warten bis etwas kommt. Lange Zeit kann verstreichen, aber pl�tzlich — sagen wir — taucht der nickende Kopf eines Pferdes auf. Ein Pferd! sage ich zu mir, und ich sehe das Pferd noch, wenn es schon weit fort ist. Aber dann kommt eine B�uerin mit einem Korbe auf dem R�cken, oder es kommen Kinder. Ich denke, werden sie ins Wasser spucken oder nicht. Aber da haben Sie sie schon an der Br�stung — immer sehen Kinder interessante Dinge im Wasser — und sie m�ssen hinunterspucken. Auch ich mu�te es tun — auch Sie?“

Grau lachte. „Ja,“ sagte er.

Susanna fuhr fort: „Dann kommt die gelbe Postkutsche. Sie kommt in der Fr�he und kehrt sp�t am Nachmittage zur�ck. Ich freue mich, so oft ich sie sehe, denn sie kommt regelm��ig wie ein Freund. Es scheint auch, als sei ich pers�nlich mit ihr verkn�pft, sie ist wie ein Mensch! Ich mu� lachen, wenn ich sie sehe, und manchmal winke ich ihr auch. Abends kann ich sie jetzt nicht sehen im Winter, aber ich sehe, wie ein kleines Licht �ber die Br�cke kriecht. Dann sehe ich den Schnee. Er schmiegt sich wie heute, er ist wie Sand, wenn es kalt ist — er gl�nzt, wenn es getaut hat und Frost darauf folgte. Er bewegt sich, wenn der Wind weht, und manchmal da sieht es aus als tolle ein n�rrischer wei�er Pudel im Felde herum. Dann sehe ich die Wolken. Sie k�nnen mich froh und leicht machen, sie k�nnen machen, da� mein Blut schneller l�uft, da� mein Herz stockt, und es gibt solche, vor denen ich mich leicht verneige, so drohend stehen sie da. Dann sehe ich die Pappeln an der Br�cke. Sie sehen jetzt wie Besen aus, aber wenn es st�rmt, so flattern sie wie M�hnen, und sie scheinen f�rchterliche Angst zu haben. Fast immer sitzt eine Kr�he dort oben auf der Spitze, sie sitzt und lugt aus und pl�tzlich fliegt sie fort. Aber sofort ist eine andere da, die ganz genau aussieht wie die erste, man k�nnte glauben, es sei immer die gleiche. Wenn es dunkel wird, warte ich auf den ersten Stern. Ich warte auf den Mond. Sie sehen, so vergeht die Zeit, selbst im Winter gibt es so vieles zu sehen. Aber dann werde ich oft m�de und mu� die Augen schlie�en, und wissen Sie, was dann geschieht?“

„Dann tr�umen Sie!“

„Ja, dann tr�ume ich.“

„Was tr�umen Sie denn?“

Mannigfacher Art waren die Tr�ume Susannas. Am liebsten aber tr�umte sie Musik. Ja, wenn sie nicht m�de war, da tr�umte sie von Menschen; wie sie sprechen und denken und handeln, wie wunderlich sie sind; aber wenn sie zu m�de dazu war, so tr�umte sie Musik.

„Ich w�rde zu gern h�ren, in welcher Weise Sie das tun, Fr�ulein Lenz. Ich bin etwas neugierig, ich mu� es gestehen. Aber ich werde mich gewi� revanchieren, ich verspreche es Ihnen. Ich habe sehr viel erlebt und gesehen und das alles werde ich Ihnen erz�hlen. Aber vorl�ufig ist die Reihe an Ihnen.“

Susanna z�gerte eine Weile. Sie hatte gesprochen und gesprochen, wie es oft Menschen tun, die lange allein gewesen sind mit ihren Gedanken. Nun erinnerte sie sich pl�tzlich, da� Grau ein Fremder war. Sie l�chelte, aber Grau verstand es, ihr zuzureden.

Susanna blickte lange zur Seite, dann fuhr sie fort: „Es kann eine Abendwolke sein, die �ber den Himmel zieht und singt. Oder es kann sein — aber Sie werden es besser verstehen: Zuerst, da ist es eine kleine Melodie, das kleine Lied eines kleinen Vogels im Walde. Das ist die Fl�te! Und es ist ganz leise. Es ist der kleine Vogel, der singt, und sein Lied schmeichelt den B�umen. Sie beginnen sich zu wiegen und nun saust die Melodie des kleinen Vogels im ganzen weiten Walde. Das sind die Violinen! Sie wiederholen, sie ver�ndern die Melodie des kleinen Vogels, aber sie h�ren immer den kleinen Vogel singen. Pl�tzlich ist es wie ein Schreck, wie eine Warnung, das ist die Klarinette, die warnt, das ist die Trompete, die mit einem Sto� den Schreck hervorruft. Nun kommt der Sturm, die Pauken und die Ba�geigen, er jagt daher, der Wald braust und wiederholt klagend und furchtsam das Lied des kleinen Vogels. Der aber ist ganz still. Der Sturm greift den Wald an, um den Vogel zu vernichten, aber der Wald verteidigt ihn. Der Sturm und der Wald k�mpfen miteinander. Sie h�ren nur den kleinen Vogel lachen, denn er f�rchtet sich nicht, er verspottet den Sturm. Das macht den Sturm rasend, er w�tet gegen den Wald, aber endlich macht er sich grollend davon und die B�ume wiegen sich und sie h�ren den kleinen Vogel wieder wie am Anfang. — So �hnlich ist es, wenn ich Musik tr�ume. Haha, ich kann es ja nicht in Worten wiedergeben — aber so �hnlich ist es, Sie m�ssen es sich eben ausmalen.“

Grau zitterte. Ein eigent�mliches Zittern machte seinen ganzen K�rper erbeben.

„Sie frieren?“ sagte Susanna und richtete sich auf.

Grau gab sich M�he gegen das Zittern anzuk�mpfen, aber es half nichts. „Nein,“ sagte er und l�chelte, „ich friere nicht. Keineswegs. Ich hatte einmal Fieber, ich kam einem Fieberkranken zu nahe und daher r�hrt das Zittern. Seien Sie ganz unbesorgt und sprechen Sie ruhig weiter. Ich habe die Musik geh�rt, Fr�ulein Lenz, ich habe alle Instrumente geh�rt, so gut haben Sie das beschrieben! Welche Melodie aber hat der kleine Vogel gesungen? Ich habe mir eine fr�hliche, ein wenig kecke Melodie gedacht.“

„Fr�hlich und ein wenig keck, ja. Es war ja nur ein Beispiel, weil Sie es wissen wollten. Es kann auch sein, da� er traurig singt und es regnet, die Regentropfen singen dieselbe traurige Melodie, die Bl�tter, der Wind. Es mu� auch nicht gerade ein Vogel sein, es kann ein junges M�dchen sein, das man in einen sch�nen Garten eingeschlossen hat und das in der Sonne geht und singt.“

„Warum mu� das M�dchen gerade eingeschlossen sein?“

„Das wei� ich nicht. Aber ich f�hle es so. Es kann auch das Meer sein, das singt, oder Grotten oder eine Linde, in deren Zweigen Tausende von V�geln h�pfen.“

Grau sch�ttelte langsam den Kopf und Susanna sah ihn fragend an.

„Nun haben Sie sich verraten, Fr�ulein Lenz,“ sagte er, „Sie sind ja ganz au�erordentlich f�r Musik begabt. Sie komponieren ja im Kopfe!“

Susanna lachte leise und err�tete.

„Haben Sie auch schon als Kind solche Tr�ume gehabt?“

Ja, da hatte Susanna geh�rt, da� die Glocken nicht einfach l�uten, sondern ein Lied singen, auch das Wasser, das man in einen Krug laufen lie�, es sang.

„Da haben wir es!“ Grau lachte. „Sie m�ssen Musik von Grund auf studieren. Spielen Sie ein Instrument? Nein? Das schadet nichts; Sie m�ssen unbedingt ein Piano haben!“

Susanna h�rte ihm erstaunt zu, sie sah froh aus und sie l�chelte und sagte mit hoher Stimme: „Ich kann aber doch nicht spielen!“

„Das? Was das anbelangt — da seien Sie ganz au�er Sorge. Sie werden es sehr schnell lernen. Ich habe Ihre H�nde betrachtet, die Glieder der Finger sind so fein, so fein und voll nerv�ser Kraft, ja, sch�n sind Ihre H�nde, Fr�ulein Lenz. Oh, vergeben Sie mir, wenn das zu k�hn ist. Es f�llt mir nat�rlich gar nicht ein, Ihnen Schmeicheleien zu sagen, weder Ihnen noch sonst jemandem, nein, aber wenn etwas sch�n ist, warum soll ich es nicht beim Namen nennen — nicht wahr? Ja, Sie haben H�nde zum Klavierspielen, in einem Vierteljahr werden Sie schon ganz pr�chtig spielen — nach einem Jahr oder zwei Jahren aber ausgezeichnet. Ich erbiete mich, Ihnen Unterricht zu geben. Meine Kenntnisse sind gering, aber f�r den Anfang, da kann ich schon zu gebrauchen sein, sp�ter, da wird sich ja alles finden —“

Susanna h�rte ihm zu und l�chelte. Sie erwiderte nichts darauf, aber ihr Blick wurde pl�tzlich d�ster. Dieser Blick sagte: Ja, was spricht er denn von Jahren und Jahren, sieht er denn nicht, wie es um mich steht?

Dann sagte sie leise: „Sie sind gut, Herr Grau. Zuweilen da blicken Sie so streng, aber Ihre Augen sehen immer g�tig aus. Ich habe geh�rt, wie tatkr�ftig Sie sich der alten ungl�cklichen Frau Sammet angenommen haben — ich —“

Aber davon wollte Grau nichts wissen. Er lachte und sagte: „Das ist mein Privatvergn�gen. Es macht mir Freude, das ist es. Ich habe ja im Grunde genommen nichts f�r die Arme getan. Eine Kollekte, das war alles. Habe ich mit dieser alten Frau gelitten, habe ich sie etwa an die Brust gedr�ckt, ihren Scheitel, ihre Wangen gestreichelt, ihre Stirn gek��t, hat man etwas derartiges etwa erz�hlt? Wie? — Habe ich ihr Handreichungen getan, da sie vor Schmerz nicht wu�te wo aus und wo ein? Nein, all das habe ich nicht getan. Leider nicht. Es ist also nicht richtig, was Sie sagen. Ein Dame hier hat mir gesagt, ich h�tte bei der Beerdigung sch�n gesprochen. Ich habe mich gesch�mt. Sch�n! Ach nein, schlecht, ein paar armselige Worte habe ich gesagt und die Scheu vor all den Zuh�rern war gr��er als mein Mitgef�hl mit der ungl�cklichen Mutter. Sie sind also im Irrtum —“

Da kam M�tterchen ins Zimmer. Susanna wurde unruhig und sagte: „Es mu� heute sch�n drau�en sein, der Schnee ist so weich.“

M�tterchen sah niedergeschlagen und entmutigt aus. Sie hatte feuchte Augen. „Er hat nein gesagt!“ fl�sterte sie Susanna zu. Sie stellte eine Tasse neben Grau.

„Nein?“ jagte Susanna erschrocken. Sie blickte zu Boden, err�tete, dann setzte sie hinzu, indem sie M�tterchens Hand streichelte: „Ach, M�tterchen, du mu�t den Mut nicht sinken lassen. Du wei�t, er will gebeten sein, er lie� sich stets nach einigen Tagen erweichen.“

„Ja,“ hauchte M�tterchen hoffnungslos und go� Kaffee in die Tasse.

„Ja, was tun Sie denn!“ schrie Grau erschrocken und sprang auf.

„Ein T��chen Kaffee, wenn der Herr mir die Ehre antun wollen.“

Grau sah M�tterchen lange an, seine Augen gl�nzten. „Wie liebensw�rdig von Ihnen,“ sagte er und dr�ckte M�tterchen die Hand. „Ich breche in Ihr Haus ein, ich bin ein Fremder, das ist mir noch nie passiert, ich danke Ihnen!“ Er verneigte sich dankbar und setzte sich wieder.

Aber da war das Ungl�ck schon geschehen. Durch die K�chent�re n�mlich war ein freches braunes Huhn in die Stube spaziert und stolzte keck im Zimmer umher.

M�tterchen erstarrte vor Schrecken. „Da ist — nun — diese —“ Sie blickte starr und hilflos auf Grau. „Hsch, hsch — du ungezogene —“

„Putt — putt,“ machte Grau. „Ein sch�nes Huhn. Sie halten H�hner, Frau Lenz, seht an.“ Er blickte freundlich auf die Henne als sei sie ein Mensch.

„Ja, in der K�che — aber — der Herr m�ssen entschuldigen — mein ganzes Leben bin ich noch nicht so in Verlegenheit gebracht worden — wie mich diese ungezogene — hsch, hsch — Kreatur blamiert — Geh hinaus, Klatschbase.“

„Klatschbase, so hei�t sie,“ erkl�rte Susanna, „weil sie so viel gackert.“

Klatschbase segelte endlich gackernd und schreiend zur T�re hinaus, nicht ohne vorher zu zeigen, da� sie ein echtes Huhn sei. „O — o —“ hauchte M�tterchen, aber Grau hatte es gar nicht bemerkt. Er sprach mit Susanna. Da habe sie recht, ein sch�ner Tag sei heute. „In der Stadt hacken sie das Eis auf,“ sagte er. „Es kann nun nicht mehr lange w�hren, bis der Fr�hling kommt.“

Susannas Augen gl�nzten. Sie blickte Grau erstaunt und lange an.

„Nun?“

„Als ob Sie erraten h�tten, worauf ich warte!“ sagte sie langsam. „Denn die Wahrheit zu sprechen, ich sitze den ganzen Tag hier und warte auf den Fr�hling. Ich warte auf ihn, ich liebe ihn, mein Herz klopft, denke ich an ihn. Er ist mein Geliebter. Sie lieben ihn auch?“

Grau l�chelte. „Ja, wer liebt ihn nicht?“ sagte er. „Es gibt auf der ganzen weiten Welt nicht einen einzigen Menschen, der ihn nicht liebt, er kann noch so mi�mutig sein.“

Susanna fieberte bei dem Gedanken an den Fr�hling. Sie l�chelte und atmete tief. „Oft denke ich,“ fuhr sie fort, „ob es sich nicht jetzt schon r�hrt da drinnen in der kalten Erde, ob nicht die Keime schon ein wenig erwachen und sich dehnen, all die tausend, tausend Keime da drunten. Denn h�ren Sie, sie m�ssen sich ja jetzt schon dehnen, denn haben Sie nicht pl�tzlich schon ein Schneegl�ckchen im Walde angetroffen, wie? Also m�ssen sie wohl oder �bel jetzt schon beginnen, nicht wahr? Ich freue mich auf all das, was jetzt kommt, denn der Winter war doch recht lang. Wenn er schon kommt, der Fr�hling! Guter Gott, wie weht es doch! Er haucht! Man sp�rt es an der Schl�fe, vor allem an der Schl�fe, da haucht es, als ob ein warmer Mund hauche. Wie warm es haucht! Denken Sie daran, wenn Sie hinaustraten und dachten, ja, was ist dies pl�tzlich, so warm? Dann fassen Sie etwas an, einen Ast, er ist feucht, er klebt! Das ist, wenn er kommt.“

Sie schwieg. Dann, nach einer langen Weile sagte sie — und es klang wie ein frohes Seufzen: „Dann w�chst das Gras!“

Nein, dachte Grau, es klang nicht nur wie ein frohes Seufzen, nimmermehr wirst du das vergessen k�nnen, es klang wie eine Liebkosung, es klang wie ein Gebet. So eigent�mlich sagte sie es, da� er einen Schmerz in der Brust empfand, einen leisen Stich. Er sprach nichts, er war still und blickte auf Susanna.

„Dann regnet es und Sie lachen!“ fuhr Susanna fort. „Es regnet und Sie lachen! Ja, regne nur, regne nur, denken Sie und lachen, denn jetzt kommt er. Sie schlie�en die Augen und schlafen und Sie tr�umen, wie es sich regt im Lande, die Wolken, die Erde, die Luft, alles ist in Bewegung. Die Luft ist s�� wie Milch, das Wasser wie Wein, die Menschen sind freundlicher geworden. Im Walde da riecht es, der Schuh sinkt in den Boden, nasses, faulendes Laub. Dann kommt der erste Keim hervor, das erste Gr�n, die erste Blume. Kommen denn nicht die Tiere des Waldes zusammen, die Hasen und Rehe und Eichh�rnchen, Igel und F�chse, die Raben und die Marder, diese erste Blume zu sehen? Wie aber sieht es unter den Hecken aus! — Ja, wie sieht es denn da aus?“ rief sie und lachte. „Aber das ist ja alles, wenn er nur im Anzuge ist —“

Pl�tzlich fiel etwas vor dem Fenster drau�en herab, dann tanzte eine wei�e Flaumfeder herab, zwei, drei kleine Federchen folgten, nun fielen einige Flocken zu gleicher Zeit und dann so viele, als ob man H�nde voll Federchen in die Luft streue, die Luft war grau get�pfelt. Sie fielen immer dichter, sie wirbelten, tanzten, taumelten kreuz und quer, klebten an den Scheiben, und endlich schossen wei�e und graue Streifen durch die Luft und verh�llten den Ausblick. Es schneite ordentlich. Sofort wurde es dunkel im Zimmer und Susannas Augen gl�nzten aus einem fahlen ledergelben Flecken.

Susanna aber sah es nicht, sie sprach vom Fr�hling, den B�chen, den Wiesen, den Wolken, vom Himmel, diesem blauen schimmernden Fr�hlingshimmel! Glanz und Herrlichkeit —

„Sie gehen in den Wald!“ sagte sie fiebrisch. „Sie gehen hinein wie in eine Kirche. Die Buchen stehen da, na� und fleckig, sie haben Knospen wie gr�ne Bl�ten �berall, aber der Boden des Waldes ist von Anemonen gef�rbt. Sie kommen an einen Hang, der ist ganz gelb: Das sind die Schl�sselblumen, sie kommen �ber die Wiese, da steht das Schaumkraut, so blau, so duftig. Sie kommen an einen Bach, der ist golden ges�umt, das sind die Dotterblumen, mit einem Griff k�nnen Sie einen ganzen Strau� pfl�cken, sie sind so saftig und innen gl�nzen sie wie Schmalz. Das Gras w�chst und w�chst und w�chst, es wird immer l�nger, und wenn nun der Wind weht, so zittern die Gr�ser nicht mehr, sie schwingen sich, sie wiegen sich, ganze Wellen. Oft liege ich stundenlang hier und denke wie der Wind �ber die Wiese streicht und die Wiese gibt sanft nach. Wie sch�n w�re es, barf��ig im Grase zu gehen!“

Ihre Augen fieberten, ihre Wangen r�teten sich. Sie lachte und hustete.

„Du sollst solche Gedanken gar nicht haben,“ sagte M�tterchen.

„Ich meine ja nur,“ sagte Susanna. „Lieben Sie die Margareten, Herr Grau?“

„Ja,“ sagte Grau. „Sie sehen so besonders reinlich aus.“

„Reinlich! Ja, ich sehe sie vor mir, alle, alle, alle Margareten sehe ich vor mir! Ich liebe die Blumen, sage ich Ihnen.“

„Das kann ich wohl merken, Fr�ulein Susanna!“ sagte Grau. „Oh — verzeihen Sie mir die vertrauliche Anrede, sie kam ganz von selbst auf meine Lippen.“

Susanna verneigte sich in ihrem Sessel. „Das ehrt mich!“ sagte sie und sah Grau erfreut an. „Ja, ich liebe sie!“ fuhr sie fort und rang ein wenig die kleinen mageren H�nde. „Sie sind wie Kinder. So sch�n sind sie, so still und geduldig. Sie bl�hen auf und sterben, und niemand hat sie geh�rt, da� sie sich beklagten. Es scheint mir, die Menschen k�nnten viel von ihnen lernen. Dann tun sie auch niemand etwas zu leide, sie leben ja von Erde, Tau und Luft. Sie freuen sich, wenn die Sonne scheint, und wenn es Abend wird, da schlie�en sie die Kelche und stehen schlafend da. K�nnen Sie sich eine ganze Wiese oder einen Abhang vorstellen in der Nacht, alle Blumen haben die Kelche geschlossen und schlafen? K�nnen Sie das? Ich kann es, denn ich besch�ftige mich unausgesetzt mit solchen Dingen. Das alles habe ich von M�tterchen gelernt, nicht wahr, M�tterchen? Sie liebt die Blumen so sehr.“

Grau wandte M�tterchen den Blick zu, und sie sagte: „Fr�her, ja, fr�her da liebte ich sie.“

„Jetzt nicht mehr, aber —!“

Es g�be so manches, sagte M�tterchen, nahm die Tasse und ging hinaus. Sie kam mit der gef�llten Tasse zur�ck und stellte sie neben Grau hin, ohne ein Wort zu sagen.

„Nein, aber ich protestiere!“ sagte Grau.

„Wenn der Herr mir die Ehre antun wollen —“

Susanna aber fuhr fort vom Fr�hling zu sprechen. Drau�en schneite und wehte es, aber sie sah es nicht. Sie sah wie die Blumen im G�rtchen drau�en wuchsen, all die Nelken, Tulpen, Rosen und dieser Flieder von einer ganz seltenen bla�blauen Farbe. Februar, M�rz, sagte sie, und z�hlte die Wochen an den Fingern ab.

Pl�tzlich schwieg sie. Sie blickte in die Weite und versank in Gedanken. Ihre schweren Vogellider sanken halb �ber die schwarzen Augen, die Lippen �ffneten sich. Sie sprach mit sich selbst.

„Ich mu� das gr�ne Gras noch einmal sehen, ich mu�!“ fl�sterte sie. Sie dachte nicht, da� Grau es h�ren k�nnte.

Grau erhob sich. Susanna erschrak.

„Oh, es ist sp�t?“ sagte er. „Es ist sp�t!“ Er griff in alle Westentaschen und suchte nach der Uhr, dann, als er sie nicht fand, schl�pfte er rasch in den Mantel. Es schien als k�nne es ihm nicht schnell genug gehen. „Es ist sp�t!“

„Sie m�ssen gehen?“

„Ja, bei Gott, ich mu�. Ich werde wiederkommen, ich werde wiederkommen, wenn es die Damen erlauben, ganz gewi� —“

„Kommen Sie bald wieder!“

„Danke, danke! Ihnen habe ich tausendmal zu danken, Fr�ulein Susanna, es ist einer der sch�nsten Nachmittage meines Lebens gewesen — der sch�nste vielleicht! Ich werde keine Silbe vergessen von dem was Sie mir erz�hlt haben. Und wieviel habe ich Ihnen zu danken, Frau Lenz. Ja, ich mu�, erlauben Sie mir, ich bin ein Fremder f�r Sie, ein Eindringling, aber mit welcher Freundlichkeit haben Sie mich aufgenommen!“

Er gab Susanna die Hand und sah sie lange mit leuchtenden Augen an. „Wie rasch wir Freunde geworden sind!“ sagte er.

„Ja!“

„Adieu, Fr�ulein Susanna!“

„Adieu, Herr Grau!“

Unter der T�re verbeugte sich Grau nochmals und wiederholte: „Adieu, Fr�ulein Susanna!“

M�tterchen stand nicht davon ab Grau hinauszubegleiten. Der Herr wisse ja nicht, wie man das Gartent�rchen �ffne.

Grau wehrte ab. „Sie k�nnen sich eine Erk�ltung holen, Frau Lenz. Wie es doch schneit!“ — Nein, nein, der Herr wisse ja nicht —

Drau�en fragte M�tterchen, was er von Susanna halte?

„Oh!“ rief Grau aus, den Hut in der Hand, „ein pr�chtiges Gesch�pf, ein ganz und gar wundervolles M�dchen. Sie hat mich entz�ckt, ganz unter uns gesagt!“

M�tterchen l�chelte ein wenig. Ob der Herr sich nicht bedecken wolle? Sie frage, was er von ihrem Befinden halte.

„Eine Erk�ltung,“ sagte Grau scheu, mit einer Bewegung, als wolle er entfliehen, und blickte auf M�tterchen herab, in deren Haaren sich der Schnee ansammelte. „Eine schlimme Erk�ltung vielleicht — aber —“

Ob der Herr sich nicht doch bedecken wolle? Sie sei nun schon �ber zwei Jahre leidend. Sie sah Grau mit angsterf�llten Augen an.

Nun k�me ja bald der Fr�hling! Luft, starke, st�rkende Luft, Balsam f�r Kranke. „Was �brigens das Leiden anbetrifft, so kann ich Ihnen recht wohl sagen — und jedermann wird es Ihnen best�tigen — mit einem Leiden kann man alt werden. Ich selbst habe einen Herrn gekannt —“ Grau sprach noch scheuer und wich ein wenig zur�ck. „�brigens der Fr�hling, die Sonne —“ Er konnte nicht weitersprechen. Die jungen V�gel werden sie ins Grab singen, dachte er.

M�tterchen verbeugte sich, aber sie sagte kein Wort, mit komischen Spr�ngen lief sie ins Haus zur�ck.

Grau setzte den Hut auf und ging. Er blickte sich einigemal um, als ob er verfolgt werde. Sobald das kleine H�uschen im D�ster untertauchte, begann er zu laufen, was er konnte, und entfloh durch den wirbelnden Schnee.

Vierzehntes Kapitel

Sie ist einer von jenen Menschen, f�r die man sein Leben lassen m��te!“ sagte Grau, der in seinem dunkeln Zimmer auf und ab ging. „Nur um ihr einen einzigen gl�cklichen Tag zu schenken, m��te man tropfenweise sein Blut hergeben!“ Es blieb lange dunkel in Graus Zimmer, dann machte er Licht und schrieb an Susanna einen langen Brief. Verehrte und bewunderte Freundin, schrieb er. Er trug den Brief zur Post. Vielleicht kommt der Briefbote selten in das kleine Haus da drau�en vor der Stadt, dachte er und l�chelte. Und morgen w�rde Susanna lesen, da� sie einen Freund und Bruder gefunden hatte.

Er f�hlte sich froh und erleichtert, als er wieder die Staffeln hinaufstieg. Obwohl es empfindlich kalt war und der Schnee unter seinen Schritten knarrte, trat er nicht in das Haus, sondern er ging weiter, die Parkmauer entlang. Pl�tzlich stand er vor einem hohen eisernen Gitter und merkw�rdigerweise pochte sein Herz, als er dieses Gitter sah. Der Park lag �de und kalt. Grau dachte an den Mohren aus Bronze, der drinnen in dem wei�en Hause stand, an die Stille des Salons mit den zierlichen M�beln und an den leisen Schritt, der sich pl�tzlich der T�re gen�hert hatte; dann kam sie. Ihre Stimme, ihre Augen — er ging weiter, diese Erinnerung schmerzte ihn. Er stieg die H�he hinauf. Schnee, D�ster und unheimliche Stille. Ein paar Lichter blinzelten im Tal, als ob die K�lte sie beize wie Augen, ein kleiner gr�ner Stern spr�hte am Himmel, der fast schwarz aussah. Der Wald begann. In ihm war es noch stiller und ganz dunkel, aber es war w�rmer zwischen den B�umen, die ohne jedes Zeichen von Leben dastanden und sich gleichsam aneinander dr�ngten.

Grau lauschte unwillk�rlich, Scheu, Friede und Feierlichkeit erf�llten ihn inmitten des winterstillen Waldes, den ein Zauber in Erstarrung versetzt hatte. Die Herzen all der B�ume standen still und regten sich nicht mehr und schienen tot zu sein. Er ging leise, nur der Schnee �chzte unter seinen Schritten. Und er dachte an den gro�en Winterschlaf, den die Erde schlief, die W�lder schliefen, die Quellen, selbst ganze V�lker im Norden schliefen, die B�ren in den H�hlen. Aber Gott wird die Wimper heben und vom S�den wird der Tauwind kommen, die B�ren werden die Tatzen lecken, der Schl�fer wird vom Ofen kriechen, die Quellen werden sprudeln und die W�lder sich sch�tteln. Auch die erstarrten Herzen dieser B�ume werden wieder zu pochen beginnen: Denn da ist ja nichts Totes in der Welt. Was tot ist, ist nur scheintot und selbst der Stein am Wege, er schl�ft nur.

Grau blieb stehen. Ging nicht jemand an seiner Seite? Er lauschte. Nein. Aber hatte nicht eben eine feine Stimme in sein Ohr gefl�stert? Es fl�sterte und pochte. Es war sein Blut, das in seinem K�rper str�mte. Und mit einer Art von Schrecken lauschte er auf jenes Pochen, Pulsieren, Atmen in seinem K�rper, das ihm Kunde gab von den geheimnisvollen Vorg�ngen, die ohne sein Wissen Tag und Nacht in ihm walteten. Die Zellen in ihm verschoben sich, �nderten sich, er wu�te es nicht, eine Stelle in seinem K�rper mochte in gro�er Gefahr sein, die Blutk�rperchen st�rzten herbei, zu verteidigen, zu helfen, zu heilen, die Nerven zitterten, ein unausgesetztes Signalsystem war in T�tigkeit, er wu�te es nicht. Die Blutwelle �berschwemmte sein Gehirn, ein vergessener Ton erwachte, ein vergessenes Bild, ein Gedanke formte sich, ein Wunsch irrte hin und her, flackerte, leuchtete Monate und Jahre, bis er ihn entdeckte, oder er erlosch ungesehen, unbeachtet — und er wu�te von all dem nichts! Er sprach, lachte, ging, er war nichts als Oberfl�che, er lebte an der Oberfl�che, w�hrend in ihm unausgesetzt eine Welt von Geheimnissen wirkte.

Pl�tzlich stand er vor einer Waldwiese, aus der ihm K�lte entgegenst�rzte. Diese Wiese schien lebendig, bewohnt zu sein. Es war Licht auf ihr. Das Licht kam vom Mond, das Licht des Mondes von der Sonne — welches Licht, um des Himmels willen, war es doch, das ihn, den nichtigen Wanderer, hier gr��te? Aus welchen Zeiten, welchen Fernen kam es? Wie, wie, wie?

Er, der hier stand und nicht mehr war als eines der Millionen Schneesternchen, die auf einem Aste lagen, er wurde von Entsetzen gepackt, denken zu k�nnen und zu f�hlen, da� er lebte.

Denn was Leben hei�t, wer hat es doch je zu Ende gedacht? Niemand. Selbst der schnelle, scharfe Gedanke des Weisen, er erlahmt, er erschrickt, er kehrt entsetzt um.

Da ist zum Beispiel das Blut! Nicht seine Funktionen allein, die die wunderbaren menschlichen Apparate (ein Lob dem Menschen!) belauschen konnten. Ein Tropfen Wasser ist k�stlich, wer ersann ihn? Eine Faser Eisen, k�stlich, wer erdachte sie? Aber ein Tropfen Blut, wie —?! Das Blut verrichtet seine Arbeit — sein Sch�pfer sagte: schaffe! und es gehorcht — aber es ist zugleich wie ein Volk, hat Gebr�uche, Eigenschaften, Geschichte, denn das Volk es ist ja aus Blut erbaut, es ist ja nichts als die Vergr��erung des kleinen Tropfens. War nicht ein ewiges Vergehen in ihm, Grau, der durch den Wald ging, ein ewiges Vergehen und Erbl�hen? Von Eigenschaften und F�higkeiten, von V�lkern, Geschlechtern und Rassen, wer wei�, wann sie lebten, woher sie kamen? War nicht ewiger Kampf, Unterhandlung, Waffenstillstand dieser Geschlechter in ihm? Jene Rasse, die vom Osten kam, vielleicht erstarb sie in ihm in dieser Minute und �bergab ihre Waffen an ein Geschlecht, das aus dem Norden kam, mit Ketten aus B�renz�hnen geschm�ckt? Woher sollte es doch kommen, da� ihn zuweilen namenlose Traurigkeit befiel, ohne jeden Grund? Namenloses Gl�ck in ihm aufloderte wie ein Siegesgeschrei, ohne jeden Grund? Tod und Geburt in ihm wie in der Welt, Kampf und Sieg. Dieses Auf und Ab, dieses Gehen und Kommen, dieses Laut und Leise, Fragen und Befehlen, Erschrecken und Locken, wie wunderbar war es doch! Wie entsetzlich und wie k�stlich sch�n!

Und doch — das war ja noch nicht das ganze Leben in ihm, nur ein kleines St�ck, soviel wie ein Blatt vom Walde ist, nicht mehr, nicht weniger.

Die geheimnisvollen Lebenswellen, die ihn unausgesetzt umkreisten, durchdrangen, dieses Sausen des Lebens nah und fern, das Brausen der Sonne und der kr�ftespeienden Gestirne, das ihn erreichte.

Jene blitzartigen Offenbarungen einer verborgenen Welt, von der er ein Teil war, die sich �ffnete und schlo� in der gleichen Sekunde vor dem geblendeten Auge. Jenes Singen und Fl�stern, Tag und Nacht? Oder erinnerst du dich nicht mehr, da du zwischen Schlaf und Wachen warst und deine Seele pl�tzlich in dir zu sprechen begann? Du erbebtest, Schreck und Freude erf�llten dich. Zu leicht, zu seicht, zu lau und flau bist du, sprach deine Seele. Und du antwortetest, gebannt von dem Unbekannten: „Ja, ja!“ Deine Seele sagte: „Tue dies, tue das!“ Und du sagtest: „Ja, ja, ich gehorche!“ Das ist der Weg, sagte deine Seele und du sagtest: „Ich werde ihn gehen!“

Und solltest du dich nicht mehr daran erinnern, an jenen Moment, da pl�tzlich ein Auge in dir leuchtete und dich von innen heraus anblickte. Das Auge blickte mit gro�em, majest�tischem Glanz auf dich und war in dir — und du, du sprangst auf. „Ich bin ja allein!“ sagtest du laut, aber du glaubtest dir nicht. Hattest du den Mut, zu fragen: „Wer ist hier?“ Nein! Denn du f�rchtetest ja, eine Stimme k�nnte dir antworten!

Nichts f�rchten wir ja mehr, als da� sich jenes geheimnisvolle Leben, das wir ahnen, uns offenbarte.

Grau ging nach Hause; er sch�ttelte den Kopf, seine Augen waren gro� und leuchtend. Der Mensch geht auf schwankendem Grunde, dachte er, noch mehr: er geht in der Luft.

Auf dem R�ckwege kam er wieder an dem hohen, eisernen Gitter vorbei. Es war noch immer angelehnt. �ber dem Park spr�hte wie vorhin der kleine, gr�ne Stern. Und wieder rief sich Grau jene Szene in dem kleinen Salon ins Ged�chtnis zur�ck und es schmerzte ihn, da� er nicht genug in jenes sch�ne, stolze M�dchenantlitz geblickt hatte, um es f�r alle Zeiten zu behalten.

Er schlief erst sp�t ein. Das Auge nimmt ein Bild mit aus dem Tage und das Bild erscheint im Traum. So tr�umte Grau in jener Nacht von dem Gitter des Parkes. Es war nur angelehnt. Er tr�umte, er st�nde davor und wartete. Ja, worauf wartete er doch nur? Da kam ein hohes, stolzes M�dchen aus dem Park hervorgegangen, es war jenes M�dchen mit den hellen Augen. „Hast du mich heute wiedererkannt?“ rief sie. Aber je n�her sie kam, desto mehr ver�nderte sie sich. Es war Susanna, die kam; sie trug den kleinen gr�nen Stern auf der Hand und winkte ihm mit den Blicken, ihr zu folgen. Er z�gerte — aber dann folgte er ihr.

F�nfzehntes Kapitel

Grau war nun in der ganzen Stadt bekannt. Das war kein Wunder, denn man sah ihn tagt�glich einigemal auf der Stra�e; �ber den Marktplatz konnte man �berhaupt nicht gehen, ohne da� er aus irgend einer Gasse auftauchte. Immerzu hatte er zu gr��en, denn jedermann kannte ihn. Er gr��te alle Leute zuerst, auch Kinder und Sch�ler. Man konnte ihn �berall sehen, hinter den dunkelsten Fenstern, die keine Vorh�nge hatten, auf den breiten Treppen der reichen Leute, einerlei.

Er hatte viel zu tun. Wenn er am Morgen das Haus verlie�, so hatte er schon einige Arbeitsstunden hinter sich. Er stand auf, sobald der Tag graute; voll von Interesse f�r alles, was den Menschen betraf, w�nschte er alles kennen zu lernen, was der Mensch je gedacht und ersonnen hatte; dazu benutzte er die Morgenstunden. Der vorl�ufige Arbeitsplan war bei angestrengtester T�tigkeit in zehn bis zw�lf Jahren zu bew�ltigen. Dann wollte er weiter sehen.

Er hatte Unterricht in den Schulen zu geben, Besuche zu machen. Keine Stunde des Tages lie� er unbenutzt. Er war wiederholt bei der alten Frau Sammet gewesen, im Waisenhaus, bei dem Arzt, der Susanna behandelte, auch sprach er h�ufig bei der „ewigen Braut“ vor, um mit ihr zu plaudern. Susanna besuchte er, so oft er frei war.

Trotzdem er t�glich so vieles tat, hatte er doch stets Zeit. Niemals war er in Hast, stets ruhig. Sein Tag schien viel l�nger als der andrer Menschen zu sein.

Es ist eine bekannte Tatsache, da� man in jeder Stadt einen Menschen hat, dem man immer wieder und wieder begegnet. In dieser Stadt schien es f�r Grau Eisenhut zu sein, den zu treffen ihm bestimmt war. Er begegnete ihm, so oft er das Haus verlie�, ja, selbst im Walde hatte er ihn getroffen. Eisenhut ging hastig vor�ber, gr��te, blinzelte und sah Grau stets mit sonderbar forschenden Augen an, argw�hnisch, ja, sogar furchtsam und scheu; zuweilen sch�ttelte er den Kopf, r�usperte sich und lief weg, indem er Grau einen raschen Blick zuwarf, der keineswegs Sympathie ausdr�ckte. Manchmal kam es auch vor, da� er auf der Stra�e stehen blieb, Grau sp�ttisch l�chelnd musterte und die Lippen bewegte, als spr�che er mit sich selbst. Bei einer solchen Begegnung sprach ihn Grau an und fragte ihn, ob er nicht etwas tun wolle, um f�r Susanna ein Piano zu beschaffen. Aber Eisenhut blinzelte, l�chelte, kr�mmte sich und begann von schlechten Zeiten zu sprechen, in solch winselndem, dem�tigem Tone, da� sich Grau angewidert abwandte. Er sah Eisenhut wieder und Eisenhuts Augen spr�hten offenen Ha�.

Grau war nicht erstaunt: Alles geht wunderbar, dachte er und l�chelte in sich hinein vor Freude, dieser Mann ist mir sicher! Ja, es gab solch wunderliche Dinge auf dieser Erde!

Einmal sah er Eisenhut auf der Stra�e, gefolgt von einer Schar ausgelassener, johlender Kinder. Eisenhut taumelte am hellen Tage betrunken nach Hause.

Nur Geduld, das sollte bald anders werden! Nur etwas Zeit brauchte er dazu.

Graus erste Predigt war kl�glich ausgefallen. So hei� war sein Herz gewesen, so gro� hatte er sich alles gedacht, aber pl�tzlich hatte ihn Unsicherheit befallen: W�rde er die rechten Worte finden, das auszudr�cken, was ihn erf�llte, was er f�hlte im Wachen und im Schlaf? — Er war unzufrieden mit sich. In den folgenden Predigten aber war es ihm besser gegl�ckt.

Es erschien ein Tag mit einigen freien Stunden. Grau erstaunte und wu�te nicht wie das zuging. Er spielte Orgel.

Er spielte ein paar Stunden lang und f�hlte sich darauf wie neugeboren. Die Musik und die menschliche Seele, es ist ja gar kein Unterschied zwischen den beiden, sie sind Schwestern. Und wenn der Mensch Musik h�rt, so finden sich die beiden Schwestern, umschlingen sich, vertrauen sich einander an, ihre Sehnsucht, ihre Schmerzen, ihr Gl�ck, ihre Hoffnung, liebkosen einander und k�ssen sich, und der Mensch f�hlt Freude und wei� nicht warum.

Als Grau endlich aufh�rte zu spielen, war er von Gl�ck und Jubel erf�llt. Seine H�nde bebten. All das Singen und Jauchzen der Orgel war noch in ihm. Seine Augen waren so licht, da� er ihren Schein f�hlte. Die Sonne leuchtete am Himmel.

Nun wollte er zu Susanna gehen.

Er hatte sich lange Tage an der Freude gelabt, Susanna einen kleinen Hund zu schenken. Er sollte klein und schneewei� sein und wie Zucker schimmern. Nat�rlich durfte er am Ende einige Flecken haben, etwa schwarze Pfoten oder einen halben schwarzen Kopf, das w�rde nichts schaden, am besten aber war er schneewei�. Jedoch ein solcher Hund lie� sich nicht finden, trotz Graus eifriger Nachfrage, weder ein wei�er noch irgend ein anderer. Somit war es mit seiner Freude nichts geworden.

Ja, wie doch heute die Sonne leuchtete! Grau machte einen Umweg, um sein Gesicht von der Sonne baden zu lassen. Wie die sanftesten warmen H�nde ber�hrte die Sonne seine Wangen, und wenn er die Lider schlo�, so war es, als ob sich ein sanfter, warmer Finger auf seine Lider legte. Dann sah er Feuer.

Er l�chelte einer jungen Mutter, die des Weges daherkam und ihr kleines, wie ein junger Eisb�r aussehendes Kind an der Hand f�hrte, freundlich zu. Die Frau err�tete, sie mi�verstand Graus Blick.

Der Himmel war blau und leuchtete. Jedermann hat schon gesehen mit welch blauer Flamme der Schwefel verbrennt, so st�hlern und durchsichtig blau war der Himmel. Grau blickte hinein, tiefer, tiefer — es lockte.

Ich bin ja nichts, dachte Grau, ein Nichts, eine Kleinigkeit, und doch habe ich die Gabe mich zu freuen, die Fliege selbst hat sie, jedes Wesen — und doch habe ich solch eine r�tselhafte Sehnsucht in mir und doch durchschauert mich manchmal eine Ahnung von dem Gro�en, das irgendwo ist. Hast du Gott gesehen, frage ich dich? Nein. Und wenn du mich fragst, nein, nein, wie sollte ich doch? Aber ich f�hle, oft bin ich gleichsam bet�ubt wie heute. Vergebt mir. Und doch, was k�nnte ich sagen, wenn mich einer fragte? Ich wei� ja nichts. Ist Gott ein Sausen, das durch die Welt f�hrt, oder ein Ton, ein ewig schwingender Ton, nach dem unsere Ohren haschen, oder ein Blick, der auf uns ruht, auf jeder Stelle unseres Leibes, dem Kopfe, der Fu�sohle, Tag und Nacht, um Mitternacht und am Mittag? Oder ein L�cheln, ist er in jenem L�cheln, das zuweilen auf allen Dingen zu ruhen scheint, dem Grase selbst, dem gl�nzenden Felle des Stieres, dem Wasser. Wei� ich es denn? Es gibt so viele, die sagen, es gibt keinen Gott. Es ist m�glich, aber die Welt ist g�ttlich sch�n. Ich strecke meine Hand in die H�he, sie ist golden, das ist die Sonne, ich strecke meine Hand in die H�he, sie ist silbern, das ist der Mond. Ferne da kniet ein Mann im Grase und betet und ungez�hlte Stirnen beugen sich in den Sand und preisen Gott in fremden Zungen. Trotzdem? Doch dann ist es der Mensch, der sich einen Gott geschaffen hat, des Menschen Sehnsucht ist dann Gott. Aber es ist ja nicht m�glich, da� es keinen Gott gibt, nein, denn des Menschen Sehnsucht ist g�ttlich und wie g�ttlich sch�n ist die Welt. Was f�hlst du, wenn du deine Hand anblickst? und wenn die V�gel im Walde singen — wie wird dir? Nun? warum dieses ewige Verlangen, diese Sehnsucht, dieses Brennen im Herzen, warum denn? Dieses Fieber? In uns, die wir nichts sind als Sandk�rner, die vor dem Winde rollen. In diesem Sandkorn Gef�hl, Wunsch, Ekstase.

Nein, niemand hat ihn gesehen, es ist wahr. Viele haben ihn geahnt. Jene gl�nzenden Antlitze im Dunkel! Viele sind aufgestanden und haben gesprochen, ihre Worte m�gen unrichtig sein, sie konnten nicht ausdr�cken, was sie f�hlten, aber ihre Geb�rde, verge�t mir diese Geb�rde nicht.

Grau blieb stehen und sah einen Hund an, der unter der Haust�re sa� und in die Sonne empor blinzelte. In der Vorstadt trat er in einen dunkeln metergro�en Blumenladen ein und erstand eine kleine rote Tulpe. Als er bezahlen wollte, stellte es sich heraus, da� er kein Geld mehr hatte. Aber die Leute kannten ihn und es w�re fast eine Beleidigung gewesen, ihr Anerbieten, sp�ter zu bezahlen, zur�ckzuweisen. W�hrend er noch z�gerte, trat jemand in den metergro�en Laden ein und er roch ein feines Parf�m, das sich ohne Hindernisse in dem Raume bemerkbar machen konnte; die Blumen hier waren zumeist aus Wachs und Papier, und die wenig lebenden, die es hier gab, rochen nicht.

„Herr Grau?“ sagte eine sch�ne Stimme.

Diese Stimme drang sofort bis zu seinem Herzen.

Adele von Hennenbach schob den gelben Schleier in die H�he und ihr schmales blasses Gesicht und die klaren hellgrauen Augen kamen zum Vorschein. Sie l�chelte und blickte Grau freundlich an. An ihrem Arme hing die Schlittschuhtasche; sie war gekleidet wie neulich und aus dem flotten Pelzjackett stieg jenes feine Parf�m.

„Ich kann mir wohl denken, f�r wen diese Tulpe hier ist!“ sagte sie und blickte Grau mit einem leisen L�cheln an; sie betrachtete die Tulpe mit ein wenig ge�ffneten Lippen.

Grau kam in Verlegenheit, als ob sie ihn bei einer unsch�nen Handlung ertappt habe. Er l�chelte und drehte an einem Knopfe seines Mantels. „Es macht mir Vergn�gen, Susanna eine kleine Aufmerksamkeit zu erweisen, sie freut sich so,“ sagte er, sich gleichsam entschuldigend. „Sie gehen zum Eise, Fr�ulein von Hennenbach?“

Adele streckte sich ein wenig in die H�he. „Ja,“ sagte sie, „man mu� die letzten Tage noch ben�tzen, es wird bald vorbei sein mit der Herrlichkeit. Ich habe mit Ihnen einige Worte zu sprechen, Herr Grau, wenn Sie nicht ungehalten sein w�rden, da� ich die Gelegenheit ben�tze?“

„Bitte.“ Er war hocherfreut. Sie verlie�en zusammen den Laden. Adele erkundigte sich nach den Formalit�ten — es handelte sich um ihre Trauung. Dann plauderten sie.

„Wie froh Sie heute doch aussehen, Herr Grau!“ sagte Adele. „Ganz als ob Sie eine frohe Nachricht erhalten h�tten!“

„Das habe ich auch!“ sagte Grau. „Aus weiter Ferne.“

„Diese arme Susanna,“ bemerkte Adele im Laufe des Gespr�ches, „wie es mir doch leid tut um sie. Sie hat nichts als Kummer gehabt, nicht ein Quentchen Gl�ck, keine frohe Jugend, kaum ein wenig Freude. Wie klug und vornehm und bescheiden ist sie doch! Wie schade, da� sie krank ist, da� sie so h��lich ist, so mi�gestaltet, ich bin traurig, so oft ich an sie denke. — Wollen wir den Weg zum Flu� hinunter gehen, Herr Grau? Es ist kaum ein Umweg.“

Sie gingen den Flu� entlang, an den beschneiten Schiffen vorbei, worauf die Kinder herumkletterten und schrien. Kleine Knirpse und M�dchen mit zerzausten Haaren liefen auf einer glatten Bucht Schlittschuh und schrien ebenfalls was sie nur konnten.

Grau sch�ttelte den Kopf. „Ich kann nicht finden,“ erwiderte er, „da� Susanna h��lich ist. Ich mu� freilich zugeben, da� ich beim ersten Anblick dachte, die Natur habe sie stiefm�tterlich behandelt, nun aber erscheint sie mir sch�n.“

„Wirklich?“

„Ja, ich entdecke mehr und mehr Sch�nheit an ihr. Sie hat doch ganz wunderbare Augen! Haben Sie beobachtet, wie Susannas Augen Ihnen das Wort von den Lippen horchen, den letzten Sinn aus den Augen horchen, den das Wort nicht geben kann oder gibt? Wie ihre Augen antworten, noch bevor sie die Lippen �ffnet?“ Er blickte mit schw�rmerischem L�cheln auf Adele.

„Ja, ja.“

„Und dann ihre H�nde! Haben Sie diese H�nde genau betrachtet? Wie lebendig sie sind, wie sie alles miterleben, was Susanna erlebt. Und wie sch�n sie doch sind, Susannas H�nde! Ja, bei Gott, sie sind au�erordentlich sch�n! Ich schw�rme, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit, seitdem ich Susanna zum erstenmal sah, schw�rme ich f�r sie — ich gestehe es. Sie werden es ihr ja auch nicht wieder sagen,“ f�gte er mit einem L�cheln hinzu.

Adele sagte: „Wer wei� es?“

„Ich w�rde es nicht w�nschen,“ sagte Grau. „Sie werden doch nicht am Ende glauben, da� ich gerade deshalb so aufrichtig bin?“

Adele sch�ttelte den Kopf und lachte. „Sie wissen, da� Sie es mit einer Frau zu tun haben!“ sagte sie scherzend. „Susanna w�rde all das wohl gerne h�ren, denn sie ist so stolz auf Ihr Lob. Sie haben ihr auch gesagt, da� sie eine Dichterin sei und B�cher schreiben k�nnte. Glauben Sie das wirklich?“

„W�rde ich es sonst sagen?“ Grau nickte. „Ja, das glaube ich,“ sagte er. „Hat Ihnen Susanna schon die Geschichte erz�hlt, die sie �ber das Porzelland�mchen in M�tterchens Glasschrank ersonnen hat? Die Abenteuer der Madame Ypsilon? Eine drollige und wundersch�ne Sache! Als ich mein erstes Kind erwartete, beginnt die Geschichte dieser Porzellandame — haha!“

Adele kannte diese Geschichte. „Wenn es weht, vermeide ich es, auf die Stra�e zu gehen, erz�hlt Madame Ypsilon,“ sagte sie. „Ich habe gar keine Talente,“ f�gte sie hinzu und sch�ttelte l�chelnd den sch�nen, stolzen Kopf.

„Jeder Mensch hat seine Talente.“

Ja? Nun, dann m�chte sie recht gerne wissen, welche Talente er ihr zuschreibe?

„Erstens,“ antwortete Grau und blickte sie an, „sind Sie sehr musikalisch, ich sehe das aus Ihrer Art unwillk�rlich auf Ger�usche und T�ne der Stra�e zu reagieren, sodann sind Sie eine vorz�gliche T�nzerin, an Ihrem Gange kann man das erkennen, mehr noch an der Art wie die Bewegungen Ihres K�rpers eine Unregelm��igkeit des Weges ausgleichen. Sie haben die F�higkeit fremde und unm�gliche Dinge zu tr�umen, vielleicht mitunter grausame Dinge.“

Adele sah ihn an. „Bitte, bitte!“ rief sie aus und l�chelte.

„Ihre gr��te Gabe aber scheint mir zu sein,“ fuhr Grau fort, „unklare Situationen zu �berblicken — zuweilen geht Ihr Blick so rasch hinter den Wimpern hervor und unvermittelt in die Weite — und rasch und unerschrocken zu handeln — sogar tollk�hn,“ f�gte er leiser hinzu.

„Ich habe mir vorgenommen, sobald ich Sie treffe, f�r meinen Bruder um Entschuldigung zu bitten,“ sagte Adele ablenkend. „Wegen jener Aff�re im Elefanten.“

Grau l�chelte und sch�ttelte den Kopf. Aber das sei doch nicht der Rede wert.

Adele blickte ihn erstaunt an. „Nicht der Rede wert?“ fragte sie. „Haben Sie denn keinen Streit mit ihm gehabt?“

„Nein, nein!“ Grau l�chelte.

„Wie merkw�rdig!“ sagte Adele. „Er hat mir erz�hlt, Sie h�tten Billard zusammen gespielt, er habe gewonnen und es sei zu einem Wortwechsel — und fast zu T�tlichkeiten gekommen,“ f�gte sie z�gernd hinzu.

Grau sah sie an. „Das ist nicht wahr!“ sagte er ernst und leise, denn etwas besch�ftigte seine Gedanken.

Adele �ffnete erstaunt die Lippen. „So?“ sagte sie gedehnt. „Ich habe mich gewundert dar�ber — er hat mir eine ganze Geschichte erz�hlt. Auch die Geschichte mit der Flasche ist also — nicht wahr?“ Sie err�tete fl�chtig, „Ich habe bisher meinem Bruder alles geglaubt,“ sagte sie mit einem Tone von Verwunderung und Betr�btsein in der Stimme. Sie schwieg lange Zeit und dachte nach, dann wandte sie sich wiederum an Grau, der ebenfalls in Nachdenken versunken war. „Lassen wir das!“ sagte sie, indem sie ihrer Stimme einen gleichm�tigen Klang zu geben versuchte. „Man hat mir erz�hlt, da� Sie fr�her Gef�ngnisgeistlicher waren, Herr Grau? Das war wohl Ihre erste Anstellung?“

Aber Grau h�rte nicht. Er hatte den Blick zu Boden gerichtet und seine Mienen dr�ckten tiefes Nachdenken aus. Erst als Adele ihre Frage wiederholte, fuhr er verwirrt auf.

„Ich bitte um Verzeihung!“ sagte er verlegen. „Allein ich kann manchmal vollst�ndig in Gedanken versinken. Nun hat mich eben eine Angelegenheit besch�ftigt, die mich schon seit meiner Ankunft stark interessiert. Es gibt Dinge, die mich gar nichts angehen, aber meine Gedanken kaprizieren sich gerade darauf. Gef�ngnisgeistlicher, sagten Sie das? Ja, aber es war nicht meine erste Stelle. Zuvor war ich Lehrer an einem Blindeninstitut f�r Kinder.“

„Oh!“ Adele zog wie unter einem k�rperlichen Schmerze die feinen schwarzen Brauen hoch. Sie gr��te jemand auf der Stra�e, dann sagte sie: „Unter Blinden, wie furchtbar! Und noch dazu unter blinden Kindern! Wie schrecklich mu� das sein!“

„Viel schrecklicher ist es noch blind zu sein,“ sagte Grau und blickte Adele an.

„Ja, entsetzlich!“ Adele richtete die hellen klaren Augen auf ihn.

„Stellen Sie sich vor, wie es ist blind zu sein, versuchen Sie es! Ja, ich habe es einmal versucht, ich kann Ihnen das ruhig erz�hlen, denn Sie denken vornehm, ich habe es einmal versucht und mich blind gemacht —“

„Was taten Sie?“ Adele sah Grau erschrocken an.

„Verstehen Sie es recht,“ fuhr Grau fort. „Ich habe mir eine Binde um die Augen gelegt — es war in jenem Institut — vier Tage lang — ich tat es aus Interesse — aus einer Art von Interesse, wenn Sie wollen, um meine blinden Lieblinge besser zu verstehen, vielleicht auch um ihnen gleich zu sein — kurzum, aber ich sage Ihnen gleich — doch es ist besser nicht davon zu sprechen. Entschuldigen Sie, Fr�ulein von Hennenbach.“ Er wurde pl�tzlich rot, dann fuhr er in anderem Tone fort: „Denken Sie daran, wie wir uns freuen, wenn nur ein bi�chen Licht durch die Fensterladen sickert, wenn das Licht im Laube der B�ume spielt, wir Menschen leben ja vom Licht wie die Pflanzen, unsere Seele n�hrt sich davon. Jeder Sonnenaufgang, jedes Glitzern eines Sternes, es ist in uns, wir w�ren nicht die gleichen ohne diese Eindr�cke und glauben Sie mir, Fr�ulein von Hennenbach, ein Mensch mit zehntausend Sonnentagen und zehntausend Sternenn�chten in seinem Leben ist ein ganz andrer als ein Mensch mit f�nftausend nur.“

Ein Mann schlendert an ihnen vor�ber, in hohen Stiefeln, das Gewehr auf dem R�cken. Es war Eisenhut. Er gr��te tief, blinzelte beide an und stieg hocherhobenen Hauptes vor ihnen her. Er nahm eine Zigarre aus dem Etui und steckte sie in Brand.

„Sch�nes Wetter, sch�nes Wetter!“ rief er und blinzelte.

„Ja, sch�nes Wetter!“ sagte Grau.

Aber Eisenhut blickte Adele an, er beachtete ihn gar nicht, und wiederholte: „Sch�nes Wetter!“

„Danach hat man Sie also zu den Gefangenen geschickt, Herr Grau?“ sagte Adele, die Eisenhut g�nzlich ignorierte. Eisenhut blinzelte, reckte den Spitzbart in die Luft und zog mit seiner Zigarre ab, deren blauer Rauch regungslos �ber dem Wege schwebte.

„Es geschah auf meine Bitte hin,“ antwortete Grau.

„�brigens hat mich in diesem Falle etwas ganz besonderes dazu getrieben, ich hatte eine Art Vision — oder —“

„Eine Vision?“

„Eine Art Vision, ja. Es ist �brigens kaum des Erz�hlens wert.“

Grau l�chelte und blickte Adele an, deren Wangen allm�hlich ein frisches Rot �berzog.

„Sie m�ssen mich recht verstehen,“ sagte Grau, „was hei�t das schlie�lich, eine Vision, nicht wahr? Es ist eine Art Traum in halbwachem Zustande, nichts weiter. Einmal zum Beispiel, glaubte ich ein Sandkorn zu sein und ich sah das Leben all des kleinen Getieres zwischen den Gr�sern, das Wachsen der Halme, wie Zelle sich an Zelle schlo� — ganz wunderbare Lebensvorg�nge —“

„Einmal nun, da schlo� ich die Augen; ich war m�de, aber ich schlief nicht und pl�tzlich sah ich einen Mann vor mir mit erdfahlem Gesicht, in der Kleidung eines Gefangenen. Er ging hin und her, vier Schritte vorw�rts und vier Schritte zur�ck, so da� ich einmal sein erdfahles Gesicht sah, einmal seinen R�cken. Aber mit einmal war es nicht einer, es waren unendlich viele, vielleicht hundert. Wie Sie im Traume in H�user hinein blicken k�nnen, durch Mauern hindurch, so sah ich in all diese Zellen hinein. Sie gingen hin und her, vier Schritte vorw�rts, vier Schritte zur�ck, sie hatten alle erdfahle Gesichter und waren gekleidet wie Gefangene. Sie gingen hin und her, wie ein Tier in seinem K�fig, pl�tzlich aber blieben sie alle stehen, all die Hundert, sie blieben stehen und trommelten mit den F�usten an die W�nde. Nur einen Augenblick. Dann nahmen sie das Wandern wieder auf.“

„Wie schrecklich!“

„Ja, in der Tat, in der Tat schrecklich!“ sagte Grau leise und schwieg eine Weile. Er fuhr fort: „Aber nach einer Weile standen all die Hundert wieder still, gerade in dem Moment, da sie kehrt machen wollten um mir den R�cken zuzuwenden — sie standen still, sage ich — und sahen mich an. Alle auf einmal! All die Hunderte von Augen, von toten erloschenen Augen, sie sahen mich an. Ein Traum, denke ich, ein Traum, nur ein Traum und klammere mich an den Gedanken, da� es ja nur ein Traum ist, w�hrend der Blick dieser entsetzlichen Augen auf mir ruht. Dieser Blick aber war kaum l�nger als ein Gedanke, dann l�chelten all die erdfahlen Gesichter. Sie zogen die M�nder ein wenig schief und sie l�chelten alle das gleiche L�cheln: Sp�ttisch, �berlegen, ver�chtlich — dann machten sie kehrt und wanderten wieder.“

Grau schwieg. Sie gingen eine Weile nebeneinander her und blickten beide auf den Boden. Als sie den dicken Wartturm durchschritten, wo ihre Schritte leicht widerhallten, sagte Adele: „Deshalb also gingen Sie dorthin?“

„Ja, deshalb, ich hatte keine Ruhe mehr.“

Adele atmete die frische Winterluft ein, und ihr Schleier flatterte pl�tzlich im Winde; denn die H�he trat hier zur�ck und der Wind hatte freie Bahn. Ein paar Kr�hen flogen, tief mit den Fl�geln schlagend, in einer Reihe �ber das Schneefeld und schrien. Bald tauchte auch das Dach von Susannas H�uschen auf.

„Ich hatte ja fr�her nie l�nger �ber diese Gefangenen nachgedacht,“ nahm Grau das Wort wieder auf, „aber jetzt mu�te ich es tun. Es war besonders jenes L�cheln mit dem schiefgezogenen Mund, das mir zu denken gab. Ich sagte, sie l�chelten sp�ttisch, �berlegen, ver�chtlich, aber all das sagt nicht genug. Ihr L�cheln schien auszudr�cken: Du bist auch einer von jenen Gedankenlosen.“

„Gedankenlosen?“

„Ja,“ sagte Grau, „und ich mu�te immerzu an dieses r�tselhafte L�cheln denken und schlie�lich kam es dahin, da� ich um jeden Preis wissen mu�te, was es bedeute. Ich hatte mich ja mit solch falschen Anschauungen �ber Gefangene und Verbrecher getragen.“

„Wollen Sie mir nicht sagen, was f�r Menschen sie eigentlich sind?“ fragte Adele mit aufrichtigem Interesse.

Grau sah Adele an. „Was f�r Menschen?“ antwortete er und l�chelte. „Sie sind genau wie andere Menschen, wie die B�rger dieser Stadt hier, wie ich, nur da� sie etwas getan haben, irgend etwas, das gegen einen Paragraphen des Gesetzes verstie�, da� sie nicht vorsichtig genug waren und da� man sie packte.“

Pl�tzlich erbleichte Adele. Sie l�chelte und blickte in die Ferne, genau dahin, wo jetzt die Kr�hen flogen; sie sagte: „Ja — da� man sie packte, das ist ganz richtig, das ist wahr!“ Sie lachte ein wenig seltsam.

Grau sah sie mit einem raschen erstaunten Blicke an.

Dann aber fuhr er mit gleichm�tiger, ja fast auffallend gleichm�tiger Stimme fort: „Ich sehe, Sie interessieren sich f�r diese Ungl�cklichen, Fr�ulein von Hennenbach. Ich gestand Ihnen ja, da� auch ich mich mit falschen Anschauungen trug. Der gr��te Teil, das sind Leute, bei denen eine der allgemein menschlichen Eigenschaften, Eitelkeit, Hochmut, Tr�gheit Genu�sucht, Sinnlichkeit, Habgierde, Verlegenheit, Gutm�tigkeit, Leichtsinn, Leidenschaftlichkeit — (eine ungeheure Menge von allgemein menschlichen Eigenschaften z�hlte Grau auf, sie wollten gar kein Ende nehmen) — ungl�cklich stark entwickelt ist im Vergleich zur Willenskraft, st�rker sogar als die Furcht vor dem Gesetze. Jener Anschauung, da� alle Verbrecher und Str�flinge geisteskrank oder seelisch defekt sind, stimme ich nicht bei. Im Gegenteil, Sie finden darunter einen nicht geringen Teil, der sehr gesund ist, gesunder oft als die freien Menschen. Ganz pr�chtigen Leuten k�nnen Sie dort begegnen, welche Kraft, Unerschrockenheit, welches Feingef�hl, welcher Stolz! Die meisten nat�rlich sind krank, sie haben einen Tropfen krankes Blut im K�rper, den der Arzt nat�rlich weder sehen noch nachweisen kann. Endlich kommen die schrecklichen Verbrecher, die als Teufel geboren wurden und eines Tages ein Verbrechen begehen, da� alle Zeitungsleser der ganzen Welt schreien: Er geh�rt geschlagen, gebr�ht, die �rgste Folter m��te ersonnen werden!“

„Haben Sie solche gesehen? Was f�r Menschen m�gen das wohl sein?“

„Ich habe vier solche gesehen, ja. Ich wei� es nicht. Niemand wei� es. Sie sind ein Mysterium, uralte Raubtiernaturen, Finsternisseelen, blutige Gespenster — irgend eine schreckliche Kraft, ein entsetzlicher Geist haust in ihnen, ich wei� es nicht, ich habe das noch nicht zu Ende gedacht!“

Adele sch�ttelte den Kopf. „Nach all dem, nach Ihrer Auffassung vom Verbrecher,“ sagte sie, „die ja sehr g�tig ist —“

Grau unterbrach sie. „Das Resultat von Beobachtungen, erlauben Sie, mein Gef�hl spricht nicht mit.“

Nun wohl, seiner Anschauung gem�� m��te es unrecht sein, die Verbrecher zu bestrafen.

Grau blieb stehen. Er sah Adele an und sagte: „Nat�rlich! Das ist eins jener Dinge, die ich gar nicht verstehen kann. In hundert Jahren wird man diesen menschlichen Irrtum mit den gleichen Augen betrachten, mit denen man heute auf die mittelalterlichen Hexenprozesse blickt.“

„Aber —?“

Grau l�chelte. „Die Gesellschaft!“ sagte er.

„Ich verstehe. Ich werde kein gro�es Geschrei machen, ich werde gar nicht von den Verbrechen sprechen, die die Gesellschaft in aller Ruhe begeht oder von den Verbrechen, die im Gesetz selbst enthalten sind. Die Gesellschaft will in Ruhe und Frieden die Arbeit der Kultur verrichten, nicht wahr? St�renfriede schafft sie aus dem Wege. Aber das ist nicht ganz richtig, der Gesellschaft ist es ja nur zum geringsten Teil um Kulturarbeit zu tun, zum allergeringsten Teil — denn die Gesellschaft ist ja eigentlich nichts anderes als ein Ring kleiner und gro�er Bankiers — es ist ihr vielleicht ein wenig um das Werk der Zivilisation zu tun, um den Export von Seifen und Gasmotoren und Kanonen — vielleicht nur um Bereicherung, aber auch das ist wohl nicht gerecht — sagen wir die Gesellschaft will leben, bequem und in Frieden. Deshalb also schafft sie sich Gesetze, nur weil sie bequem und in Gem�tsruhe leben will — das Motiv steht nicht sehr hoch! Gut, sie kann also St�renfriede ausschlie�en — aber bestrafen, wieso? Vielleicht hat sie das Recht, Elemente, die ihre Gesetze nicht respektieren und sich dagegen verfehlten, zu erziehen — das aber ist alles!“

„Ja, aber ich verstehe nicht ganz?“ warf Adele ein.

Grau sch�ttelte den Kopf und l�chelte. „Sie meinen, wenn jemand mir zum Beispiel hundert Mark stiehlt — ja, was habe ich dagegen? Werde ich ihn bestrafen? Nein, ich w�rde mich sch�men, so gro�en Wert auf ein bi�chen Besitz zu legen, ich w�rde es gar nicht vornehm finden — die Gesellschaft aber glaubt das Recht zu haben, einem Menschen, der einen alten �berzieher gestohlen hat, ein St�ck seiner Seele zu stehlen. Ich begreife das nicht. �brigens keine Einzelheiten. M�ssen Sie nicht immer ein Auge schlie�en, wenn Sie auf die Gesellschaft blicken, oder beide Augen zuweilen, wie? Oder m�ssen Sie sich nicht sch�men oder erwacht der Gedanke nicht in Ihnen, fortzugehen, weit fort, zu den Wilden auf eine Insel, wohin kein Schiff aus Europa kommt, wie? Europa, jenem Kontinente der bestechenden Theorien und der schmutzigen Praxis. Sie werden sagen, Ehre, Gut, Leben m�ssen besch�tzt werden. Gut — obgleich ich finde, da� unsere Zeit zu viel Wert darauf legt. Man wirft den Verbrecher in den Kerker, jahrelang — ohne zu bedenken, da� das grausamer ist als jedes Verbrechen. Der Verbrecher hat sich am Besitz, am Leben eines anderen vergriffen, aber nicht an der Seele, wohlgemerkt, das aber tut die Gesellschaft. Sie martert die Seelen, sie l��t sie vermodern und verfaulen. Dabei handelt die Gesellschaft mit klarer �berlegung — k�nnte man fast sagen — aber der Verbrecher —? Nun?“

„Nun werden Sie aber sagen: Wenn ein Mensch jedoch ein Teufel ist, nicht wahr? Ja, aber mu� denn die Gesellschaft ebenfalls teuflisch sein? Was ist das anders als niedrige Rachsucht? Es mag ja Zeiten gegeben haben, wo all das am Platze war — aber heute? Das Leben w�re ja wohl nicht mehr so bequem und so ungef�hrlich, das mag sein. Aber w�re es nicht besser, wenn es ein wenig mehr gef�hrlich w�re und daf�r gerechter? �brigens haben schon viele Leute dar�ber nachgedacht und Reformen geschaffen, zum Beispiel in Amerika. Man kann nicht leugnen, da� es allm�hlich etwas lichter wird. Von der Todesstrafe will ich ja gar nicht sprechen.“

Adele dachte nach. Sie sch�ttelte den Kopf. „Wie soll man es aber anstellen?“ fragte sie. „Soll man die Verbrecher etwa alle auf eine Insel verschicken?“

„Nein, dann k�men ja auf dieser Insel alle Verbrecher und Kranken zusammen.“

Grau entwickelte ihr seine Gedanken. Arbeit und Schulen, Gelegenheit den Gefallenen gesund zu machen.

„Schulen?“

„Ja, Schulen, die ihn erziehen, die ihm die Augen �ffnen, ihn auf ein h�heres Niveau der Anschauung vom Leben, vom Menschen, der Gesellschaft stellen. Frische Luft, gute Nahrung, viele Bewegung, Spazierg�nge in Wald und Feld. Die Arbeit kann ja hart sein, in Bergwerken, Steinbr�chen, das ist einerlei, aber sie darf nicht alle Zeit in Anspruch nehmen, kaum die H�lfte des Tages.“

Adele hatte noch eine Frage. N�mlich, wenn das alles nichts helfe und der Verbrecher r�ckf�llig werde.

Wiederum Bergwerke, Steinbr�che, Schulen. Ja, wenn er wolle, k�nne er ja sein ganzes Leben in den Bergwerken arbeiten und t�glich ein paar Stunden spazieren gehen.

Ob Herr Grau nicht glaube, da� dadurch die Ziffer der Verbrecher steige, bei dieser linden Behandlung?

Nein, nimmermehr glaube er dies! Das moralische und ethische Bewu�tsein des Volkes w�rde gerade dadurch gehoben werden.

Hm. Ja, aber es g�be Verbrecher, eigenartig angelegte Menschen, die nicht eine Spur von einer moralischen oder ethischen Anlage in sich h�tten, es seien oft die schrecklichsten —

„Ein Landhaus f�r sie in einsamer Gegend, ein St�ck Gartenland.“

„Ein Landhaus!“ Adele lachte unwillk�rlich. Grau err�tete. Er blickte sie an. „Nun, nat�rlich, eine H�tte,“ sagte er sanft, „da m�gen sie hausen. Man kann sie nicht erziehen, man kann sie nicht bestrafen — aber sie sind aus dem Wege.“ Ja, die Gesellschaft m�sse es sich schon einiges kosten lassen, wenn sie leben wolle, wie sie es w�nsche.

Sie standen auf der Br�cke. „Leben Sie wohl nun,“ sagte Adele. „Das Gespr�ch hat mich angeregt, ich danke Ihnen.“

„Ich danke Ihnen!“ wehrte Grau ab. „Nicht weil Sie mir so aufmerksam zuh�rten, sondern f�r Ihr Interesse an diesem Gegenstand, Fr�ulein von Hennenbach.“ Das sagte er mit einem warmen Blick.

„Wie lange waren Sie denn bei den Gefangenen?“

„Leider nur ein Jahr.“

„Leider?“

„Ja. Ich w�re noch gerne bei ihnen geblieben, aber es hat sich nicht so gef�gt.“

„Weshalb?“

Grau l�chelte. „Die Wahrheit ist die,“ sagte er, „ich habe eine Brosch�re geschrieben, die einiges Aufsehen erregt hat, und man hat mich zur Strafe versetzt.“

„Ah!“ Adele gab ihm die Hand.

Grau dr�ckte Adeles Hand und sagte ganz unvermittelt: „Ich sehe Sie dann und wann in Ihrem Parke gehen, Fr�ulein von Hennenbach. Einmal da trugen Sie ein brennend rotes Kost�m. Sie kamen auch bis an die Mauer, es war ein japanisches Kost�m denke ich —“

Ja, es sei f�r den Liederkranzball am Faschingsmontag bestimmt. Sie liebe es sich zuweilen phantastisch zu kleiden.

„Einmal da gingen Sie ganz in Gold,“ fuhr Grau fort, „es sah aus als ginge ein Sonnenstrahl im Park spazieren, m�chte ich beinahe sagen.“ Er sah Adele lange an und dann nickte er. „Ich denke zuweilen an Sie,“ sagte er aufrichtig mit einem L�cheln auf den knabenhaften Lippen, „ich w�nsche, da� Ihr Leben reich und herrlich sein m�ge, denn Sie sind sehr sch�n! Ich habe stets ein eigent�mliches Gef�hl, wenn ich Sie sehe, Fr�ulein von Hennenbach, denn ich hatte einst einen sonderbaren Traum von einer Frau, der Sie sehr �hnlich sind —“

Adele err�tete etwas und l�chelte, um ihre Verlegenheit und Verwunderung zu verbergen. „Wollen Sie mir diesen Traum nicht erz�hlen?“

Nein, nein, das sei eine Geschichte f�r sich. „Leben Sie recht wohl.“ Er l�chelte und verbeugte sich, dann nahm er den Blumentopf mit der kleinen roten Tulpe auf den andern Arm und stieg zu Susannas H�uschen hinab. Er hatte M�he, gegen den Wind anzuk�mpfen, der heftig �ber die Felder blies.

Susanna hatte sich geschm�ckt.

Sechzehntes Kapitel

Ein Sonnenstrahl leuchtete in Susannas Stube umher, als Grau eintrat. In M�tterchens Glasschrank, dessen Scheiben halb blind waren, wurde es auf eine Weile tageshell und man sah all die Teller und Tassen, die da standen. Auf dem Fensterbrett, dem Tisch und der Kommode standen Blumen, Tulpen, Hyazinthen und ein kleiner bl�hender Baum, der genau wie ein bl�hender Kirschbaum in kleinem Format aussah, die Blumen gl�nzten und l�chelten als der Sonnenstrahl sie ber�hrte und die roten Tulpen gl�hten als hauche man auf rote Glut.

In der Mitte ihres Gartens sa� Susanna und l�chelte. Der Sonnenstrahl beleuchtete ihr Gesicht und ihre Augen gl�nzten wie dunkles Kupfer. Sie hatte sich geschm�ckt.

Um die �rmel ihres schwarzen Kleides hatte sie Spitzen gen�ht, um die Schultern hatte sie ein goldgelbes Seidentuch gelegt, es warf einen warmen Widerschein auf ihr schmales Gesicht. Hinter dem Kopfe lag ein wei�es Kissen. Es mochte sein, da� sie sich schlechter f�hlte, aber man konnte auch glauben, da� das wei�e Kissen den Zweck habe, die schwarzen Haare mehr zur Geltung zu bringen. Diese Haare waren mit gr��ter Sorgfalt frisiert, sie gl�nzten von irgend einer Salbe, die Z�pfchen, die �ber die Ohren herabhingen, waren zu B�ndern geflochten, und man konnte sich recht gut vorstellen, wie lange solche kleinen m�den H�nde wohl dazu brauchten.

Sie l�chelte als Grau eintrat und ihre Augen gl�nzten ihm entgegen. „Willkommen, mein Freund! Aber da haben Sie sich ja trotz meines Verbotes wiederum Ausgaben gemacht!“ Sie drohte ihm mit den Finger.

„Entschuldigen Sie nur, Fr�ulein Susanna!“ sagte Grau und lachte, indem er die kleine Tulpe auf den Tisch stellte. Er legte den Mantel ab, hauchte auf die Fingerspitzen, er stampfte auch mit den F��en, ganz als ob er zu Hause w�re. „Welche K�lte, dieser Winter scheint kein Ende zu nehmen. Nun, wie geht es?“ Er gab ihr die Hand.

„Gut. Ich habe sehr gut geschlafen.“

„Ich danke Ihnen f�r Ihren Brief, Fr�ulein Susanna!“ sagte Grau und hielt Susannas Hand. „Welch ein sch�ner und unverge�licher Brief!“ Sie habe sich gedrungen gef�hlt, ihm zu schreiben, denn sie verg��e so vieles zu sagen und manches lasse sich auch nicht erz�hlen. „Was gibt es neues?“ sagte Grau.

Endlich entzog ihm Susanna sanft die Hand.

„Sie sollten sich am Ofen w�rmen,“ sagte sie mit ihrer hohen feinen Stimme, „Sie sehen ganz durchgefroren aus!“

„Ja, neues? M�tterchen hat Streit mit Herrn Eisenhut gehabt; zum hundertsten Male hat er gedroht, ihr zu k�ndigen.“ Dann die Blumen. „Die wei�e Hyazinthe steht so matt da. �brigens sie riecht am allerfeinsten. Sie riecht wie ein feiner Apfel, nur noch feiner. Die wei�en haben �berhaupt den feinsten Duft, die blauen oder roten, auch sie riechen fein, aber es ist nicht das gleiche. Betrachten Sie die gelbe Tulpe. Sie hat ihre meisten Tage gesehen, sie stirbt. Sehen Sie, wie sie verzweifelt den Kelch �ffnet? Aber so riechen Sie doch daran — wie feinster Zimt, nicht wahr?“

„H�ren Sie, welch pr�chtige Menschen es doch auf der Welt gibt!“ rief Grau aus. „Da haben Sie diese alte Frau Sammet. Was tut sie, diese arme Kirchenmaus? Heute kommt sie wieder zu mir und bringt zw�lf Eier und ein halbes Pfund Butter. Ja, sage ich, was soll das eigentlich? Jetzt sind Sie erst vor acht Tagen dagewesen? Sie legt die Eier auf den K�chentisch und die Butter, aber sie r�ckt nicht mit der Sprache heraus. Es ist Montag, sagt sie. Sie nimmt auch kein Geld. Es ist Montag, sagt sie, sonst nichts. Also scheine ich jeden Montag meine zw�lf Eier und das halbe Pfund Butter zu bekommen — ist Ihnen so etwas schon im Leben passiert?“

„Sie ist Ihnen so dankbar, die alte Frau,“ sagte Susanna, „sie weint, so oft sie von Ihnen spricht.“

„Ah!“ sagte Grau und lachte und wandte sich ab. „Da haben Sie es, sie ist ein altes Weib. Wof�r, um Gottes willen, sollte sie mir zu danken haben? Nun rennt sie meilenweit in den D�rfern umher, um ihr bi�chen Brot zu verdienen, und bringt mir jeden Montag zw�lf Eier und ein halbes Pfund Butter — ja, vielleicht ist es ein Pfund, wer wei� es — f�r nichts, f�r rein nichts, solche Menschen gibt es unter der Sonne.“

„Sie soll jetzt eine gro�e Kundschaft haben. Sie hat sich einen kleinen Handwagen angeschafft. Das alles hat mir Adele erz�hlt.“

„Fr�ulein von Hennenbach?“

„Ja, sie war hier. Sie hat viel von Ihnen gesprochen.“

„Wie freundlich von ihr.“

„Adele hat mir das seidene Tuch hier geschenkt, auf eine kleine �u�erung hin, auch die Spitzen hier. Ich habe nur gesagt, die �rmel des Kleides sehen so kurz aus. Von ihr habe ich eine ganze Menge Neuigkeiten!“ Susanna l�chelte schelmisch und wichtigtuend. In ihren pechschwarzen Augen gl�nzten goldene Funken, Reflexe des Seidentuches. „Sie haben die alte Frau Sammet auch aufgefordert im Pfarrhaus zu wohnen, ist es nicht so?“

Grau sah erstaunt auf. „Grundg�tiger Himmel, welch eine Stadt ist das doch!“ sagte er. „Jeder Pflasterstein scheint ein Ohr zu haben. Ja, ich habe der alten Sammet dieses Anerbieten gemacht, weil ich vier Zimmer habe und weil ich dachte, sie k�nnte mir vielleicht ein wenig in der Wirtschaft helfen —“

„Aber Sie tun ja alles allein, nicht einmal die Stiefel lassen Sie sich von der K�stersfrau putzen.“ Susanna lachte.

Susanna l�chelte. „Wenn Sie w��ten, was ich alles erfahren habe! Ja, bei Gott, das ist eine Stadt, jeder Pflasterstein scheint ein Dutzend Ohren zu haben, da haben Sie recht!“ Sie lachte und klatschte ein wenig in die H�nde. Dabei verr�ckte sich das Kissen hinter ihrem R�cken und Grau eilte, ihr behilflich zu sein. Aber Susanna wurde dunkelrot und wehrte ab. Sie wollte nicht, da� er sehe, da� sie ausgewachsen war. „Es betrifft ihn, Herrn Eisenhut,“ fuhr sie leise fort, „er ist hier und M�tterchen spricht mit ihm — wegen einer Rechnung von zw�lf Mark ist ein langwieriger Krieg zwischen den beiden ausgebrochen — es betrifft ihn. Sie wissen nicht, was ich meine? Nein? Wie klug Sie es auch angestellt haben, es ist doch bekannt geworden. Ja, zuerst haben Sie einen Schulknaben herausgefischt und ihm das Versprechen abgenommen, nicht mehr hinter Herrn Eisenhut herzulaufen und Spottlieder zu singen, auch das Versprechen, da� er niemandem etwas sagen sollte, da� Sie mit ihm sprachen — dann einen zweiten und dritten und auf diese Weise alle zusammen, aber es ist doch bekannt geworden.“

Grau zog die Brauen zusammen, seine Augen wurden gro�, er sah niedergeschlagen und ungl�cklich aus. „Es ist also gl�cklich herausgekommen, wie?“ sagte er leise. „Ich h�tte es mir denken k�nnen, wenn ich ein klein wenig mehr gedacht h�tte, so h�tte ich es mir — ja, es war ein schlechter Einfall. Auf diese Rangen ist kein Verla�! Ich habe gedacht, sehen Sie, es war so, ich habe es gesehen, wie sie hinter Eisenhut herliefen und sangen. Er war ein wenig angetrunken. Sie sangen und schrieen und tanzten, grausam, wie Kinder sein k�nnen, die Polizei wollte sie verjagen, aber das gelang nat�rlich nicht, und nun sah ich, da� Eisenhut sich gegen alle umwandte und eine hilflose Geb�rde machte. Diese Geb�rde aber und vor allem sein Blick — nein, wie dumm ich es aber angestellt habe —“ Er sch�ttelte den Kopf und sah auf den Boden.

Susanna aber l�chelte und begann von neuem: „Sodann sagen die Leute, Sie seien eine Art Freidenker und gar kein Geistlicher, wie er sein soll. Auch sagt man, Sie lebten in Feindschaft mit dem Dekan in Weinberg.“

Grau schien gar nicht zuzuh�ren. Er blickte zum Fenster hinaus. Der Schnee sah eigent�mlich rot aus und die Wolken waren kupferrot und drohend. Aber rasch erbla�ten die Farben und ein schweres d�steres Grau schlug �ber die Erde zusammen. Nun wurde das Feuer im Ofen lebendig und tauchte Susannas Gesicht in zarte huschende Glut.

Grau sah Susanna an und l�chelte. „Wie sch�n das Feuer doch Ihr Gesicht macht,“ sagte er leise, gleichsam als spr�che er f�r sich selbst. Dann sagte er: „Was ist doch mit der Bank, von der Sie in Ihrem Briefe schrieben? Sie nannten sie ‚meine‘ Bank, es mu� also eine ganz besondere Bewandtnis mit der Bank haben? Wollen Sie mir nicht davon erz�hlen?“

Susanna z�gerte. Aber dann feuchtete sie die Lippen mit der kleinen Spitze ihrer Zunge an und begann: „Wenn man um das Haus herum geht, �ber den Bach hin�ber und dann die H�he hinaufsteigt, so kommt man an diese Bank. Hier sa� ich schon mit zw�lf Jahren. Aber nur dann und wann. Sp�ter �fter und endlich sa� ich jeden Abend dort, wenn die Sonne sank. Die Bank liegt so hoch! Von ihr aus sieht man ein St�ckchen von der Stadt und das sieht so friedlich aus, jenes St�ckchen, mit den alten H�usern und den vielen rauchenden Kaminen. Dann sieht man die breite Landstra�e weit hinab ins Tal ziehen und man sieht auch das Bahngeleise. So hoch liegt die Bank, da� man �ber das Bahnhofgeb�ude hinweg noch die Waggons auf den Rangiergeleisen stehen sieht. Noch etwas gutes hat die Bank, sie liegt so versteckt, m�ssen Sie wissen, da� jemand nahe an ihr vorbei gehen kann, ohne einen zu sehen. Dann hat sie auch im Sommer ein ordentliches Dach aus gr�nen Bl�ttern, so da� es nicht durchregnen kann. Das ist gut. Hier sa� ich und blickte �ber das Land hinaus und tr�umte. Ich tr�umte — ja, mein Gott, ich tr�umte alle m�glichen Dinge hier oben. Ich war jung, ich war fr�hlich! Ich tr�umte und tr�umte, aber da wurde es ganz eigen mit meinen Tr�umen. Was war es doch, ja, was sollte es sein? Was wollte ich hier und was nagte an meinem Herzen? — Ich wartete! Ich wartete! Das war es, ich wartete und wu�te nicht, worauf ich wartete. Ich wu�te es lange nicht, h�ren Sie, so lange, vielleicht zwei Jahre lang nicht. Aber ich wartete und ich dachte: Ja, worauf wartest du denn eigentlich? Ich wu�te nur, da� ich wartete. Was sollte denn kommen, wie und wann denn eigentlich? Nicht wahr? Aber ich sa� da und wartete, wartete und die Sonne ging unterdessen unter. Ich glaube, es gibt keinen Menschen auf der Welt, der so oft in die untergehende Sonne blickte wie ich! Auf der Landstra�e kam ein Wagen daher, ein Fu�g�nger, ein Tr�pplein Kinder. Sonst nichts. Heute? Ist es das? Ich blickte hin und her, weit hinein ins Land, weit hinab die Stra�e. Nun war die Sonne gesunken, ich ging nach Hause. Aber etwas in mir wartete unausgesetzt, auch auf dem Weg nach Hause, auch zu Hause, aber richtig und bestimmt wartete ich eigentlich nur oben auf der Bank.“ Sie schwieg.

„Weiter?“ sagte Grau leise. Er sa� und sah sie an.

Susanna feuchtete wieder die Lippen mit der Zungenspitze und fuhr fort: „Da sa� ich Tag f�r Tag, da droben auf der Bank, sah die Sonne sinken, und wartete und wu�te nicht, worauf ich wartete. So ging der Fr�hling und der Sommer und der Herbst und so ging der Winter. Ich wartete. Die Tage wurden lang, die Tage wurden kurz. Das konnte man so gut beobachten, am Expre�zug n�mlich. Ich h�re ihn auch jetzt noch jeden Nachmittag rauschen, aber ich kann ihn nicht mehr sehen, nur die kleine Postkutsche, die gelbe, die sehe ich jetzt. Im Sommer da war es lichter Tag, wenn er kam, er tauchte auf als kleiner Punkt zwischen den Feldern und roten D�chern der fernen D�rfer, flog heran und flog in die Ferne und lie� nichts zur�ck als einen kleinen Schreck und ein feines Klingen in der Luft. Im Fr�hling und Herbst da kam er in der D�mmerung, und im Winter da kann man ihn gar nicht sehen, nur ein feuriger Streifen fliegt vor�ber und man h�rt ihn donnern, viel lauter als im Sommer. Da fing es immer mit den Tr�umen an, wenn ich ihn sah, und ich hatte Sehnsucht mit ihm zu fahren. Ich reise leidenschaftlich gern, aber ich bin nie weit gekommen und nur zweimal kam ich fort. Ich und M�tterchen zusammen, wir sollten einsteigen, wir zwei, unsere Billete in der Hand — er sollte ja extra f�r uns beide halten! Ja, gro�er Himmel, wie oft habe ich das gedacht! Wie viele Reisen haben M�tterchen und ich zusammen gemacht! Und denken Sie sich, da� der Zug extra f�r uns zwei anhalten sollte, alles w�rde erstaunt sein, die Beamten, die Leute, auch die Reisenden, da� er h�lt in dieser kleinen Stadt, nicht wahr, ausnahmsweise sollte er anhalten. Vielleicht w�rde nun kein Platz sein und ein freundlicher alter Herr w�rde sein Reisegep�ck ins Netz legen und zu M�tterchen sagen: Wollen Madame nicht Platz nehmen? Vielleicht w�re es ein Franzose und er w�rde uns franz�sisch ansprechen. Vielleicht aber w�rde nun noch nicht Platz f�r mich sein und der freundliche alte Herr w�rde die Zeitung zusammenlegen und sagen: Wollen Sie nicht meinen Platz nehmen? Mille merci, monsieur, w�rde ich sagen, ich stehe sehr gern und sehe zum Fenster hinaus. Der Zug kommt von Paris und geht nach Wien, und von Wien geht er weiter — immer weiter, bis Konstantinopel. Ja, bei Gott, wie viele N�chte schl�ft man wohl, bis er endlich, endlich h�lt? Nun, was gibt es da nicht zu tr�umen? Man konnte einmal nach Paris fahren, einmal aber nach Konstantinopel, wie man wollte. Paris, Paris, dachte ich, so weit ist es, so fern, es lockt, schon der Name, nicht wahr? Und ich dachte an Paris und ich stellte es mir vor wie eine Stadt, in der immer ein Feuerwerk ist und die Leute Feste feiern und in den Stra�en ziehen, als ob jeden Tag ein K�nig zu empfangen w�re. Welche H�te sie dort tragen, welche Kleider, wie sie sich verbeugen, verneigen und alle fein und grazi�s sprechen und so schnell, da� niemand sie verstehen kann. Dann m��te es auch hohe spitze T�rme haben, die in der Sonne funkelten, denn die D�cher der spitzen T�rme waren vergoldet. Und die Museen so still, so k�hl, gr�ne Grotten, und da m��ten die Statuen aus Marmor stehen, so sch�n und so alt, und die sie mei�elten sind lange tot. Von daher kommt der Zug, und er saust und saust und zuweilen heult er in gro�en Bahnh�fen und wenn Sie hinausblicken, so blenden Sie all die vielen Bogenlampen, die da h�ngen. Aber je weiter er nach dem Osten f�hrt, desto niedriger werden die H�user und ich stellte mir die fremden St�dte vor, viele, viele fremde St�dte mit dicken, runden T�rmen und roten und gelben D�chern. Sogar die Menschen stellte ich mir kleiner vor, dick mit runden Backen, in gelben und roten Kleidern. Wenn Sie nun hinhorchen, was sie sprechen, so verstehen Sie keine Silbe mehr, denn sie sprechen alle eine fremde Sprache. Pl�tzlich aber hielt der Zug und da sind wir nun. Da ist die Sonne, so viele, viele Sonne und — Palmen! Die Sonne ist wie ein hei�er Nebel und wenn Sie gehen, so durchdringt Sie die Sonne und Sie f�hlen, wie Sie warm werden und gl�hen durch und durch und pl�tzlich kommt ein neuer Geist �ber Sie. K�nnen Sie sich diese Sonne vorstellen, die ich meine?“

Sie blickte Grau an und wartete. �ber ihr Gesicht huschte der Schein des Feuers. Sie zog das Tuch um die Schultern, als ob sie friere, und wandte die gro�en Augen dem Feuer zu. Sie l�chelte.

„K�nnen Sie sich diese Sonne vorstellen, die ich meine, gerade diese Sonne?“ fragte sie, da Grau nicht antwortete.

„Ja,“ sagte Grau mit auffallend tiefer Stimme. Das aber war wahr, denn er sah diese Sonne vor sich, gerade diese Sonne — er, der so viel von Licht und Sonne tr�umte — er sah diese Palmen, in einem Nebel von Sonne zittern, genau wie Susanna es beschrieb.

Susanna l�chelte und fuhr mit hoher, d�nner Stimme fort: „Die Leute aber haben einen Turban auf, rot oder gr�n oder gelb, mit Edelsteinen �bers�t, und sie rauchen aus langen Pfeifen. Sie sehen aber so aus als ob sie in Teppiche geh�llt w�ren, und nun k�nnen Sie sich wohl vorstellen, wie das blitzt und funkelt, zumal wenn die Pfeifen aus Gold und Silber und mit Edelsteinen besetzt sind — und wie h�bsch sich der Rauch aus dieser Unmenge von Pfeifen in der Sonne ausnimmt. Die T�rme sind spitz wie Nadeln und funkeln ebenfalls, es gibt viele, viele Kuppeln aus farbigem Glas, die Sonne leuchtet und leuchtet durch alles hindurch, so da� alles durchsichtig aussieht, die T�rme, die Kuppeln, die Leute, die Gesichter, die Palmen, die Kamele und Elefanten — denn da gibt es unz�hlige! — die Pfeifen — k�nnen Sie sich das vorstellen?“

Je mehr Susanna sprach, desto gl�nzender und gr��er wurden ihre schwarzen Augen, und je mehr sie von der Sonne sprach, desto mehr fr�stelte sie. Zuweilen sprach sie ganz langsam und ihre kleinen abgezehrten H�nde beschrieben alles mit, was sie erz�hlte. Wenn sie Turban sagte, so tat sie, als schlinge sie sich ein Tuch um die Stirne, sprach sie von den Pfeifen, so fuhr sie wagrecht von den Lippen aus mit den Fingerspitzen in die Luft, dann formte sie den Pfeifenkopf und darauf lie� sie die Finger emporwirbeln, da� man den Rauch ordentlich emporsteigen sah. Sprach sie von den Elefanten, so machte sie die Augen klein und listig und zeichnete sich einen langen R�ssel an die Nase. Meistens aber sprach sie hastig, wie im Fieber, und ihre eingesunkene schmale Brust arbeitete krampfhaft. Auf ihren Wangen erbl�hten giftige Rosen.

Sie fror. Sie legte die Fingerspitzen an die Wangen, ihre Augen fieberten, ihr Mund l�chelte.

„Nun rennt einer auf uns zu und schreit und br�llt. M�tterchen bekommt Angst. Was will er nur? fragt sie, dieser T�rke. Vielleicht will er deine Tasche tragen, M�tterchen. Ich f�hle mich gar nicht wohl bei diesen Ungl�ubigen. Sage ich: Sie glauben an Gott wie wir, M�tterchen, und pl�tzlich spreche ich t�rkisch! H�ren Sie, ich spreche t�rkisch! Ich �ffne den Mund und es geht, ich verstehe, ich spreche. Haha — M�tterchen steht da und staunt, und die T�rken paffen aus ihren Pfeifen und lachen �ber sie. Ich aber erkl�re ihnen, da� das meine Mutter ist. Da nehmen sie alle die Pfeifen aus dem Munde, alle, alle, und verneigen sich bis zur — bis zur Erde —“

Susanna hielt inne und lauschte.

Man h�rte M�tterchen in der K�che drau�en mit Geschirr klappern. Man vernahm auch Eisenhuts Stimme. Er sagte etwas und M�tterchen machte pst, pst! Aber Eisenhut k�mmerte sich nicht darum. Er sagte laut: „Ach was! Machen Sie doch keine solche Wirtschaft! Es ist sein Beruf Krankenbesuche zu machen, daf�r wird er ja bezahlt, punktum.“ Er sagte es absichtlich laut, damit man es durch die T�re h�re. M�tterchen schrie leise auf und sagte: Pst, pst! Eine Tasse klirrte am Boden und Eisenhut lachte belustigt. Er meckerte nicht, er lachte ganz anders als sonst.

Es war still im Zimmer und man h�rte die kleine Uhr ticken und schnarchen, denn die kleine Uhr hatte die Angewohnheit zuweilen zu schnarchen, als ob sie aufatme.

Susanna err�tete, ganz langsam stieg ihr das Blut ins Gesicht, w�hrend sie die gro�en Lider niederschlug, die an die Lider eines Vogels erinnerten. Sie sa� still, bewegungslos und wagte kaum zu atmen.

„Wie geht es weiter mit Ihren T�rken?“ fragte Grau.

Aber Susanna wandte ihm den Blick zu, mit einer hilflosen Bewegung der H�nde fl�sterte sie hastig: „Er hat getrunken, Sie h�ren es am Lachen. Er hat auch sein Gewehr dabei, da steht es zumeist schlimm um ihn. Dann kann er so boshaft sein, so schrecklich boshaft.“

Grau lachte. „Er wollte M�tterchen erschrecken, das tut mir leid,“ sagte er absichtlich laut. „Was seine Bemerkung anbetrifft, so wei� er recht gut, da� ich so etwas richtig auszulegen verstehe. Er wei� es recht gut, denn er ist klug, Herr Eisenhut!“

Eisenhut r�usperte sich in der K�che.

„Freilich! Sie sind so vern�nftig,“ hauchte Susanna. „Nun wird M�tterchen sich aber nicht ins Zimmer wagen?“

„Klingeln Sie ihr!“

Susanna klingelte und M�tterchen erschien zaghaft in der T�re. Sie trug ein Servierbrettchen in der Hand.

„Die Zeitung — die Zeitung, nehmen Sie die Zeitung nur mit!“ rief Eisenhut, dessen ger�tetes Gesicht in der T�rspalte erschien. Er beugte sich vor und legte ein Zeitungsblatt auf das Servierbrett. „F�r ihn, f�r Herrn Grau!“ f�gte er hinzu und lachte und zog die T�r zu.

Susanna wurde gl�hend rot. M�tterchen wagte Grau nicht in die Augen zu blicken. „Wenn der Herr mir die Ehre antun wollen?“

Grau dankte. Er wechselte einige Worte mit M�tterchen und M�tterchen schlich sich wieder hinaus.

„So ist es gut!“ sagte Susanna mit einem dankbaren Blick. „Nun ist sie gl�cklich! Was ist es denn mit der ‚Zeitung‘?“ fragte sie. „Was will er nur damit?“

Grau fand eine angestrichene Notiz: Der Geselle Anton Hammerbacher hat vor dem Vormundsgericht die Vaterschaft des Kindes der Dienstmagd Margarete Sammet eingestanden. An den Rand hatte Eisenhut geschrieben: „Seiner Aussage ist unbedingter Glaube zu schenken — hahaha! Eisenhut!“

Grau verbarg rasch sein Erstaunen.

„Aber Ihre Notiz in der Zeitung?“ sagte Susanna.

Grau zuckte die Achseln. „Man kann sich t�uschen,“ sagte er, „aber k�mmern wir uns nicht um diese Geschichten, Fr�ulein Susanna!“ Wie sonderbar, dachte er, deshalb hat wohl Herr Eisenhut getrunken, weil diese Notiz erschien! Ein merkw�rdiger Mann! Er l�chelte und wandte Susanna den Blick zu und sie mu�te ihn ansehen. Susanna besann sich, was Graus Blick zu bedeuten habe.

„Sie haben nicht zu Ende erz�hlt.“

Susanna sch�ttelte den kleinen Kopf. Alle Lust habe sie verloren.

„Sie haben angefangen, Sie m�ssen fortfahren,“ beharrte Grau und sah Susanna in die Augen, „bis ans Ende m�ssen Sie erz�hlen. Sie sind �brigens pl�tzlich mit dem Expre�zug davon gefahren, und was ist aus Ihrer Bank geworden? Die haben Sie wohl ganz vergessen?“

Susanna sah ganz erschrocken aus. Ja, bei Gott, da habe sie g�nzlich diese Bank vergessen! „Wie aufmerksam Sie doch zuh�ren?“ sagte sie und richtete sich auf. „Ich habe die Bank vergessen, das ist wahr. Ich — ja, lassen wir die T�rken sein. Was wollte ich doch bei den T�rken? Ich werde Ihnen erz�hlen, denn ich mu� Ihnen alles sagen. Ich mu�! Sprechen Sie, wie ist das: Sie sagen, erz�hlen Sie, Sie sagen ein kleines Wort und ich mu� Ihnen folgen. Sie sehen mich an und ich mu�. — Adele hat mir erz�hlt, Sie sind bei einem schwerkranken Flickschneider gewesen, der vor Schmerzen nicht schlafen konnte, und Sie haben zu ihm gesagt: ‚Schlafen Sie‘ und sahen ihn an. Da schlief er.“

Grau sch�ttelte den Kopf.

„Doch!“ sagte Susanna. „Die ganze Stadt spricht dar�ber, selbst die �rzte, denn sie konnten ihn ja nicht mehr einschl�fern.“

Grau l�chelte.

„Er schlief ja fast schon, Fr�ulein Susanna. Da legte ich ihm die Hand auf die Stirn und sagte: Schlafen Sie — das ist alles.“

Susanna lachte und hustete. „Ich sagte ja ganz dasselbe, mein Freund, nichts andres. Es ist ja so merkw�rdig mit Ihnen. Sie kamen zu mir herein und sofort begann ich zu erz�hlen, Dinge, die ich noch niemand erz�hlt habe, und doch waren Sie ein Fremder. Aber ja, ich will fortfahren, lassen Sie mich alles sagen. Es tut gut. Ich liebe es. Wir waren bei den T�rken, nicht wahr? Bei den Tr�umen, ja.“

„Die Sie tr�umten, w�hrend Sie auf der Bank da droben sa�en und warteten.“

„Ja, als ich wartete.“

„Sie warteten und wu�ten es lange nicht, worauf sie warteten. Vielleicht zwei Jahre lang wu�ten Sie es nicht.“

Susanna l�chelte fein. „Wie gut Sie aufmerken!“ wiederholte sie. „Jedes Wort wissen Sie. Ja, damit fing ich an und dann verga� ich es ganz und verlor mich in Tr�umen. Es passiert mir jetzt h�ufig, da� ich den Faden der Erz�hlung verliere, mein Ged�chtnis wird sehr schlecht, auch ist es mir oft so schwer mich zu sammeln. Lassen Sie mich nachdenken. Ich wartete, sagte ich, ja, ich wartete und die Tage gingen, Fr�hling ging, Sommer ging, Herbst ging, Winter ging — die Jahre gingen und ich wartete. Jeden Abend sa� ich da oben auf der Bank und wartete ohne zu wissen, worauf. Ich spann Tr�ume, ich tr�umte all diese Dinge, von denen ich Ihnen erz�hlte, immer neues, immer mehr. Aber die Traume f�llten mich nicht aus. Es blieb eine gro�e Leere und diese gro�e Leere habe ich fast wie eine H�hlung in mir, in der Brust, gef�hlt, wie ein Loch, wo gar nichts war: Das war das Warten. Ich wartete immer sehns�chtiger, aber nie war ich ungeduldig. Es gab manches in unserer Familie, nicht besonders viel, aber doch einiges. Wie Vater seine Stellung aufgab — da litt ich, f�r Vater, f�r M�tterchen, wir standen so allein, wir zwei, und mu�ten uns verkriechen und allein sein. Wir wollten es auch so. Es ging uns auch zeitweise etwas knapp. Aber ich sage Ihnen, ich habe nie Hunger gelitten, denn M�tterchen, h�ren Sie, sie kann ja auch aus nichts etwas machen und immer fand sie etwas. Ich war nie ungeduldig. Ich wartete und dachte, man m�sse etwas Geduld haben. Es konnte nicht so bald kommen, wiederum aber konnte es doch schon morgen oder �bermorgen da sein. Und ich sehnte mich und wartete. Und endlich, endlich, da wu�te ich, worauf ich wartete. Ich wartete auf etwas Seltenes!“

Susanna hielt inne und sah Grau an. Ihre Augen waren gro� und gl�hend. „Seltenes!“ wiederholte sie und sie sprach das Wort aus wie ein unheimliches fremdes tiefes Wort. Dann l�chelte sie schmerzlich und indem sie ins Feuer starrte fuhr sie fort: „Auf etwas Seltenes und Gro�es! Nicht auf etwas Allt�gliches, nein, auf etwas, das nicht jeden Tag zu den Menschen kommt, auf etwas Seltenes und Gro�es. Vielleicht so gro� und selten, da� mein Herz es nicht ertr�ge. Aber was w�rde wohl gr��er, s��er und seltener sein, als eben etwas, das unser Herz nicht ertr�ge? Oh, so unfa�bar sollte es sein. Ich stellte mir das Unfa�bare, dieses Seltene vor. Es erf�llte mich, es blendete mich und oft schlug ich die H�nde vors Gesicht und lachte und weinte: Weil es so gro�, so herrlich, so blendend und so selten war. Aber ich wu�te ja nichts davon?“

Susannas Stimme sank zu einem Fl�stern herab, das L�cheln irrte hin und her auf ihren Lippen, sie senkte den Kopf. Sie f�gte leise und singend hinzu: „Und ich tr�umte davon — wie es wohl sein w�rde — wenn das Seltene mich verkl�rte — wenn es mich niederbeugen w�rde mit seiner s��en Schwere — niederbeugen — wie der Tau — der Tau die kleine Glockenblume niederbeugt — wenn der gro�e Tag erschien, da es kann —“

Susannas Stimme erstarb. Sie l�chelte und blickte in das Feuer. Lange. Aber dann, mit einer pl�tzlichen, unerwarteten Bewegung schlug sie die H�nde heftig vors Gesicht und kr�mmte sich zusammen. Sie kr�mmte sich wie unter einer Last, sie bog den Kopf und die Brust vor und ihre Stirne dr�ckte sich auf die Knie. Ihre schmalen Schultern zuckten. Das geschah so schnell und mit solch schmerzlicher Leidenschaft, da� Grau erschrak und vom Stuhle auffuhr. Susanna kr�mmte sich tiefer und pre�te die Stirn zwischen die Knie, ihre Schultern zuckten und sie begann am ganzen K�rper zu beben. Pl�tzlich fing sie an zu husten. Sie hustete pfeifend und schrecklich, sie nahm eine Hand vom Gesicht und winkte Grau, hinauszugehen.

Grau verlie� das Zimmer. Ihm schwindelte und sein Herz pochte laut in der Brust. Es war kalt hier au�en, die D�mmerung war grau und des Winters tr�bes, vergr�mtes Gesicht stand riesengro� �ber die Erde gebeugt.

Er ging wieder hinein. Susanna l�chelte heiter. Sie war sehr bleich. Sie reichte ihm die Hand hin und sagte: „Vergessen Sie es. So t�richt war es von mir. Wie konnte es doch so heftig �ber mich kommen! Es ist ja nicht so, schon lange ist es ja nicht mehr so.“

„Erz�hlen Sie weiter!“ sagte Grau leise und blickte Susanna an.

Und Susanna fuhr fort: „Es verging ein Jahr und wieder ein Jahr, Jahr um Jahr verging. Nein, es kam nicht! Und so ist es: Zuerst, da hat die Frage gesungen in mir. Es klang: Wann kommt es? Und ich bebte vor Sehnsucht und Freude der Erwartung. Ich stand auf dabei und mu�te einige Schritte gehen. Die Zeit verstrich und nie kam es. Nun sang die Frage nicht mehr in mir. Nun war es ganz leise und ohne Musik: Wann kommt es? Und ich bebte wohl noch ein bi�chen, aber es war nicht das alte Beben, ich stand auch nicht mehr auf, nein, ich f�hlte wie die F��e mir etwas schwer wurden. Und jetzt? Jetzt wei� ich, da� es ein Traum war, der Traum eines jungen M�dchens, wie jede ihn tr�umt. Ja, aber doch denke ich zuweilen noch — zuweilen klingt es noch in mir: Es kommt doch, es kommt doch!“

Sie l�chelte und blickte Grau an.

Und Grau sagte leise: „Warum sollte es nicht mehr kommen?“

Susanna sch�ttelte langsam den Kopf. Sie antwortete nichts. Dann sch�ttelte sie wieder den Kopf und sie sagte heiter: „Nein, ich glaube es nicht mehr, das ist es. Fr�her hoffte ich und ich glaubte, da� es k�me, jetzt hoffe ich zuweilen noch — ach, selbst wenn man verzweifelt, hofft man ja noch — aber ich glaube es nicht mehr. Ich bin nicht ungl�cklich. Das kommt vielleicht von der Krankheit, da� ich nichts mehr w�nsche. Einen Wunsch habe ich noch, wissen Sie welchen?“ Aber ehe Grau antworten konnte, f�gte sie hinzu: „Ich m�chte noch einmal die Blumen auf dem Felde sehen.“

Grau stand hastig auf und ging in der Stube umher. „H�ren Sie, Fr�ulein Susanna,“ sagte er und lachte halblaut, „h�ren Sie, Fr�ulein Susanna,“ wiederholte er und lachte, „Sie sind bescheiden, das mu� man sagen, zu bescheiden!“

Susanna betrachtete ihn erstaunt und folgte ihm mit den Blicken.

Grau ging an ihren Sessel heran und l�chelte. „So �berm��ig bescheiden brauchen Sie nun gerade nicht zu sein. Vielleicht werden Sie noch die Welt sehen, ja, wer kann es wissen, vielleicht werden Sie noch dieses Paris sehen, wo ein ewiges Feuerwerk knattert und die Statuen in den k�hlen, gr�nen Grotten der Museen stehen und diese Sonne, die wie ein hei�er Nebel ist, diese Muselm�nner mit den Pfeifen. Sie und M�tterchen, wer kann es denn wissen? Und das, worauf Sie warten, das Seltene, ja, warum um alles in der Welt sollte es denn nicht mehr kommen? Nun sind Sie krank und m�de, aber sobald es Fr�hling wird — meine Freundin, meine liebe Freundin?“

Susanna blickte ihn an und ihre Augen f�llten sich langsam mit Traurigkeit. Sie sch�ttelte langsam den Kopf und l�chelte mit den traurigen Augen. Sie sagte nichts.

„Sobald es Fr�hling wird,“ wiederholte Grau, und seine Augen nahmen einen bannenden Ausdruck an, „da werden Sie ganz anders denken!“ Er l�chelte und begann im Zimmer umherzugehen. Sie sprachen nichts mehr. Die Uhr tickte und schnarchte und in der K�che drau�en gackerten die Hennen, die gef�ttert wurden. Grau stand am Fenster und blickte hinaus, der Schnee leuchtete in tiefem Violett. Er ging an den Glasschrank und blickte hinein, er betrachtete eine Photographie an der Wand. Von Zeit zu Zeit richtete er den Blick auf Susanna. Es wurde ganz dunkel im Zimmer. Pl�tzlich ging Grau auf Susannas Sessel zu. Es war so dunkel, da� er nur ihre H�nde, ihr Gesicht und den Glanz der Augen sah. Er legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls und blickte Susanna lange an.

„Haben Sie da droben auf der Bank nicht auch von Liebe getr�umt?“ fragte er fl�sternd.

Susannas Blick wurde starr. Ihr Gesicht sah pl�tzlich viel dunkler aus, sie err�tete. Sie regte sich nicht, sie sah ihn an.

Grau ging langsam weg; er trat ans Fenster. Hier stand er lange, dann verabschiedete er sich hastig. „Gr��en Sie M�tterchen, Susanna,“ sagte er. „Auf Wiedersehen.“ Er ging.

Als er das G�rtchen durchschritten hatte, blieb er am T�rchen stehen und z�gerte es ins Schlo� zu werfen. Er blickte auf das Fenster und wartete. Da erschien ein kleines, fahles Gesicht an der dunkeln Scheibe, er warf das T�rchen ins Schlo� und ging rasch weg.

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Der Liederkranzball bildete den Glanzpunkt des gesellschaftlichen Lebens in der kleinen Stadt und kehrte seit undenkbarer Zeit ebenso sicher wieder wie der Faschingsmontag. Die ganze Stadt lebte davon, ob man nun dabei war, am Hotel stand und die Masken hineingehen sah, oder nur die Berichte des „Gauboten“ las, der alle Reden, humoristischen Vortr�ge usw. ausf�hrlich brachte, ganz einerlei. F�r dieses Jahr hatte der „Gaubote“ als Programm angek�ndigt: Im Reiche der Mitte. „Nachdem am Sonntag ein lustiges Maskentreiben die sonst vom gewerblichen Flei� widerhallenden Stra�en unserer geliebten Vaterstadt erf�llte —“

Dieses lustige Maskentreiben bestand darin, da� ein paar Hanswurste mit Schweinsblasen knallten und ein als Frau verkleideter Schlotfegergeselle auf einem Fahrrade hin- und herraste, abgesehen von einigen Kindern, die als Tiroler, Rotk�ppchen und Clowne verkleidet in den Stra�en einherstolzierten.

Auch von dem Ball des Liederkranzes zu reden w�rde sich kaum lohnen, wenn sich dabei nicht einige recht sonderbare Dinge ereignet h�tten.

Grau war von verschiedenen Seiten eingeladen worden, aber er hatte keine Lust, den Ball zu besuchen. Er verbrachte den Abend in der Gesellschaft von Susanna und M�tterchen.

Sie leerten jene Flasche Rotwein, die Grau von seinem Freunde, dem Gef�ngnisdirektor, seinerzeit auf die Reise mitbekommen hatte, sie tranken, lachten und plauderten und M�tterchen hatte ordentlich aufgekocht. Es war schon sp�t als Grau aufbrach um nach Hause zu gehen. Er schritt �ber den Marktplatz und pl�tzlich bemerkte er einen Burschen mit heller Bluse, einer niedrigen Kappe und einem starken Nacken; der Bursche stand gerade vor dem festlich beleuchteten „Elefanten“ und blickte ins Tor hinein. Es war Hammerbacher. Grau blieb stehen.

Er suchte Hammerbacher seit einigen Tagen, konnte ihn aber nirgends finden. So viel er h�rte, hatte der Geselle seine Stelle verlassen und trank mit einigen Burschen in den Wirtschaften der Umgebung — seit jenem Tage, da die Notiz in der Zeitung gestanden hatte.

Grau war so erregt, da� er augenblicklich auf den Burschen zugehen wollte, aber er besann sich. Er ging �ber den Platz und beobachtete von hier aus den Burschen. Hammerbacher ging hin und her, wie ein Posten. Zuweilen stampfte er auf den Boden, um die F��e warm zu halten, und jedesmal, wenn er am Tore vorbei kam, blieb er eine Weile stehen und lugte hinein. Er sch�ttelte den Kopf, blickte auf die Uhr und begann wiederum seine Wanderung. Er wartete! Ja, nat�rlich, er wartete! Es gab nichts mehr zu sehen, kein Mensch stand mehr vor dem Hotel, es war �berdies empfindlich kalt. Aber Grau wollte ganz sicher gehen, er ging unten am Platze eine halbe Stunde lang auf und ab, w�hrend Hammerbacher vor dem Hotel Posten stand. Ein merkw�rdiger Gedanke stieg in ihm auf.

So rasch wie m�glich eilte Grau nach Hause, kleidete sich um und nach einer kleinen Weile kam er wieder rasch die Stufen herab.

Die helle Bluse Hammerbachers leuchtete gerade unter dem Tore. Er wartete immer noch.

Grau ber�hrte Hammerbachers Schulter und sagte: „W�nschen Sie, da� ich den Herrn herunterrufe, ich gehe gerade hinein?“

Hammerbacher fuhr herum, er blickte Grau erschrocken an, schlug die Augen nieder und nahm die Kappe ab. „Guten Abend.“

„Nun, wie steht es, soll ich den Herrn herunterrufen? Es ist nicht sehr angenehm zu warten in dieser K�lte, nicht wahr?“

„Welchen Herrn?“

„Wie gut wir uns verstehen!“ sagte Grau und blickte den Burschen scharf an. „Ist es nicht merkw�rdig, wie gut wir uns verstehen?“

Hammerbacher l�chelte verlegen. „Ich habe damals gelogen, als ich bei Ihnen war, aus Not — sie lie�en mir keine Ruhe mehr — dieses Gestichel —“

Grau sch�ttelte den Kopf: „Wie konnten Sie nur so etwas tun?“ sagte er mit mildem Vorwurf. „Das h�tten Sie nicht tun sollen, es hat Sie befleckt f�r immer. Nein, sagen Sie mir nichts, ich wei� wohl, wann Sie gelogen haben, Hammerbacher. Damals haben Sie nicht gelogen, denn damals konnten Sie gar nicht l�gen, das wissen Sie recht wohl!“

Sie h�tten ihm ja keine Ruhe mehr gelassen.

Grau sch�ttelte den Kopf. „Geben Sie sich weiter keine M�he mehr!“ rief er zornig aus. „Ich habe mir recht wohl gedacht, da� Sie zu Dem und Jenem f�hig sein k�nnten, deshalb habe ich Ihnen so dringend nahe gelegt das Andenken jenes ungl�cklichen M�dchens hoch zu halten. Seien Sie nur still! Ich will Ihnen das eine sagen, da� Sie von meiner Seite aus nicht das geringste zu bef�rchten haben werden. Aber ich werde nicht ruhen — ich werde nicht eher ruhen! — bis ich jenen Herrn gefunden habe, der Sie beschw�tzt hat, um ihn an seine Pflicht zu erinnern. Sagen Sie ihm das! Leben Sie wohl — wenn Sie einmal einen Rat brauchen, ich stehe zu Ihrer Verf�gung. Es l��t sich noch alles in Ordnung bringen, �berlegen Sie es!“

Grau stieg hinauf in den Saal, wo er mitten in den Trubel des Festes trat.

Der Saal war angef�llt von Menschen, er war so voll, da� man sich kaum bewegen konnte. Alles lachte, schrie, ri� den Mund auf, alle waren in �berm�tiger, vom Tanzen und Trinken erregter Stimmung. Eine Menge von Chinesinnen und Chinesen in allen denkbaren Kost�men und Farben schob sich hin und her und wo man hinsah, erblickte man Z�pfe, Pfauenfedern, Schirme, F�cher, breite chinesische H�te, in fortw�hrender Bewegung. Der Saal aber hatte sich verwandelt in eine chinesische Stra�e mit Tee-, Kaffee-, Sekt-, Wein-, Bier- und Verkaufsbuden; bunte schmale T�cher mit phantastischen Drachen und Schriftzeichen hingen von der Decke herab und �berall brannten Lampione in allen Farben und Formen, klein, nicht gr��er als eine Faust, m�chtig gro� und dick wie ein Fa�, gl�hend rot, zart und schimmernd und manche verbla�ten vollst�ndig in all dem Rauch und Dunst, der aus der lachenden, treibenden Menge emporstieg.

Grau hatte keine Zeit alles genau zu betrachten, er begann augenblicklich fieberhaft zu suchen.

Der erste Bekannte, den er sah, war Eisenhut. Er trug ein ungl�ckliches, gelbes Kost�m, eine Art Sack mit weiten �rmeln, eine gelbe runde M�tze und merkw�rdigerweise einen hohen Stehkragen, in den er den Spitzbart dr�ckte, so da� er wie ein Pinsel vorsprang. Er trug eine gelbe Maske, aber jeder mu�te ihn sofort erkennen, an seinem Spitzbart, den tiefen Furchen um den Mund, der K�rperhaltung. Er schlich sich durch die Menge und seine kleinen Augen lugten mit komischer Lebhaftigkeit aus den Schlitzen der Maske, er ging, als wolle er alles sehen und selbst nicht gesehen werden.

Einen Augenblick lang ruhten ihre Blicke ineinander, aber Grau blickte weg, als ob er ihn gar nicht kenne. Er wollte ihm die Freude nicht rauben. Zwei Chinesinnen st�rzten auf Eisenhut zu und dr�ngten ihm Zigaretten auf, aber Eisenhut machte eine �rgerliche Handbewegung und entfloh zu einer Weinbude, wo er rasch ein Glas Wein hinunterst�rzte.

Die Menge kam aus irgend einem Anla� in Bewegung und Grau wurde dicht ans Orchester gedr�ckt, wo ihm die Ba�trompete direkt ins Ohr pl�rrte. Er verlor Eisenhut aus den Augen. Pl�tzlich wurde er von zwei Seiten angepackt. „Herr Grau, Herr Grau!“

Es waren die Schwestern Sinding, die ihn best�rmten, Sie hatten gl�hendrote Wangen. In ihren losen Kost�men sahen beide etwas dick aus. Hahaha, also er sei doch hier! Welch ein L�rm, abscheulich, puh! Aber er sei wohl Nichtraucher?

„Wir haben Zigaretten zu verkaufen — buh, buh!“ Klara Sinding winkte der Ba�trompete still zu sein. „Es geht lustig zu! Ja, wir sind heute alle vergn�gt!“

„Im Gegenteil, ich rauche leidenschaftlich gern!“ sagte Grau und er erstand ein Paket Zigaretten.

„Wie gef�llt es Ihnen? Bitte, Feuer!“

„Ganz pr�chtig!“ sagte Grau und paffte. „Ganz herrlich ist das.“

Die beiden M�dchen sahen einander an und dann riefen sie wie aus einem Munde aus: „Aber wir haben ja ganz vergessen zu gratulieren! Herzlichsten Gl�ckwunsch! Allerherzlichsten Gl�ckwunsch!“

„Danke! Danke!“ Grau verneigte sich.

„Wir waren so �berrascht, als wir es in der Zeitung lasen! Und wie sehr wir uns gefreut haben! Wie gl�cklich Susanna ist! Und M�tterchen erst! M�tterchen hat die Zeitung mit der Anzeige na� geweint! Ja, so herzlich haben wir uns dar�ber gefreut! Wir lieben Susanna!“ Hahaha — diese ganz abscheuliche Ba�trompete!

Sie plauderten und es trat noch eine Chinesin zu ihnen, ein hoch aufgeschossenes M�dchen mit vorstehenden langen Z�hnen, die eine eigent�mliche Art hatte den Kopf langsam auf den Schultern zu drehen. Dann rannte eine pechschwarze J�din heran, die Grau einen F�cher aufschw�tzte, es kam noch eine Chinesin, die Orangen zu verkaufen hatte, ein kleines h��liches M�dchen mit stumpfer Nase und gro�en Ohren, eine andere, und schlie�lich stand ein ganzer Kreis von M�dchen um Grau herum. Alle lachten, schw�tzten und sahen Grau an.

„Gestatten Sie, da� ich vorstelle — Fr�ulein Anna Mohr —“

„Keine Namen, keine Namen! Es ist ja Fasching!“ schrien die Damen.

Grau lachte und rauchte die Zigaretten. „Ich habe gar nicht gewu�t, da� es so viele sch�ne Damen in der Stadt gibt?“ sagte er und sah alle der Reihe nach an. Sein Blick war ruhig und rein.

Die M�dchen lachten.

„Wir wollen ihn fragen —“ Aber ja! Sie wollten fragen, welche die sch�nste von ihnen sei.

„Welche ist die sch�nste von uns allen,“ sagte Klara Sinding, jene, die das kleine Mal auf der Wange hatte.

„Die sch�nste?“ Grau blies den Rauch durch die Lippen. Das sei eine sehr schwierige Frage. Er err�tete ein wenig, denn alle blickten ihn an und ihre Gesichter sahen aus, als ob sie auf eine Gelegenheit warteten, herauszuplatzen mit Gel�chter. Er sah eine nach der anderen an und f�gte hinzu: „Das ist schwer zu sagen, denn ich kenne ja die Damen kaum. Aber Sie meinen — so nach dem ersten Blick zu urteilen — aber auch das ist schwer, denn sobald ich glaube jene Dame sei die sch�nste, springt mir etwas im Gesichte einer andern Dame in die Augen — ja, es ist unm�glich.“ Er blickte zuerst das kleine h��liche M�dchen mit der stumpfen Nase und den gro�en Ohren an und sagte: „Bei Ihnen, mein Fr�ulein, da sind es die Augen, es sind die sch�nsten silbergrauen Augen, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe —“ das M�dchen err�tete und lachte allen verlegen ins Gesicht — „bei Ihnen, mein Fr�ulein, sind es vor allem die Wangen, die so zitternd weich sind und von eigent�mlichen Rot — bei Ihnen sind es die Brauen und die Schl�fen —“

Die M�dchen lachten und schrien durcheinander und machten solchen L�rm, da� alles nach der Ecke blickte. Nein, das sei ja keine Antwort — aber nein — wir sollten ihn fragen wer die kl�gste von uns allen ist —! Sie fragten.

„Die kl�gste? Aber, bitte, meine Damen, das ist ja noch schwerer!“ Grau lachte. „Wenn ich aber nun etwas Bestimmtes sagen soll, so erkl�re ich dieses Fr�ulein hier f�r die kl�gste von allen.“ Es war das kleine h��liche M�dchen. Gel�chter. Die Damen klatschten in die H�nde. Das kleine h��liche M�dchen sagte mit tiefer Stimme: „Ich war stets die D�mmste im Institut!“ Aber sie l�chelte.

Grau l�chelte ebenfalls. „Was sollte das beweisen? Ich werde den Damen eine Frage vorlegen und wir werden es gleich sehen. H�ren Sie zu —“

Aber ja! Das w�rde ja schrecklich interessant werden.

„Wie h�bsch er plaudert!“ fl�sterte das hochaufgeschossene M�dchen der J�din ins Ohr. Die J�din lie� ihre Augen funkeln. „Ja,“ wisperte sie, „er ist so jung und sch�n. Siehst du, wie sch�chtern er ist — er zittert immer ein wenig.“ „Pst, er h�rt dich.“

Die M�dchen brachen in heiteres Gel�chter aus. Klara Sinding also w�rde eine Nadel nehmen und in die Bohnen stechen. „Es ist aber verboten, die Bohnen irgendwie mit der Hand oder sonst etwas zu ber�hren.“ Die jungen Damen �ffneten die M�nder und blickten einander verdutzt an: Ja, gro�e G�te, da liegen nun zw�lf Bohnen auf dem Tische, zw�lf wei�e Bohnen, alle ganz gleich, und unter ihnen ist eine Bohne aus Elfenbein, ganz wie die andern, wie k�nnte man sie doch herausfinden?

„Nun werden wir es gleich sehen, wer die Kl�gste ist!“ sagte Grau und lachte. Die Damen dachten angestrengt nach. Sie brachten die abenteuerlichsten Projekte vor, aber es stellte sich immer heraus, da� sie unbrauchbar waren.

Grau wandte sich an das kleine h��liche M�dchen. Sie sch�ttelte den Kopf. Sie habe ja von vornherein erkl�rt, da� sie die D�mmste sei.

„Ich werde Ihnen etwas helfen,“ sagte Grau l�chelnd und blickte sie an. Pl�tzlich nun schrie das kleine M�dchen aus vollem Halse: „Ein Huhn!“

„Ein Huhn! Hahaha, ja, mein Gott —“ die M�dchen sch�ttelten sich vor Lachen. Wer sollte auch daran denken! Es sei das Ei des Kolumbus!

Das kleine h��liche M�dchen aber sagte ganz verwirrt: „Es ist ganz merkw�rdig, ich habe ja gar nicht daran gedacht und pl�tzlich ist mir der Gedanke gekommen — gerade als Herr Grau sagte, er wolle mir ein wenig helfen —“ Sie blickte mit verwirrten, fast scheuen Augen auf Grau.

Grau l�chelte. „Die Damen m�ssen mir den Scherz vergeben. Denn es war ja ein Scherz. Ich ma�e mir keineswegs an, Behauptungen solch k�hner Art aufzustellen. Mein Beispiel ist ebenfalls schlecht gewesen, das erste beste, das mir in den Kopf gekommen ist, nat�rlich. Klugheit und Scharfsinn, rasches Denken und langsames Denken, das ist ja alles so verschieden — ich wei� das wohl, aber da sie mich nun gerade gefragt haben —?“

Das Orchester spielte die ersten Takte eines Walzers und die jungen M�dchen machten Miene auseinander zu stieben.

„Auf eine Sekunde noch!“ bat Grau; und nun lud er sie alle zu einer kleinen Feier bei Susanna ein. Er wollte ihnen mitteilen, wann die kleine Feier stattfinden sollte — Fr�ulein Sinding w�re vielleicht so g�tig ihm die Adressen der Damen aufzuschreiben —?

Die M�dchen lachten, waren etwas verbl�fft und sagten alle zu. „Ja, nat�rlich, nat�rlich.“ Sie schrien, was sie konnten.

Wirklich liebensw�rdige M�dchen, sagte Grau ganz ger�hrt zu sich selbst, mischte sich in die treibende Menge und sp�hte nach links und rechts aus.

Er wanderte im Saale umher, blickte in den Tanzsaal, wo alles wirbelte und fegte, musterte jede Gruppe. Er begegnete einigemal Eisenhut, aber der schien es nicht zu sein, den er suchte, denn er h�rte nicht auf umherzusp�hen. Er begr��te da und dort Bekannte, aber er lie� sich nicht in Gespr�che ein. �ber einer Gruppe von K�pfen, H�ten, Glatzen sah er etwas ungeheuer Sch�nes, eine feine Bewegung, eine feine Hand, kurz und huschend; das war Adele. Grau blieb stehen und blickte zwischen einem gro�en chinesischen Schirm und einer geschminkten Wange hindurch auf die Gruppe. Zuf�lligerweise schneuzte sich ein Herr und zuf�lligerweise einer jener Herren, die sich beim Schneuzen verneigen. So oft der Herr sich verneigte, sah er Adeles Gesicht. Sie lachte gerade heiter und �berm�tig.

Dann zw�ngte er sich wieder zwischen den Masken hindurch und sp�hte in jeden Winkel. Vielleicht doch unter den Tanzenden? Er stand an der T�re des Tanzsaales und blickte aufmerksam in jedes Gesicht.

Da ber�hrte jemand leise seine Schulter und Adele stand vor ihm.

Zweites Kapitel

In purpurroter Seide stand sie da. M�chtige, weitausgreifende Chrysanthemen waren in lackroter Farbe auf das Kost�m gestickt. Ihr Hals war frei, er war lang und wei� und ganz besonders nackt, die Linien ihrer wei�en Arme verschwammen in den weiten h�ngenden �rmeln und ihre schmalen H�nde waren bes�t mit Ringen, sie waren gleichsam gepanzert mit flimmernden Steinen. Ihre schwarzen Haare waren zu einer Art lebendigem Helm geflochten, durch den ein silberner Pfeil sauste. Gro�e gelbe Rosen schm�ckten das Haar, die Schulter, den G�rtel. Sie l�chelte. Ihre Z�hne waren so wei�, ihre Lippen so rot. Aber ihre Augen waren hell und tief wie zwei Quellen, auf deren Grund Licht brannte.

Ihr Anblick verwirrte ihn. Er l�chelte. Er sah sie an und eine Weile ruhten ihre Blicke tief ineinander. Grau err�tete langsam. Adele l�chelte.

„Ich gratuliere Ihnen herzlich, mein Freund!“ sagte sie dann.

„Danke!“ Adeles Hand war brennend hei�.

„Susanna wird wohl sehr gl�cklich sein. War sie nicht ein wenig �berrascht, als Sie um ihre Hand anhielten?“

Sie sei einigerma�en �berrascht gewesen, ja. Es habe einen langen Kampf gekostet, bis sie einwilligte.

Adele blickte ihn mit einem eigent�mlichen Blicke an. Sie sch�ttelte unmerklich den Kopf, dann �ffnete sie die Lippen zu einem schnellen L�cheln. „Heute ist Fasching!“ sagte sie. „Kommen Sie, wir wollen fr�hlich sein. Ich bin in solch ausgezeichneter Stimmung. Sie sollen mir etwas erz�hlen, wollen Sie? Sehen Sie den Kiosk dort? Dort bin ich engagiert, wir machen Geld. Oh, wie hei� es ist! Und ich habe auch so viel Sekt getrunken.“ Sie pre�te die R�cken der H�nde an die langen fl�chigen Wangen und k�hlte sie mit den Steinen. „Erz�hlen Sie mir Ihr sch�nstes Erlebnis, wir werden dabei umhergehen.“

Grau l�chelte. „Mein sch�nstes Erlebnis erz�hle ich nicht,“ sagte er „aber wenn ich Ihnen eines von meinen vielen sch�nen Erlebnissen erz�hlen darf? Ein kleines h�bsches Erlebnis, wenn Sie wollen. Einmal fuhr ich des Nachts in einem Zuge und an meiner Seite sa� ein junges M�dchen, ein auffallend sch�nes und zartes Gesch�pfchen. Sie war sehr m�de, immerfort fielen ihr die Augen zu und ihr K�pfchen schwankte hin und her. Ich dachte, wollte sie doch den Kopf an meine Schulter legen — und so geschah es. Pl�tzlich sank ihr Kopf an meine Schulter, sie schlief. Sie schlief die ganze Nacht an meiner Schulter und atmete so tief.“ Das erz�hlte er.

„Wie h�bsch!“ sagte Adele und lachte. „Sehen Sie die Lauben und all die n�rrischen Leute? Wie gef�llt Ihnen der Ball?“

„Pr�chtig!“

„Echte Provinz — haha! — echte, gute Provinz, Herr Grau. Ich glaube Sie sind noch nicht oft auf B�llen gewesen, wie? Ich werde Sie sp�ter meiner Mutter vorstellen, sie hat mich gebeten darum. Wir werden auch ein Glas Sekt zusammen trinken. Lassen Sie mich eines wissen, k�nnen Sie tanzen? Aber ich bef�rchte Sie k�nnen es nicht —“

„Doch,“ sagte Grau, „ich habe tanzen gelernt als ich zw�lf Jahre alt war.“

„Unm�glich!“

„Zu Hause, ja. Meine Mutter gab mir Unterricht.“

„Ah! — Ja, das Kost�m ist echt, da haben Sie recht. Ein Onkel, ein Gesandter, hat es mir geschenkt. Auch der F�cher ist echt. Sie sind der erste, der das fragt, denn der F�cher ist ja so schlicht. Oh, welches Geschrei! Sie f�hlen sich hier nicht heimisch, wie? Ich protegiere Sie ein wenig, wenn Sie mir das erlauben. Wollen wir jetzt tanzen? Ja! Kommen Sie!“

Sie legte ihre Hand in seinen Arm.

„Sie haben doch in den letzten Tagen soviel Orgel gespielt? Sie waren es doch, nicht wahr?“ fragte sie w�hrend sie sich geschickt durch die Menge bewegte.

„Ja, zuweilen kommt es �ber mich, dann mu� ich ganze Tage spielen,“ antwortete Grau.

„Ich h�rte es bis in mein Zimmer. Was haben Sie denn da? Einen Ring?“

Graus Finger spielten mit einem Ring, einem schmalen silbernen Reif mit winzigem blauen Stein. Das sei ein Ring, den er sozusagen gefunden habe. Sie habe ihn wohl nicht verloren? Er steckte den Ring wieder in die Westentasche.

Adele lachte. „Ich habe niemals einen solchen Ring gehabt,“ rief sie aus, „sicherlich geh�rt er einer K�chin. Weshalb sehen Sie mich denn so verwundert an?“

„Tat ich das?“

„Ja, zuweilen k�nnen Sie recht wunderlich sein!“

Als sie in den Tanzsaal kamen, war der Walzer gerade zu Ende und die erhitzten Paare str�mten heraus. Die Herren wischten sich den Schwei� von der Stirne und gr��ten Adele, die Damen wechselten ein paar Worte mit ihr und blickten erstaunt auf Grau, der Adele am Arme f�hrte.

„Warten wir bis zum n�chsten Tanze,“ sagte Adele und l�chelte. „Hier ist es �brigens k�hler. Guten Abend, Klara! Vielleicht k�nnte man sich auch einen Augenblick irgendwo hinsetzen, nicht wahr? Mein Gott, dieser Herr Eisenhut glaubt, man erkennt ihn nicht. Ist das nicht komisch? Dann werden Sie mir jene Geschichte, erz�hlen, die Sie mir schon solange schuldig sind.“

„Welche Geschichte? Jede Geschichte, die Sie wollen, nat�rlich, denn Sie sind so freundlich zu mir, da� ich mich gerne dankbar zeigen m�chte, aber ich erinnere mich ja gar nicht —?“

Ein schmetterndes Trompetensignal erscholl und alles rannte in die chinesische Stra�e hinaus. Herr Bezirksamtmann H�berlein sprach einige Worte, die einen lauten Beifall wachriefen. Ein kleiner Mann mit wei�er K�nstlerm�hne trat auf die B�hne. Das war Herr Photograph Leistlein, der eine Extranummer zum besten gab.

Adele lachte. „Was f�r ein Unsinn! Es ist zu dumm. Sie lachen, weil Sie nicht begreifen k�nnen, da� die Leute �ber einen solchen Unsinn lachen k�nnen. Nun sind wir Gott sei Dank allein.“

Der Saal hatte sich geleert und nur zwei junge M�dchen gaben sich gegenseitig Anweisungen im Tanzen; sie h�pften hin und her und kicherten und quiekten. Eine Mauer von R�cken versperrte den Eingang zur chinesischen Stra�e, die in all dem Rauch wie ein Bild in einem blinden Spiegel aussah. Man h�rte Herrn Leistlein in verschiedenen Stimmen sprechen, zuweilen unterbrach ihn rasender Beifall.

„Wie wohl das tut, diese Ruhe!“ sagte Adele und lie� sich auf eine kleine Bank nieder. „Sehen Sie doch, die vielen Lampione, wie h�bsch! — Die Geschichte von jener Frau, der ich �hnlich sehe, Sie erinnern sich wohl?“

„Gewi� erinnere ich mich,“ antwortete Grau. „Ist es nicht merkw�rdig, da� ich seitdem wieder von dieser Frau getr�umt habe? Sie sieht Ihnen �brigens nicht so sehr �hnlich, es ist nur Ihre Art den Kopf zu tragen und vor allem Ihre Augen.“

Adele unterbrach ihn. „Sind denn so schreckliche Dinge in jenem Traume geschehen!“ rief sie lachend aus. „Setzen Sie, sich Herr Grau. Weshalb mu� ich Sie erst dazu auffordern? Lassen Sie alles Zeremoniell beiseite, Sie sind auf einem Maskenball und sprechen mit einer Japanerin. Beginnen Sie mit dem Traum. Ein Traum, das war es doch?“

„Danke,“ sagte Grau und nahm neben Adele Platz. „Ja, es war ein Traum. Es war �brigens einer der sch�nsten und einer der merkw�rdigsten Tr�ume, der mir je geschenkt wurde. Es kommt ein Sternschnuppenregen darin vor und was diese Frau mir alles gesagt hat — ich tr�umte, ja, nun will ich endlich beginnen — ich tr�umte, da� ein Geist mich dahintrage.“

„Ein Geist?“ Adele st�tzte das Kinn in die Hand und blickte gerade aus. Sie hatte ein feines anliegendes Ohr.

„Ja. Ein Geist, der wie ein Wind sauste, er trug mich dahin �ber die Lande in schwindelnder Schnelligkeit durch Wolken hindurch, pl�tzlich n�herten wir uns der Erde und flogen �ber schlafende St�dte, riesige, schlafende St�dte mit hohen steilen H�usern. Die St�dte waren ohne Licht, ohne Laut, ungeheuer stumm und tot. Sie schliefen und wir flogen an einem Heer von Fenstern vorbei. Ich sah in all diese Fenster hinein und obgleich es dunkel war, sah ich sehr genau.“

„Was sahen Sie denn da?“ fragte Adele.

„Ich sah Kinder, die schliefen, Tausende und Tausende von schlafenden Kindern sah ich, alle schliefen sie, friedlich, m�de, gesund, ihre Backen gl�nzten rot und ihre M�nder standen halb offen, ich sah all diese kleinen Brustk�rbe atmen, Millionen solcher Kinder habe ich gesehen, es war ja im Traum, gelbe, braune, wei�e Gesichter, alle Rassen.“

Eine Lachsalve raste durch den Saal.

„Wie sch�n!“ Er m�ge doch fortfahren.

„Ja. Ich denke daran, wie sch�n es war, nie mehr habe ich soviel Frieden gesehen und auch nie mehr diesen Frieden gef�hlt. Aber wie rasch es doch dahinging, mit welch r�tselhafter Leichtigkeit ich an diesen Fenstern vorbeischwebte! Nun kamen immer neue St�dte, pl�tzlich tauchten sie stets unter mir auf, riesenhaft und alle schrecklich stumm und tot. Als ich nun in eines der schwarzen Fenster blickte, sah ich zu meiner �berraschung ein kleines Licht im Zimmer brennen und einen Mann, der am Tische sa�; er hatte reiches, aber ergrautes Haar.“

„Was tat er?“

„Er tat nichts. Er sa� an dem Tische und starrte in das kleine Licht und l�chelte seltsam. Ich zog an tausenden von Fenstern vor�ber und �berall sah ich den Mann mit den grauen Haaren und dem seltsamen L�cheln vor der kleinen Kerze sitzen. Ich sah nicht nur ihn. Ich sah auch andre und alle tausendfach. Ich sah eine Frau, die ein Licht in der Hand hatte und auf einem Stuhle sa�. Aber sie las nicht, sie blickte �ber das Buch weg und l�chelte, ebenfalls seltsam. Ich sah einen jungen Mann, der leise tanzte und einen Ku� in die Luft warf, er war sehr bleich und auch er l�chelte seltsam, ich sah junge M�dchen, die die Lippen �ffneten und ohne Laut sangen. Tag und Nacht k�nnte ich wohl erz�hlen, wollte ich all diese Menschen beschreiben, die ich gesehen habe. Alle waren sie allein mit einer kleinen Kerze, wach, w�hrend die andern schliefen, alle l�chelten sie seltsam. Sie besch�ftigten sich alle so sonderbar, lasen ohne zu lesen, sangen ohne zu singen, sie spielten, runzelten die bleichen Stirnen, l�chelten, ihre Besch�ftigungen waren mannigfacher Art, sie bauten Kartenh�user, einer hatte ein dickes Buch in Zettel geschnitten und m�hte sich damit ab es wieder zusammenzusetzen. Sie waren alle allein. Verstehen Sie?“

„Ah!“ sagte Adele und sah rasch auf. „Es waren die einsamen Menschen der Erde, die Sie sahen. Wie merkw�rdig!“

Grau nickte. „Ja, ich denke es. Aber weit merkw�rdiger ist es, da� ich wu�te, was die Menschen dachten. Vergessen Sie nicht, da� es ein Traum war. Nun habe ich seitdem — es ist ja sechs Jahre her — die meisten dieser Gesichter in Wirklichkeit gesehen, oder es wird richtiger sein, im Traum sah ich alle Gesichter, die ich in der Wirklichkeit gesehen hatte, ein wenig verschieden vielleicht — kurz und gut, ich sage, ich sah die meisten dieser Gesichter in Wirklichkeit und es schien mir nun, als wisse ich, was sie ausdr�ckten. Ich sehe ein Gesicht auf der Stra�e und es erinnert mich an eines jener Gesichter im Traume — aber ich wollte das ja nicht sagen, Pardon.“

„Fahren Sie doch fort!“ sagte Adele.

Grau l�chelte leise, sch�ttelte nachdenklich den Kopf und sagte: „Wie sonderbar aber ist es doch, da� wir im Antlitz des Menschen zu lesen w�nschen! Da� uns jeder Mensch so sehr besch�ftigt, da� wir wissen m�chten, wie er ist!“

„Ja, wie eigent�mlich ist das,“ sagte Adele und blickte Grau an. „Man sagt, an den Augen erkenne man den Menschen am besten. Wie meinen Sie?“

Grau l�chelte. „An den Augen?“ sagte er. „Vielleicht. Ein wenig an den Augen, ein wenig am Gang, an den H�nden, an den Ohren, an den Lippen. Ganz besonders an der Nase! Aber das alles kann tr�gen. An den Worten? Auch sie k�nnen tr�gen, sie verbergen den Menschen und der Mensch verbirgt sich hinter ihnen. Selbst wenn er die ehrliche Absicht hat, aufrichtig zu sein, er kennt sich ja selbst nicht, seine Worte sind alle ein wenig falsch, schief gleichsam — oder er ist ein gro�er Dichter. All das kann tr�gen. Vielleicht ist das L�cheln noch am zuverl�ssigsten — wie meinen Sie? — Das L�cheln, sagte ich, das unbewu�te und kaum bemerkte, leiseste L�cheln. Vielleicht. Der Mensch kann lachen, schreien, weinen — und es kann sein, da� er nicht im Lachen, Schreien oder Weinen steckt, aber im L�cheln? Das L�cheln ist schwer zu heucheln, ganz wenig Menschen k�nnen es auch unterdr�cken, es ist unkontrollierbar, es kommt und geht, schnell, es kann die ganze Niedrigkeit und den ganzen Adel eines Menschen ausdr�cken, den ganzen wahren Schmerz, wahre Freude. Vor allem aber die Entwickelungsstufe des Menschen.“

„Haben Sie das ebenfalls aus jenem Traume?“ fragte Adele. „Aus dem L�cheln dieser Einsamen? — H�ren Sie die Narren lachen, haha?“

„Gewisserma�en,“ fuhr Grau eifrig fort. „Gewisserma�en ja. Aber ich mache zu viele Worte. Ich sage, auch das L�cheln kann tr�gen, es bleibt Ihnen also nichts als das Gef�hl. Vielleicht f�hlen wir die Menschen! Der seelische Zusammenhang der Menschen ist vielleicht so stark, da� wir erschrecken w�rden, k�nnten wir ihn erkennen, ja, es ist m�glich, da� zwischen den Menschen — zwischen den Seelen — �berhaupt keine scharfe Trennung existiert — ich f�r meine Person glaube das — vielleicht k�nnen Sie an keinen Menschen denken, ohne da� er es f�hlt, ja, ohne da� er wei�, was Sie denken. Nicht wahr? Wenn Sie ihn lieben, er wird es f�hlen und wenn Sie nur auf der Stra�e aneinander vorbeigehen, er wird es f�hlen, er wird Ihren Ha� f�hlen, alles, vielleicht �berkommt ihn nur ein leises Behagen oder Unbehagen, vielleicht wei� er es nicht, aber seine Seele wei� es ganz genau. Jeder Mensch k�nnte Ihnen aus seinen Erfahrungen Beispiele erz�hlen und Sie selbst haben gewi� �hnliche Beobachtungen gemacht. Ich sage zum Beispiel, es begegnet Ihnen auf der Stra�e ein Mensch, er blickt Sie an, blinzelt, sieht weg. Sie denken: Das ist ein armer, einsamer und guter Mensch. Die Leute erz�hlen Ihnen alle denkbaren Schlechtigkeiten von ihm — jener Mensch selbst spricht mit Ihnen, ja er beleidigt sie und legt es fast darauf an, einen ung�nstigen Eindruck auf Sie zu machen — und doch k�nnen Sie den Glauben nicht lassen — er ist einsam, arm, aber gut.“

Adele sah auf. „Sprechen Sie von einem bestimmten Menschen? Nein? Ich dachte, weil Sie sagten, er sieht Sie an, blinzelt —“

Grau antwortete ihr darauf nicht. Er lachte pl�tzlich und sagte: „Ich bin ja ganz vom Thema abgekommen!“

Auch Adele lachte. „Aber ja! Sie wollten von jener Frau erz�hlen?“

„Sofort. Die Reise ging an Fenstern, Fenstern und Fenstern vor�ber, �ber all die schlafenden St�dte hinweg, das erz�hlte ich, nicht wahr. Dann ging es �ber endlose W�lder und ich erinnere mich, da� vier Sterne am Himmel vor uns standen, vier Sterne in der Gestalt eines Quadrats. Wir kamen den Sternen n�her und ich glaubte, wir w�rden durch sie hindurch fliegen, aber sie entfernten sich pl�tzlich wieder und standen ganz klein am schwarzen Himmel. Nun blickte ich pl�tzlich in ein Fenster und hier sah ich eine Frau, die vor einem Kaminfeuer sa�. Sie hatte so reiches schwarzes Haar wie Sie und ihre Haut war ebenso wei� wie die Ihrige, sie trug die Haare in einem losen Knoten im Nacken, wie Sie es gew�hnlich zu tragen pflegen, sie hatte ebenfalls auffallend helle Augen. Aber trotzdem sah sie anders aus als Sie.“

„Was tat sie denn?“ fragte Adele gespannt und zog das Gewand an sich, da die beiden Backfische vorbeitanzten.

„Sie war damit besch�ftigt, kleine Rosen anzufertigen,“ fuhr Grau fort. „Sobald eine Rose fertig war, sah sie die Rose unzufrieden an und warf sie in den Kamin. Die Rose verbrannte. Es sah aus wie ein brennendes Schiff. Es sah aus wie eine W�ste mit feuriger Sonne und eine kleine Karawane, ganz gl�hend, zog durch die W�ste. Es entstand ein brennender tanzender B�r, ganz klein, aus der brennenden Rose.“

„Wie am�sant!“ sagte Adele. „Die Dame hat sich ganz gut unterhalten.“

„Man sollte es glauben,“ fuhr Grau fort. „Pl�tzlich nun sagt die Frau leise und zaghaft: Herein! und zu meinem gr��ten Erstaunen trat ich selbst ins Zimmer, obgleich ich doch gleichzeitig zum Fenster hereinblickte.“

Adele lachte. „Aber so pflegt es ja in den Tr�umen zuzugehen!“

„Ja. Ich trat ins Zimmer und die Frau sah mich an. Sie kam mir gewisserma�en wie ein Geist vor, nicht irdisch. Sie trug Ohrringe und eine silberne Kette um den Hals. Sie l�chelte leise und dann rief sie mir ein Wort zu, das ich nicht verstand. Sie sagte etwas und auch das verstand ich nicht. Es war eine seltsame, fremde Sprache von unglaublicher Weichheit des Klanges. Sie warf alle Papierschnitzel, die sie auf dem Kleide hatte, ins Feuer und daraus entstanden eine Menge winzig kleiner goldener V�gel, die zwitschernd in den Kamin hinauf flatterten. Sie stand auf und sagte: Ich habe nicht gedacht, da� du heute kommst.“

„Verstanden Sie denn jetzt?“ unterbrach ihn Adele, die eifrig zuh�rte, w�hrend ihre Blicke mechanisch den Tanz der Backfische verfolgten.

„Ja,“ antwortete Grau, „ich wei� �brigens nicht, ob sie sich der fremden Sprache bediente. Kurzum, ich verstand sie. Ich sah sie erstaunt an, denn ich hatte sie nie im Leben gesehen. Haben Sie mich denn erwartet? fragte ich. Sie sah mich l�chelnd an, lange. Dann ging sie n�her und legte ihre Hand auf meinen Arm und ich sah ihre Augen ganz dicht vor mir. Sie waren klar und hell, von unbestimmter Farbe und mit einem Schein als ob sie phosphoreszierten. Wie sagst du? fragte sie. — Ich wiederholte das gleiche. — Wie sagst du? Wiederum sagte ich: Haben Sie mich denn erwartet? Sie sch�ttelte den Kopf und sagte l�chelnd, aber gleichsam verletzt: Kennst du mich denn nicht mehr? — Ich sch�ttelte den Kopf. Nein, sagte ich. Ich sah sie an und nun schien es mir, als ob ich sie schon gesehen h�tte, alles verwirrte sich in mir; dann aber wu�te ich, da� ich sie noch nie gesehen hatte. Ich sagte es. Sie sch�ttelte den Kopf und zeigte auf die silberne Kette, die sie am Halse trug, und sagte: Kennst du auch die Kette nicht? — Nein. — Aber sie ist von dir! — Nein! — Ja, sie ist von dir, wir haben uns lange, lange Jahre gekannt und nun erkennst du mich nicht wieder. Nein, sagte ich. Sie sah mich trauernd an und sch�ttelte den Kopf. — Komm! sagte sie, und pl�tzlich gingen wir auf einer Heide, es war in grauer Nacht und ganz still —“

Im Saale bliesen die Trompeten Tusch und die Menge schrie rasend Hoch. Adele hielt sich die Ohren zu. „Wie schade!“ sagte sie, indem sie aufstand. „Nun kommen sie alle hierher. Wie merkw�rdig ist doch der Traum?“

„Ja.“

Sie sahen einander an und f�hlten beide eine auffallende Beklommenheit im Herzen, obgleich keiner sie dem andern verriet. Graus Augen leuchteten und seine Wangen r�teten sich.

Die Gesellschaft str�mte wieder in den Tanzsaal. Das Orchester begann. Sofort fingen die Paare an zu wirbeln und zu schleifen. Herren in Fr�cken und Kost�men schossen hin und her nach der T�nzerin, Eisenhut kam aus der T�re und ging geradeswegs auf Adele zu und bat sie mit verstellter Stimme um einen Tanz. Er trug noch immer die Maske, obgleich jedermann sie schon l�ngst abgenommen hatte. Adele gab ihm einen Korb und Eisenhut zog sich zur�ck. Er blickte noch einigemal um und dreht sich bald darauf am Arm einer roten Chinesin im Kreise. Nun n�herte sich der Bezirksamtmann H�berlein mit t�nzelnden Schritten und sicherer Miene, aber Adele forderte gleichzeitig Grau auf mit ihr zu tanzen.

„In dem Gew�hle ist es ja ganz unm�glich zu erz�hlen,“ sagte sie. „Es kommen nun gewi� recht merkw�rdige Dinge?“

„Ja, merkw�rdige Dinge kommen nun.“

Adele l�chelte. „Herrlich! Wie spannend das ist! Und nun, bitte!“

Grau tanzte leicht und sicher und Adele lobte ihn mit einem Blicke. „Halten Sie mich fester!“ sagte sie.

Es war eine Masurka. Die Pauken wirbelten, die Geigen wehten, es erschien Grau als spielten sie etwas vom Fr�hling und als die Fl�ten bliesen sah er f�rmlich die Blumen aus dem Rasen steigen.

Sie sahen einander an. Aber sie hatten noch keine Runde getanzt, als Adele inne hielt und erbla�te. Sie stand still. „Ich kann nicht mehr!“ sagte sie leise und heftete die Blicke auf Grau. Sie sah ihn erschrocken, scheu und erstaunt an, w�hrend sie sich mit einem L�cheln entschuldigte.

„Aber was ist Ihnen?“ fragte Grau.

„Ich kann nicht tanzen mit Ihnen, es macht mich schwindlig,“ sagte Adele. „Nichts, einen Augenblick nur.“ Sie sammelte sich rasch.

„Wie leid es mir tut, Fr�ulein von Hennenbach.“

Adele sch�ttelte den Kopf. „Es ist nichts,“ sagte sie, „es ist nur so merkw�rdig —“ Sie sah Grau an. Sie schwieg lange Zeit und w�hrend sie schwieg, schien sie sich zu verwandeln. Ihre Lippen wurden schmal. Sie schien zerstreut zu sein.

„Kommen Sie!“ sagte sie und ging voran. Grau folgte ihr.

In der T�re kamen sie ins Gedr�nge und Adele blickte in Graus Augen und sagte unvermutet: „Sagen Sie mir eines, lieben Sie Susanna wirklich?“

Grau err�tete leicht. „Wie?“ Dann blickte er Adele erstaunt an. „Gewi� liebe ich Susanna aufrichtig,“ erwiderte er.

Adele l�chelte; sie schwieg. Sie streifte Grau wieder mit einem Blicke, dann raffte sie den F�cher auf und bewegte ihn in der glitzernden Hand. Sie blickte stolz �ber alle K�pfe hinweg. Ihr Blick, ihr Gang, ihr L�cheln, alles hatte sich ver�ndert.

„Wollen Sie nun den Traum zu Ende h�ren?“ fragte Grau.

„Nein, nicht jetzt,“ erwiderte Adele h�flich. Aber sie sah Grau nicht an. „Meine Mutter w�rde sich so sehr freuen, Sie kennen zu lernen,“ f�gte sie hinzu, „darf ich Sie bem�hen?“ Auch ihre Stimme hatte sich ver�ndert.

Grau folgte ihr und dachte dar�ber nach, was der Anla� zu ihrer Verstimmung sein k�nnte.

Drittes Kapitel

Adele wurde von den Herren, die die Sektbude belagerten, mit lautem Hurra begr��t und mit schmeichelhaften Vorw�rfen �ber ihr langes Wegbleiben �berh�uft.

„Hoch, hoch, hurra!“ schrieen die Herren und schwenkten die Kelche. Adele hatte M�he sich den Weg in den Kiosk zu bahnen.

Im Kiosk bedienten die feinsten Damen der Stadt. Die Frau des Bezirksamtmannes, Frau H�berlein mit dem porzellanartigen Teint, eine hohe Blondine, die etwas schielte und eine dicke J�din mit wei�em m�chtigen Busen. Die Damen hatten alle H�nde voll zu tun, Flaschen zu entkorken, die Kelche zu f�llen, zu trinken. Hier herrschte eine ausgelassene, fast wilde Stimmung und die Herren waren alle angeheitert.

Die Mutter Adeles sa� in einem Stuhl, in Spitzen und Seide geh�llt, fein, durchsichtig, fast selbst nichts andres als Spitzen und Seide, sie hatte Adeles Augen; der Freiherr von Hennenbach stand in einem Kreise von jungen, fr�hlichen Herren — es waren die Offiziere von Weinberg — er war gr��er als alle, grau und w�rdevoll, er rauchte eine gro�e Zigarre und trug einen m�chtigen Siegelring am Zeigefinger. Er hatte Augen wie ein Falke und �nderte nie den Ausdruck des Gesichtes, ob er nun lachte, plauderte oder zuh�rte. Seine Haare waren bis in den Nacken hinab sorgf�ltig gescheitelt und sahen aus wie eine schmale, graue Strau�enfeder, die kokett �ber seinen hohen Sch�del gelegt war.

Baron Kirchgang — Adeles Br�utigam — war ein schweigsamer, etwas �rgerlich aussehender Herr, dessen Schl�fen ergraut waren. Sein Gesicht war rot, von verschwommenen Formen, als sei es mit kochendem Wasser verbr�ht worden. Er wechselte einige nichtssagende Worte mit Grau. Als er an den Schenktisch trat, bemerkte Grau, da� sein linker Arm verkr�ppelt war, er war k�rzer als der rechte und lahm.

Grau sah sich unter all den Herren aufmerksam um.

„Ihr Herr Bruder ist nicht da?“ fragte er Adele.

„Er ist dagewesen,“ antwortete sie ihm, „er sitzt mit seinen Freunden im ersten Stock irgendwo und spielt. Wollten Sie ihn sprechen?“

„Ich dachte nur,“ sagte Grau. „Danke!“

Adele f�llte ein Glas und reichte es Grau. Sie stie� mit ihm an und sagte l�chelnd: „Auf das Wohl Ihrer Braut!“

Grau dankte. „Auf Susannas Wohl!“

Adele leerte das Glas und sah Grau einen Augenblick lang tief an. Er verstand ihren Blick nicht. Adele lachte und wandte sich den G�sten zu. Sie begann zu lachen und zu plaudern, aber ihre Stimme klang k�hl und ihre Augen blitzten hart. Sie blickte nicht mehr auf Grau, ja sie sah stets an ihm vorbei, wenn sie dahin blickte, wo er stand. Sie lachte und schien heiter zu sein, aber ein unruhiger Glanz war in ihren Augen. Nur wenn sie auf ihre Mutter blickte, die nur Augen f�r die Tochter hatte, so �nderte sich ihr Blick jedesmal. Mit tiefen, schw�rmerischen Augen sah sie die Mutter an. Dieser Blick verriet alle ihre Liebe.

Gerade in diesem Augenblick n�herte sich Eisenhut dem Kiosk. Er bahnte sich langsam und hartn�ckig den Weg. Er zw�ngte sich zwischen zwei lachenden Mandarinen hindurch, puffte einen Herrn im Frack in die Seite, dann ging er um einen dicken Herrn herum, der sich nicht zur Seite dr�ngen lie�. Endlich stand er am Schanktisch und man konnte seinem Munde ansehen, da� er zufrieden l�chelte. Eine Weile stand er wartend da, die Damen waren alle besch�ftigt. Er reckte den Hals aus dem hohen Stehkragen, bewegte die Lippen und seine kleinen lebendigen Mausaugen verfolgten durch die Schlitze der Maske jede Bewegung Adeles. Er r�usperte sich, er hustete um sich bemerkbar zu machen, aber in all dem Get�se h�rte man ihn gar nicht, niemand beachtete ihn.

Nun klopfte Eisenhut auf den Tisch.

Die schwarze J�din mit dem vollen wei�en Busen wandte sich ihm zu. „Sofort, sofort, mein sch�ner Herr!“ rief sie. „Willst du eine Flasche, eine ganze Flasche? Nur zwanzig Mark!“

Eisenhut starrte auf ihren wei�en Busen, er l�chelte, dann sah er auf Adele und rief: „Eine ganze Flasche, jawohl. Zwanzig Mark, einerlei.“ Er sprach immerzu mit verstellter, quiekender Stimme.

Da drehte sich Adele rasch um und sagte: „Es ist Herr Eisenhut! F�r ihn geben wir es nicht so billig. Er soll etwas besonderes tun!“

Eisenhut legte den Kopf auf die Seite und l�chelte. Aber dann machte er sich ganz steif und quiekte mit verstellter Stimme: „Sind Sie auch sicher, da� es Herr Eisenhut ist?“

Adele lachte laut auf. Und alle Umstehenden lachten. Das k�nne ein Blinder sehen. Er k�nne ruhig die Maske abnehmen.

„Maske ab! Maske ab!“ schrieen die Herren.

Eisenhut meckerte und nahm langsam die Maske ab. Sein gelbes verlebtes Gesicht kam zum Vorschein, er lachte, strich sich den Spitzbart und gab dann allen ringsum sch�chtern die Hand. Er verneigte sich auch gegen die Herren, die um den alten Freiherrn von Hennenbach herum standen. Man schrie und sch�ttelte ausgelassen seine Hand. Er lie� die Blicke herumwandern, zuletzt heftete er seine kleinen entz�ndeten Augen auf Adele.

„Wie merkw�rdig, da� Sie mich sofort erkannt haben!“ sagte er. „Guten Abend, Fr�ulein von Hennenbach!“ Er machte auch einen sch�chternen Versuch, ihr die Hand zu reichen.

Aber Adele sah die Hand nicht. Sie lachte. „Nun will ich Ihnen einschenken, ich werde es selbst tun, aber Sie m�ssen ein �briges tun, verstehen Sie, es geh�rt f�r die Armen, das wissen Sie ja. Sie werden f�r jedes Glas hundert Mark bezahlen, nicht wahr?“

„Bravo! Bravo!“ riefen die Herren.

Eisenhut sah Adele an. Seine Augen wurden gl�nzend, gleichsam als ob sie erwachten. Dann l�chelte er und zeigte seine schlechten, zerfressenen Z�hne.

„Sie scherzen?“ sagte er.

„Scherzen? Nein, ich bin gar nicht in der Laune zu scherzen!“

Er betrachtete Adele, die mit dem F�llen des Glases besch�ftigt war. Seine Augen gl�nzten, er blickte auf Adeles Haar, ihre glitzernden H�nde, ihre Arme, er l�chelte und f�r einen Augenblick erschien sein Gesicht friedevoll und sch�n, seine Wangen f�rbten sich. Adele f�llte sorgf�ltig das Glas. Aber je mehr der Wein in dem schlanken Kelche stieg, desto mehr ver�nderte sich Eisenhuts Gesicht. Das L�cheln verschwand, der Friede und die momentane Sch�nheit, sie verschwanden, die vielen tiefen Linien und Falten erschienen wieder, die Stirn wurde niedrig, der Mund zog sich zusammen, die Farbe wurde gelb und alt. Dann wurde sein Gesicht fahl. Adele reichte ihm das Glas und er sah ihren Augen an, da� sie nicht scherzte.

„Fr�ulein von Hennenbach?“ stotterte er.

�ber Adeles wei�e Hand flo� der Wein, �ber all die Ringe, die Steine. „Herr Eisenhut?“

„Hundert Mark? Hundert M—?“ fragte Eisenhut leise. „Hundert Mark — aber ganz unm�glich?“ Er l�chelte beklommen.

Alle lachten �ber den Ausdruck seines Gesichtes, auch Adele.

Eisenhut raffte sich zusammen.

Er kn�pfte das ungl�ckliche gelbe Kost�m auf und fuhr hastig in die Rocktasche. Wie andere Leute eine alte Zeitung herausziehen, so zog er einen ganzen Pack von Banknoten aus der Tasche.

Gel�chter! Ja, da sehe man, da� man es mit einem Million�r zu tun habe, hoho! Selbst die Offiziere von Weinberg wurden aufmerksam.

„Bitte, Herr Eisenhut!“ sagte Adele, da Eisenhut z�gerte. „Ich werde sogar nippen an dem Kelche, aber legen Sie nur das Geld auf den Tisch!“ Sie lachte und nippte am Glase.

Eisenhut f�hlte sich unbehaglich. Er blinzelte rasch hintereinander, l�chelte, machte eine wegwerfende Handbewegung und legte einen Hundertmarkschein auf den Tisch.

„Bravo! Ja, bravo und hoch Eisenhut!“

Eisenhut l�chelte. Er nahm das Glas, erhob es gegen Adele und trank es leer. Er f�hlte sich von allen Seiten beobachtet und wurde mehr und mehr unsicher.

Adele f�llte abermals Eisenhuts Glas. Sie lachte und sagte, da� sie wieder daran nippen werde und er werde wieder hundert Mark daf�r bezahlen.

„Wieder?“ fragte Eisenhut mit zitternder Stimme.

„Sie werden sich wohl nicht erst lange besinnen, oder? Eine Kleinigkeit wie hundert Mark! Und noch dazu, wenn ich am Glase nippen werde.“

„Noch mehr?“ fragte Eisenhut in ungl�ubigem Tone. „Hundert Mark f�r die Flasche, wie? Man hat sie mir um zwanzig Mark angeboten, vorhin.“ Er deutete auf die J�din mit dem hohen Busen.

Haha! Ja, zwanzig Mark f�r gew�hnliche Menschen, aber f�r Million�re da h�tten sie ganz besondere Preise.

Eisenhut blinzelte. Er legte das Gesicht in Falten, drehte den Kopf hin und her. „Sie scherzt — Fr�ulein von Hennenbach scherzt!“ sagte er zu der lachenden Gesellschaft von Herren.

„Ich sagte schon, da� ich nicht scherze. Sehen Sie nicht, da� man sich schon �ber Sie lustig macht. Ich verkaufe Ihnen jedes Glas f�r hundert Mark, f�lle es selbst, nippe daran, ich meine, da sollten Sie sich nicht lange besinnen.“

Es sei wirklich ein Skandal, es sei eine Schmach und eine Schande! Vorw�rts Eisenhut — hahaha — schmei�en Sie den Bettel hin! Die Herren schrien und lachten und stie�en sich gegenseitig an.

Eisenhut k�mpfte mit sich. Er sah Adele an, die ihm das Glas kredenzte, ein Zittern lief durch sein Gesicht, er �ffnete den Mund, blinzelte und fuhr wieder in die Rocktasche.

„Bravo! Hurra!“

Aber Eisenhut z�gerte. Warum gerade er solch horrende Summen bezahlen sollte?

„Weil Sie der reichste Mann der Stadt sind!“ antwortete Adele. „Sie nennen sich ja selbst so bei jeder Gelegenheit und Sie sind es auch.“

„O — hoho!“ versetzte Eisenhut geschmeichelt.

„Wenn man zw�lf Steinbr�che hat und den Schrank vollgestopft mit Wertpapieren, dann kann man doch ruhig solch eine Bagatelle bezahlen!“

Eisenhut streckte den Kopf vor. „Haben Sie denn — haben Sie denn diesen Schrank voller Wertpapiere gesehen? frage ich.“ Er l�chelte eigent�mlich und blickte Adele an.

Adele lachte laut und unnat�rlich. „Selbstverst�ndlich habe ich ihn gesehen. Sie haben mir ihn ja selbst gezeigt. Erinnern Sie sich, als ich in der Nacht zu Ihnen kam und zehntausend Mark bei Ihnen entlieh?“

Gel�chter. Eisenhut starrte mit offenem Munde auf Adele.

„Aber genug nun! Ich habe an dem Glase genippt und sehen Sie her, ich nippe nochmals daran. Nun, nehmen Sie?“

Eisenhut nahm z�gernd das Glas in die Hand. Bravo Eisenhut, hoch, hurra! Eisenhut, Eisenhut!

Aber Eisenhut trank nicht. Er schnitt Grimassen, er drehte den Hals als sei ihm der Kragen zu eng, er schwankte hin und her und blickte die Umstehenden, die lachten, pl�tzlich mit scharfen, b�sen Blicken an. Gel�chter.

„Bitte!“ sagte Adele und lachte. „Weshalb z�gern Sie denn?“

Hier n�herte sich Grau. Er sagte: „Fr�ulein von Hennenbach?“

Adele wandte ihm den Blick zu. Sie zog die Augen zusammen und sagte: „Bitte?“

In diesem Augenblick brach eine ungeheure Lachsalve auf Eisenhut ein. Er hatte die Scheine wieder in die Tasche gesteckt. Ja, er m�sse doch ein Narr sein, ein vollst�ndiger Narr m�sse er sein! Hundert Mark f�r jedes Glas, die Herren bezahlen eine Mark daf�r. Er verlor die Fassung und stellte das Glas so heftig auf den Tisch zur�ck, da� es zerbrach und der Wein �ber das Tischtuch flo�. Eisenhut erschrak, einen Augenblick lang war seine Nasenspitze schneewei�. Er bewegte die Lippen um etwas zu sagen, er blickte verwirrt auf Adele. Adele lachte und alle, alle lachten und stampften mit den F��en und schrieen, was sie konnten.

Eisenhut bewegte heftig die H�nde. „Bezahlt ihr!“ schrie er. „Bezahlt ihr! Ich bin kein solcher Narr! Ich habe bezahlt, hundert Mark. Bezahlt ihr, bezahlt ihr!“ wiederholte er lauter und wilder, um das Gel�chter zu �berschreien. Er beugte sich mit einer verzweifelten Geb�rde �ber den Tisch, deutete auf das zerbrochene Glas, stotterte, aber er sagte nichts.

Er wandte sich rasch um und entfloh in seinem gelben Kost�m und mit seiner gelben M�tze, gefolgt von lautem, wildem Gel�chter. Er verschwand in der treibenden Menge.

„Haha! Ein Prachtexemplar, dieser Eisenhut! Haha! Hoch Eisenhut, hurra!“

Im gleichen Augenblick war auch Grau verschwunden, und als Adele zu Baron Kirchgang blickte, mit dem er zuletzt geplaudert hatte, sah sie seinen Platz leer. Baron Kirchgang unterdr�ckte ein G�hnen.

Adele zog die Brauen zusammen und begann mit erneuter Ausgelassenheit zu scherzen, zu lachen und Sektgl�ser zu f�llen.

Viertes Kapitel

Eisenhut eilte dem Ausgang zu und war pl�tzlich spurlos verschwunden. Gleichzeitig wurde Grau von Dr. N�rnberger aufgehalten.

Dr. N�rnberger war ein junger Mann mit schwarzem Scheitel, niedriger Stirn, goldenem Kneifer; er war im Frack. Seine Manieren waren gewandt, seine H�flichkeit stets von leichtem Spott begleitet, seine geheuchelte Unterw�rfigkeit absto�end.

Er nahm den Kneifer ab und verbeugte sich vor Grau.

„Welches Vergn�gen, Sie zu sehen!“ rief er mit etwas n�selnder Stimme aus.

Grau erkundigte sich nach dem Kinde im Waisenhaus. Es gedieh pr�chtig. „Wie haben Sie Susanna bei Ihrem letzten Besuche angetroffen, Herr Doktor?“ fragte er dann.

Der Arzt verfolgte ein sch�nes M�dchen mit den Blicken und erwiderte: „Ja, was soll ich sagen? Ich habe leider keine Besserung beobachten k�nnen. Ich m�chte fast sagen, im Gegenteil, der Zustand der Patientin hat sich verschlimmert. Der K�rper leistet leider gar keinen Widerstand.“

Ob man nicht jetzt daran denken k�nne, die Kranke nach dem S�den zu bringen?

„Nein!“ Der Arzt sch�ttelte den Kopf und sandte dem sch�nen M�dchen, das zur�ckkehrte, ein L�cheln zu. „Man h�tte es vor einem, zwei Jahren tun sollen — jetzt ist nicht daran zu denken. Sie w�rde die Reise nicht vertragen. Ich spreche offen, ich k�nnte die Verantwortung, die Dame jetzt reisen zu lassen, nicht �bernehmen. Sp�ter vielleicht, sobald es Fr�hling sein wird.“ Doktor N�rnberger reichte Grau die Hand. Er l�chelte und legte die niedrige fliehende Stirne in tiefe Falten. Er m�chte ihm nicht leichtfertigerweise Hoffnungen erwecken — immerhin, im Fr�hjahr, ja, da k�nne man ja Entscheidungen treffen. „Guten Abend. Herzlich gefreut.“ Im Begriffe sich zu entfernen, wandte sich der Arzt, gleichsam �berrascht von einem Einfall, zu Grau zur�ck und sagte in ver�ndertem Tone: „Vielleicht darf ich Herrn Grau einladen, mit mir in eine Herrengesellschaft im ersten Stock zu kommen? Es geht sehr animiert dort zu — das hei�t, vielleicht ziehen der Herr vor —“

„Sehr liebensw�rdig!“ sagte Grau. Er sagte sofort zu und zwar mit einem Eifer, der den Arzt in Verwunderung versetzte. „Gewi� werde ich mich freuen, ich danke herzlichst, Herr Doktor!“

Sie verlie�en den Saal und stiegen eine Treppe empor. Grau werde hier die Intelligenz der Stadt kennen lernen, das hei�t, pr�zis ausgedr�ckt, alle Elemente, die auf eine relative Intelligenz Anspruch erheben k�nnten; angenehme und gesellige Leute. Nur sei er au�erstande, irgendwelche Verantwortung zu �bernehmen, im Falle der Ton nicht gerade jenem eines Salons entspr�che. „Aber, bitte, ich liebe Ungezwungenheit,“ sagte Grau. — „Sie werden gewi� auf Ihre Kosten kommen, wenn Sie Ungezwungenheit lieben.“ — Sie gingen hin und her in breiten G�ngen, die vom Tanzen im Saale drunten zitterten. Durch ein kleines Fenster konnte Grau hinab in die chinesische Stra�e blicken, es war ein h�bsches Bild: Die wimmelnde Menge, die Lampione, der Rauch. Er sah einen Augenblick lang Adele, die gerade ihr Haar zurechtr�ckte. Sie wandte merkw�rdigerweise im selben Moment den Blick zu dem kleinen Fenster, sie konnte ihn nat�rlich nicht sehen.

Sie wei� nicht alles, dachte Grau und ein leiser Schmerz griff an sein Herz. Er folgte dem Arzte, treppauf, treppab; dieses alte Haus war ein Labyrinth.

Endlich h�rten sie den w�sten L�rm einer Herrengesellschaft und Dr. N�rnberger verbeugte sich und �ffnete eine kleine T�re. Augenblicklich drang ihnen hei�e Luft, Zigarrenrauch, der Geruch von Punsch, Lachen, Rufen entgegen und ein halbes Dutzend verschwimmender Gesichter wandte sich ihnen zu.

Grau machte die Augen scharf. Er entdeckte zuerst Eisenhuts Gesicht, daneben das bleiche schmale Antlitz des jungen Herrn von Hennenbach, auf dessen Knien die puppensch�ne Wirtin sa�.

Grau war erstaunt Eisenhut heiter und guter Dinge zu sehen.

Da sa� er, eine Zigarre in der einen Hand, in der andern ein Glas, l�chelte und plauderte.

„— die St�hle sind aus Leder, aus gepre�tem Leder. Ein L�we in Gold ist auf die Lehne gepre�t.“

„Ja, aber der Minister, Eisenhut,“ unterbrach ihn jemand, „du wolltest doch von ihm reden?“

„Das Zimmer ist �berhaupt ein Saal!“ fuhr Eisenhut fort und blinzelte. „Der Minister rauchte eine Zigarette.“

„Aber was sagte er denn?“

„Er sagte, ‚Herr Eisenhut, Sie haben also die Steine f�r die Br�cke geliefert, sch�n. Ich werde an Sie denken.‘ Er klopfte mir auf die Schulter.“

„Also sollst du wohl einen Orden bekommen?“

Eisenhut l�chelte. „Was ich bekomme, das wei� ich nicht. Aber er sagte: Ich werde an dich denken, Eisenhut.“

Haha! „Er duzte dich?“ Gel�chter.

„Vielleicht hat er auch Sie gesagt, was wei� ich — seht an!“ Er hatte Grau bemerkt.

Die Herren waren in bunten Kost�men, einige im Frack und einer, Postadjunkt Kaiser, sa� in wei�en Hemd�rmeln da. Sie spielten Karten. Sie erhoben sich mit vielem Tumult und warfen einander Blicke zu. Man war nicht sonderlich erfreut �ber den Gast, das konnte jeder sehen. Aber die Herren verbeugten sich h�flich.

Grau sah sie mit freundlichen, leuchtenden Augen an. „Ich bedaure unendlich im Falle ich st�ren sollte,“ jagte er leise und verlegen, „Herr Dr. N�rnberger hatte die Liebensw�rdigkeit mich einzuladen.“

Pl�tzlich schlug ein dicker Chinese mit einem gro�en gelben Schirm auf dem R�cken ein lautes Gel�chter auf und einige fielen ein.

„Willkommen, Pfirsichbl�te, im Reiche der Mitte!“ schrie der dicke Chinese und machte eine tiefe Verbeugung. Er dr�ckte Grau die Hand und setzte hinzu: „Im b�rgerlichen Leben hei�e ich Richter, Professor Richter, Doktor der Naturwissenschaften.“

Der Arzt schob ihn beiseite. „Erlauben Sie doch, Professor,“ sagte er, „und geben Sie den Herren Gelegenheit ihrer gesellschaftlichen Pflicht zu gen�gen. Sie gestatten, die Herren, Herr Grau —“

Er machte Grau mit den Herren bekannt. Da waren Amtsrichter Leutlein, ein gutm�tig aussehender Herr mit blaurasiertem Gesichte und sp�rlichem flaumigen Haar auf dem runden Sch�del, Rechtspraktikant Schmidt mit scharfen stechenden Augen, vielen Schmissen, hohem Stehkragen, peinlich gestriegelt und geb�gelt, Redakteur Heinrich, vom „Gauboten“, ein kleiner Mann mit struppigen schwarzen Haaren, der die Angewohnheit hatte, immer die Zungenspitze herauszustrecken und heiter auf seinen Bauch herabzul�cheln, Assistent Pechmann, ein langer Mensch mit hellblauen tr�umerischen Augen, der junge Freiherr von Hennenbach, ein junger bartloser Lehrer, der so betrunken war, da� er leichenbla� aussah und die Augen weit aufrei�en mu�te um zu sehen.

Die Herren hatten alle ein wenig �ber den Durst getrunken. Sie lachten sonderbar, sie verbeugten sich zu tief oder schief, dem Rechtspraktikanten fiel der Kneifer von der Nase, Redakteur Heinrich setzte sich beinahe neben den Stuhl, als er sich niederlie�. Ihre Augen waren scharf oder ausdruckslos, die Vorhemden zerknittert, fast jeder hatte irgend etwas L�cherliches an sich, einen Schmutzflecken, einen emporstehenden Haarb�schel, die Krawatte war in Unordnung oder das Kost�m so zugekn�pft, da� oben ein Knopf �brig blieb. Sie rauchten alle und es war solch ein Rauch im Zimmer, da� man kaum die W�nde sah. Sie sa�en um einen ovalen Tisch herum, �ber dem eine H�ngelampe brannte. Auf dem Tisch herrschte ein w�stes Durcheinander und eine Manschette rollte darauf herum.

„— Herr Redakteur Heinrich, die Herren kennen sich, Pardon — auch Herr Eisenhut wird Ihnen schon pers�nlich bekannt sein —“

Eisenhut beachtete Grau nicht; er rief: „Spielen, weiter spielen, ich habe zwei Mark von der Bank gut! Keine unn�tigen Pausen, meine Herren!“ Er trommelte auf den Tisch und lachte.

„Er ist in etwas ungenie�barer Stimmung heute, unser Herr Eisenhut,“ entschuldigte ihn der Arzt. „Herr von Hennenbach!“

Die Blicke der beiden tauchten ineinander. Grau l�chelte nicht. Er verbeugte sich zur�ckhaltend, ja k�hl, und Herr von Hennenbach blickte ihn verbl�fft mit seinen grauen Augen an und zuckte mit den Mundwinkeln. Die sch�ne Wirtin raffte eilig einige Gl�ser auf und machte sich aus dem Zimmer.

„Spielen, weiter spielen! Keine unn�tigen Pausen!“ wiederholte Eisenhut und go� Punsch in sein Glas. Seine Hand zitterte und er versch�ttete das halbe Glas, als er es an den Mund f�hrte. „Tante! Du besorgst jetzt die Sektbowle, auf meine Rechnung! Alles auf meine Rechnung!“

„Ruhe!“ rief ihm der dicke Chinese zu. „Einen Augenblick noch, ich nehme das Spiel sofort wieder auf — unser verehrter Gast — geben Sie ein Glas her�ber, Doktor! — ich darf doch einschenken? — oder sollten Sie etwa Abstinenzler sein?“

Grau l�chelte. „Nein.“ Er nahm Eisenhut gegen�ber Platz.

Der dicke Chinese lie� sich an seiner Seite schwer in den Sessel fallen und mischte die Karten; er hielt den Schirm mit dem runden Sch�del, rauchte eine Zigarre in einer langen Spitze, die er beim Sprechen von einem Mundwinkel in den andern schob. Sein Gesicht gl�nzte vor Vergn�gen und Behagen. Er hatte kurzgeschorenes rotes Haar und seine feisten Backen waren mit goldenschimmernden Bartstoppeln bedeckt. „Fertig!“ rief er, und die Karten schl�pften blitzschnell aus seiner Hand. „Die Bank ist bereit. Herr Adjunkt Kaiser! Was setzen Sie? Bei allen Teufeln, mehr Aufmerksamkeit, meine Herren! Einsatz auf den Tisch! Endlich! Herr Gro�kapitalist Eisenhut? Sie spielen hoch, das l��t sich sehen, nur keine Knickerei, nur das nicht. Herr von Hennenbach — Herr — von — Sie w�nschen noch eine Karte? Gut. Die Bank hat acht, acht! Hurra! Alle Gewehre aufs Rathaus — hahaha!“

Der feiste Chinese stie� ein rasselndes fettes Lachen aus und strich den Gewinst ein. Alle, au�er dem Arzte, hatten verloren und schrien und fluchten.

Eisenhut lachte und warf dem Chinesen ein Zehnmarkst�ck zu. „Es ist alles einerlei!“ rief er und trommelte mit den Kn�cheln auf den Tisch und blinzelte.

Der Chinese mischte, w�hrend das fette Lachen noch leise in seinem Halse rasselte und seinen ganzen K�rper ersch�tterte, so da� der Schirm auf seinem Kopfe tanzte. „Sehen Sie, welch ein Gesch�ft, verehrter Herr!“ wandte er sich an Grau. „Dreiundzwanzig Mark bei einem einzigen Gang. Hurra! Darf ich Ihnen vielleicht eine Karte geben? Es ist ein sehr einfaches und h�chst anregendes Spiel, absolut, ich betone, absolut unschuldig. Bakkarat, ist es Ihnen nicht bekannt? K�nige und Damen gleich Null — �brigens durch die Praxis lernen Sie am schnellsten. Wollen Sie ein Spielchen wagen? H�chster Einsatz zwanzig Mark, niederster f�nfzig Pfennig — staatlich konzessioniertes Spiel — Gewinn und Verlust gleichen sich stets aus. Nun?“

Grau lehnte ab. „Ich danke, ich habe kein Geld!“ sagte er. „�brigens macht es mir gro�es Vergn�gen, zuzusehen, lassen sich die Herren, bitte, gar nicht st�ren.“

Er k�nne auch auf Borg spielen. Nicht?

„Spione vor die T�r!“ sagte Eisenhut leise und r�usperte sich! „Nicht wahr? Spione vor die T�r!“ wiederholte er und klopfte dem leichenblassen Lehrer auf den Arm. Der ri� die Augen auf und sah ihn verst�ndnislos an.

Das Spiel machte einige Runden. Der Chinese schrie und br�llte und trieb zur Eile. Am eifrigsten spielte Eisenhut. Er sa� da, l�chelnd, blinzelnd, er schrie, fluchte und trank mehr als alle andern. Er war erstaunt, das Glas immer leer zu finden, go� immerzu ein, schrie nach der Sektbowle! Ja, Himmel und H�lle: Die Sektbowle! Lustig sein, fr�hlich sein! Hier und da wandte er den Blick auf Grau, der ruhig und heiter dasa� und mit seinen hellen Augen das Spiel verfolgte. Ihre Blicke begegneten sich dann und wann, und Eisenhut grub seinen Blick stets messerscharf in Graus Augen, verzog das Gesicht und wandte sich mit einem leisen inneren Lachen ab. Es schien, als ob ihn zuweilen ein Schwindelgef�hl zu �bermannen drohe, er heftete die Augen auf die Karten und z�hlte die Points unsicher und falsch.

„Sie werden doch wohl nicht betr�gen, Eisenhut!“ schrie der Chinese. „Das ist ja eine Sieben! Oder sind Sie betrunken?“

„Noch nicht, noch nicht!“ kicherte Eisenhut. Da fiel ihm die Bank zu und er begann fieberhaft zu spielen. Nun schien nichts mehr f�r ihn vorhanden zu sein als dieser Tisch, der von versch�ttetem Punsche tropfte und mit Asche und Zigarrenresten bedeckt war. Er beugte das Gesicht bis auf die Tischdecke herab, gab die Karten, mischte und lie� seine kleinen glitzernden Augen im Kreise wandern. Er lachte, wenn er gewann, und er lachte, wenn er verlor. Ja, er schien es darauf anzulegen zu verlieren. Er sah nichts mehr als die H�nde, die nach den Karten griffen, Geld hin und her schoben, alle diese verknitterten, beschmutzten Manschetten, die Haare auf den H�nden des Amtsrichters und den silbernen Armreif, den Herr von Hennenbach trug.

Nur zuweilen atmete er tief auf, sch�ttelte den Kopf, starrte vor sich hin, um sofort wieder das fieberhafte Wesen anzunehmen.

Herr von Hennenbach verlor. Grau sah, wie die R�te aus seinen Wangen wich und verst�rkt wiederkehrte, als ihm pl�tzlich ein hoher Gewinn zufiel, um wieder langsam zu verschwinden, da zwei, drei erfolglose Eins�tze den Gewinn zerstreuten. Er legte sich in den Stuhl zur�ck und suchte hastig in allen Westentaschen. Dann beugte er sich zu Eisenhut und fl�sterte ihm ins Ohr. Aber Eisenhut meckerte, sah ihn mit einem schnellen ha�erf�llten Blicke an und schrie: „Ich gebe nichts mehr!“ Darauf erhob sich Herr von Hennenbach und sagte: „Ich habe dich leise gefragt, du hast mir leise zu antworten!“

„Ich tue, was ich will!“ erwiderte blinzelnd Eisenhut und mischte rasend die Karten.

Herr von Hennenbach schnalzte mit der Zunge. „Ich bin bankerott!“ sagte er und verlie� das Zimmer.

„Auf das Wohl Bismarcks, des Deutschen Reiches gro�en Baumeister!“ lallte Redakteur Heinrich und lud mit einem Schmunzeln das Glas auf dem Tische ein, ihm in die Hand zu laufen. Er gab sich einen Ruck und ergriff das Glas. „Auf das Wohl des Alten aus dem deutschen Eichenwalde, Ritter ohne Furcht und Tadel, des Deutschen Reiches eiserner Kanzler, Barbarossas Erwecker — alles hoch, hoch!“

Der Adjunkt in Hemd�rmeln lachte. „Schreibe den Festbericht f�r dein K�sblatt und halte das Maul!“ sagte er.

„Hoch das Deutsche Reich, das Vaterland, hoch der deutsche Dichterwald und die Armee, die den Franzmann schlug! Alles hoch!“ fuhr der Redakteur schmunzelnd fort und pl�tzlich stand er auf und stand mit der Zungenspitze zwischen den Z�hnen, das Glas in der Hand, da. „Hochverehrte Festversammlung, meine Herren und Damen, Festg�ste —“

„Keine Reden! Um Gottes willen!“

„— der einzige Mann, sage ich, der die Lage �berblickt hat, fahre ich fort, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind, ein einig Volk, die erste Nation der Erde, bei deren Namen Klange die Erde erzittert — meine Herren! — Wir Deutschen f�rchten Gott und sonst niemand in der Welt —“ er sank auf den Stuhl zur�ck.

„Was setzen Sie?“ schrie Eisenhut und schlug auf den Tisch, da� das Geld in die H�he sprang.

„Meine Damen und Herren — f�nfzig Pfennig — hoch die Fahne, sage ich, hoch! zum Kampfe gegen die rote und schwarze Gefahr, die des Reiches Wappenschild —“

„Schlie�en Sie endlich gef�lligst die Klappe!“ sagte der dicke Chinese und lachte rasselnd. „Ihr Geschw�tz versteht ja kein Teufel und gehen Sie in die H�lle mit Ihrer Politik, Verehrter — noch eine Karte Eisenhut, neun! — Doktor, vergessen Sie nicht unserm Gast einzuschenken —“

Der Redakteur fuhr fl�sternd fort: „Laut statistischer Ziffern sind wir die st�rkste Heeresmacht in Europa — ich fordere die Herren auf —“

„Sie langweilen unsern Gast!“

„Er ist unser!“ schrie der Redakteur und erhob das Glas gegen Grau. „Er ist unser, eine St�tze, ein K�mpe! Ja, wir m�ssen Br�derschaft trinken, unbedingt, eine Seele und ein Geist, der in uns lodert — wir sind im herrlichsten Fahrwasser mit unserer Politik. Die letzten Ergebnisse — was meinen Sie? Nicht, da� schon alles getan w�re — aber das Fahrwasser, das Fahrwasser, wie?“

„Ich bin leider nicht imstande, die gegenw�rtige Lage zu �berblicken,“ sagte Grau.

„Oh! Sofort —“

„Gehen Sie in die H�lle! sage ich, mit Ihrer Politik!“ schrie Professor Richter und schlug auf den Tisch. „Politisch Lied, ein garstig Lied! Es ist uns ja alles einerlei, der ganze Mumpitz ist uns schnuppe — schlie�en Sie ab! Lassen Sie sich, Herr Grau, um Gottes willen in kein Gespr�ch mit ihm ein, er t�tet Sie, er t�tet Sie buchst�blich.“

Aber der Redakteur mit den wilden Dichterhaaren gab sich nicht zufrieden. „Es ist die Begeisterung, die aus mir spricht!“ rief er aus. „Echte deutsche Mannesbegeisterung. Man mu� die Turn- und Kriegervereine unterst�tzen. Ein starkes Volk, ein Volk von Helden — nieder mit den Sozialdemokraten, mit diesen schmutzigen Kerlen!“

„Warum nennen Sie sie schmutzig?“ fragte Grau leise l�chelnd.

„Warum?“ Ob er schon einen von diesen Dreckhammeln mit sauberen H�nden und einem reinen Kragen gesehen habe? „Sie sind dreckig und unzufrieden und faul und trinken Schnaps und sie wollen, da� wir Jauche pumpen und die Stra�en kehren! Ja, warum lachen Sie da, Sie lachen doch, Herr Grau, oder t�usche ich mich?“

„Ja, ich mu�te lachen, entschuldigen Sie,“ sagte Grau.

„Sie stimmen mir also nicht bei?“

Grau l�chelte. „Sie sprechen ja nicht im Ernste.“

„Im Ernste? Ich? Redakteur Heinrich?“

„Dann sind Sie nicht gerecht!“ sagte Grau.

„Gerecht? Ich? Der Herr behaupten — eiei!“ Der Redakteur lachte belustigt.

„Nun ja,“ begann Grau, „diese Sozialdemokraten sind doch zumeist Arbeiter. Sie arbeiten f�r uns, sie bringen Geld ins Land —“

Der Redakteur steckte die Zungenspitze heraus. „Aber daf�r bezahlt man ja diese Kerle!“ schrie er, Grau ins Wort fallend.

„Dann gebe ich mich zufrieden,“ sagte Grau. „Wenn man sie nur bezahlt und auch sonst menschlich behandelt —“

Redakteur Heinrich r�ckte n�her. „Also sind wir einig, nicht wahr, wir sind einig, haben uns wiederum gefunden! Hoch! Prosit! Sie sagen, Sie sind nicht imstande die Situation zu �berblicken? Ich werde mir erlauben — Nummer eins, Nummer zwei und drei — nieder mit der Sozialdemokratie, die mit schmutzigen H�nden die heiligsten G�ter der Nation betastet — Nummer eins — man bezahlt sie und fertig damit, fort mit dem Gesindel — Nummer eins, sage ich, Nummer zwei — nieder mit den Juden, die das germanische Blut saugen — Sie l�cheln, ja bitte, darf ich bitten — Sie l�cheln — nun, ich denke Sie sind ja doch kein Jude, nicht wahr — oder? — hier, Herr Doktor N�rnberger, er ist Jude — aber er ist Antisemit — wie jeder gebildete anst�ndige Jude, den der deutsche Geist bestrahlt hat — kurz und gut — ich spreche wie ein echter deutscher Mann spricht — Nummer drei, vier und f�nf — nieder mit den Ultramontanen, die deutsches Geld nach Rom schleppen und die Tugend unserer Frauen und T�chter gef�hrden — Sie l�cheln? Ist es etwa nicht wahr? Ja, mein Gott, ich wage es ja nicht, die Kirche, welche es auch sei — denn ich bin ja tolerant — mit meinem kleinen Finger anzutasten — Kirche und Thron — prosit! — hoch! — aber der Ultramon — Ultramon —“

Er qu�lte sich ab, das Wort auszusprechen, aber zur gro�en Heiterkeit aller brachte er es nicht fertig.

„Ultramon —“

Der Chinese lachte laut heraus. „Habe ich es Ihnen nicht gesagt, lassen Sie sich in kein Gespr�ch mit ihm ein. Er ist ein pr�chtiger Mensch, unser Redakteur Heinrich, aber sobald er ins Reden kommt wird er ungenie�bar. Nun ist ihm Gott sei Dank ein Wort im Halse stecken geblieben. Er hat sich auf Sie geworfen, weil er mit uns kein Gesch�ft mit seinen Phrasen machen kann. Wir sind gar nicht f�r Politik, wir k�mmern uns um nichts. Was liegt uns daran, was sie mit dem ganzen heiligen Bierstaat machen? Frage ich Sie? Hol mich der Teufel, nichts! Wir bezahlen unsere Steuern, weil wir m�ssen, fertig damit. M�gen sie da droben wirtschaften, wie sie wollen, das geht uns ja nichts an. Wie beliebt? Sagten Sie etwas? Nun, haben Sie keine Angst, welcher Partei Sie angeh�ren, das wei� ich nicht, ich bek�mmere mich auch nicht darum. Frei sind wir, frei, keine Parteifanatiker, wir tun unsere Arbeit, man bezahlt uns, fertig. Wir leben, wir sind Menschen. Partei ist Unsinn — wir alle hier sind Individualit�ten — Aristokraten, basta! Ich setzte drei Mark, Eisenhut. Habe f�nf!“

„Wie sagten Sie?“ fragte Grau, als ob er nicht geh�rt h�tte.

„Ultramontanismus! Ultramontanismus!“ schrie laut triumphierend der Redakteur. Er hatte das Wort vor sich auf den Tisch geschrieben.

Der Chinese beugte sich zu Grau. „Individualit�ten, Aristokraten, sagte ich, sind wir. Geh�ren zu keiner Partei. Wir alle, wie Sie uns hier sehen, und auch Sie, Herr Grau — wenn ich Sie recht kenne, nach all dem, was ich von Ihnen geh�rt habe — auch Sie sind Aristokrat und Individualit�t! Auf Ihre Gesundheit!“

Grau l�chelte und sch�ttelte den Kopf. „Auf Ihr Wohlsein!“ sagte er. „Ich danke Ihnen f�r Ihre gute Meinung, aber Sie �bersch�tzen mich ganz ungeheuer. Ich bin kein Aristokrat, bei Gott, nein, noch lange nicht! Ich w�rde es auch nicht wagen, mich eine Individualit�t zu nennen. Ich bin noch weit entfernt davon, zu jung, zu wenig reif; ich danke Ihnen vielmals, aber eine Individualit�t — sehr schmeichelhaft, allein —“

„Ha!“ schrie der Redakteur. „Prosit, Herr Grau! Ultramontanismus, Ultramontanismus, Prosit!“

„Aber?“ sagte der fette gl�nzende Chinese gedehnt und sah Grau mit den kleinen Augen an, die schimmernd in den fetten Backen schwammen. „Ich dachte —“

„Keine Gespr�che, Professor,“ unterbrach ihn Dr. N�rnberger. „Keine Gespr�che. Es nimmt kein Ende und kommt nichts dabei heraus zum Schlusse. Spielen Sie!“

„Ich spiele ja! Sehen Sie denn nicht, da� ich ganz verzweifelt spiele. Ah! wo bleibt denn deine Bowle, Eisenhut, machst immer ein gro�es Geschrei! — Sie sind ja zu bescheiden, verehrtester Herr,“ wandte er sich an Grau. „Nun, Sie k�nnen sich nennen wie Sie wollen, aber wir hier sind alle Individualit�ten und Aristokraten.“

Er beschrieb mit der Hand einen Bogen, der die ganze Gesellschaft einschlo�. Dann erhob er das Glas und f�gte hinzu: „Und nun lassen Sie uns ein Glas auf unsere Zeit leeren, die Zeit der Aufkl�rung!“

Redakteur Heinrich schrieb eifrig an seinem Festbericht f�r den „Gauboten“, er kritzelte mit dem Bleistift einige Briefbogen voll, spielte dabei und horchte noch dazu immer mit einem Ohre auf das Gespr�ch an seiner Seite. Sobald jemand prosit sagte, schrie er ebenfalls prosit, und als er etwas von Aufkl�rung h�rte, sprang er auf und schwenkte das Glas. „Aufkl�rung in Stadt und Land, prosit!“ schrie er.

„Nun?“ sagte der dicke Chinese zu Grau. „Sie trinken nicht, Sie scheinen nicht einverstanden zu sein mit mir?“

„Gewi�, ich trinke,“ sagte Grau. „Mein Glas ist leer — danke, Herr Doktor!“

Ob er nicht selbst sagen m�sse, da� es eine Freude sei, in dieser, gerade in dieser Zeit zu leben: Eine Zeit der Entdeckungen, der horrendesten Entdeckungen, Erfindungen, eine Zeit der Ideen, ja zum Teufel, — einer gesegneten Zeit der Aufkl�rung, Abkl�rung und Erkl�rung, einer Zeit der Befreiung des Menschengeistes, einer neuen Zeit.

„Gewi� eine hochinteressante Epoche!“ warf Dr. N�rnberger ein. „Das Mittelalter liegt weit hinter uns!“

Eine Zeit der Wissenschaft, der Sieg der Naturwissenschaften �ber den Aberglauben, Chemie, Physik hoch! Wie beliebt?

Grau l�chelte. „Gewi�, eine hochinteressante Epoche!“ sagte er.

Der Chinese sah ihn an. „Aber?“

„Wieso denn: Aber?“

„Sie akzeptieren also unsere Zeit ohne jeglichen Widerspruch, Herr Grau?“ sagte Dr. N�rnberger mit feinem ironischem L�cheln.

Die Herren verbargen ihm nicht, da� er sich in grellem Kontrast zu seinen �ffentlichen �u�erungen bef�nde.

Grau l�chelte fein. „Ich akzeptiere unsere Zeit als eine hochinteressante Epoche, meine Herren,“ erwiderte er, „ohne ihr jedoch in allem zuzustimmen —“

„Ah — haha! Nun lassen Sie, bitte, h�ren!“ fiel ihm der Chinese ins Wort.

Grau sah ihn an, dann fuhr er fort: „Auf jeden Fall ist es mir unm�glich, Ihre kritiklose Begeisterung zu teilen, meine Herren. Ich wiederhole nochmals, die Epoche ist hochinteressant, trotzdem kann ich nicht in Entz�cken geraten �ber unsere Zeit. Vielleicht verstehe ich die Zeit nicht recht, aber ich darf wohl meine Meinung sagen, nicht wahr? Sie sagen, wir h�tten das Mittelalter hinter uns, ich glaube das nicht, ich glaube es nicht ganz.“

„Wie? Aber —“

„Lassen Sie Herrn Grau reden, Herr Professor!“

„Nein, ich glaube es nicht ganz. Sondern ich glaube, da� wir in vieler Beziehung tief im Mittelalter stecken. Die Welt ist etwas reinlicher geworden, ja, das ist gut, wir haben Bahnen und Schnelldampfer, auch das ist ganz h�bsch, wir haben eine Menge neuer Dinge, aber sind es wesentliche, wertvolle Dinge? Ich sage nein. Entschuldigen Sie, es ist meine bescheidene Ansicht. Sie erlauben doch, nicht wahr? Es kommt mir so vor, wenn ich es sagen darf, ich blicke auf unsere Justiz, auf unsere sozialen Verh�ltnisse, die Stellung der Frau, auf eine Menge Dinge. Das Beil h�ngt noch �ber ganz Europa, ach, ich brauche mich ja nicht auf Einzelheiten einzulassen, es gibt keine Leibeigenen mehr, nein, auf dem Papier existieren sie nicht mehr, aber es gibt Millionen Sklaven des Kapitalismus, wir haben das alte Kastenwesen, privilegierte St�nde — und selbst die aufgekl�rten und vornehmen Menschen, die meisten wenigstens, die ich kenne — treten die Privilegien des Standes an, in dem sie geboren sind, ohne weiter dar�ber nachzudenken. Die gleichen, nahezu die gleichen Ideen regieren — mit dem einen Unterschied, da� sie jetzt hohle Formen geworden sind, w�hrend sie fr�her wirkliche Kr�fte waren. Kurz und gut, ich k�nnte Ihnen hunderte von Dingen aufz�hlen, die um kein Haar anders sind als sie im Mittelalter waren — vielleicht sehen sie etwas anders aus und vielleicht sehen wir sie anders, weil wir dicht vor ihnen stehen. Aber — und nun h�ren Sie — ich glaube, es ist ja nur meine Ansicht — eines haben wir verloren: Die �berzeugung, die das Mittelalter besa�, die Tiefe, den ganzen Mystizismus, die wilde und sch�ne Atmosph�re. Ja, Sie lachen, Gott, wie gesund und gut Sie lachen k�nnen, das freut mich, Sie sind ein guter Mensch, lachen Sie ruhig, es ist ja nur meine Ansicht. Sie sprechen von unserer Zeit, nicht wahr, vor hundert oder achtzig Jahren sah es viel besser in der Welt aus glaube ich, besonders in Deutschland.“

„Halten Sie ein!“ unterbrach ihn der Chinese. „Entschuldigen Sie, da� ich Sie unterbreche: Nehmen Sie mir auch mein Lachen nicht �bel. Ich lache und wir alle sind ja in guter Stimmung, hurra, hoch! Ja, wir sind alle gut aufgelegt. Eisenhut k�nnte die Bank nach und nach abgeben, er wird langweilig mit der Zeit! Wir brauchen — ja, was sagen Sie doch — tiefe �berzeugung, Mystizismus — ja, gehen Sie doch in die H�lle damit — Sie verzeihen meine starken Ausdr�cke, es ist die Stimmung —“

„Bitte, bitte!“ sagte Grau l�chelnd. „Ich verstehe sehr wohl —“

„Wir sind ja gerade froh, da� wir all das los haben, Hochw�rden! Es macht mir Freude, Ihnen zuzuh�ren, mit Ihnen zu sprechen, aber was sagten Sie doch alles? Es scheint mir doch, da� Sie den modernen Zeitgeist wenig sp�ren und ein bi�chen altmodisch sind, Herr Grau, hahaha!“

Grau l�chelte. Er k�nne recht haben, vielleicht sei er ein wenig altmodisch. Mindestens sei er sehr langsam, sehr schwerf�llig. Aber wenn Herr Professor sich etwas M�he g�be.

Professor Richter r�usperte sich und nahm einen tiefen Schluck. „Wir sind moderne Menschen, mein Freund,“ sagte er. „Modern bis auf die Knochen. Ein moderner Mensch, haben Sie eine Vorstellung von einem modernen Menschen? Ich will es Ihnen sagen. Ein moderner Mensch, das ist ein Mensch dieser Zeit der Aufkl�rung, ein freidenkender, toleranter Mensch, dem es ganz einerlei ist, was der andere tut, er kann tun und lassen, was er will und soll schauen, da� er zurecht kommt, ein Mensch ohne Aberglaube und utopistische Tr�ume und schw�chliche Ideale, ein Mensch mit einem gesunden Egoismus und einer gesunden Sinnlichkeit, ein Mensch, der sich nicht sch�mt ein Mensch zu sein — bei allen Teufeln in der H�lle — eben ein Mensch mit gesunden Sinnen und kein Phantast, kein M�nch, kein Spie�b�rger — sondern ein Einzelwesen, ein Individuum — ja, zum Henker — das ist der moderne Mensch. Ich habe mich wohl deutlich genug ausgedr�ckt, wie?“

„Danke, ja!“ Grau sah den Chinesen an. „Lassen Sie mir etwas Zeit, ich mu� all das �berlegen. Ich denke sehr langsam, das ist es. Als ich jung war, fiel mir einmal eine Leiter auf den Kopf und seitdem mu� ich langsam denken.“

„Die Leiter hat Ihnen doch weiter nicht geschadet, wie?“

„Nein, ich glaube nicht.“ Grau l�chelte.

„Sie kennen Lombroso, nicht? So ein Ansto� von au�en her kann zuweilen ein ganz gutes Resultat haben. �brigens auf Ihr Wohlsein! Ich habe Sie vorhin unterbrochen.“

Grau l�chelte und stie� mit dem Chinesen und Dr. N�rnberger an. „Es ist sehr angenehm in dieser Gesellschaft!“ sagte er. „Ich danke Ihnen nochmals, Herr Doktor, da� Sie die Freundlichkeit besa�en mich einzuf�hren. Sie haben mir erkl�rt was der moderne Mensch ist, Herr Professor. Erlauben Sie mir nun eine Frage, ich verstehe manches nicht. Zum Beispiel: Gesunder Egoismus und gesunde Sinnlichkeit, das sind ebenfalls solche Worte, die ich �berall h�re, ohne mir viel darunter vorstellen zu k�nnen. Ja, bei Gott, ich mu� in Wirklichkeit ein altmodischer Mensch sein — haha — Sie haben am Ende doch recht — denn ich w�nsche mir den Menschen gerade mit recht viel Tr�umen und Idealen — sie brauchen ja nicht schw�chlich zu sein, da haben Sie recht, wenn sie nur hoch sind! — mit recht vielen Tr�umen und Idealen sagte ich, auch Phantast kann er sein, weshalb nicht? Welche Rechte hat Ihr moderner Mensch?“

„Er tut, was er will!“

„Was er will?“ sagte Grau leise und erstaunt. „Nun, aber er hat doch wohl Pflichten, Verantwortung —“

Der Chinese lachte. „Faule Fische! Er tut, was er will und jeder tut, was er will. Pflichten und Verantwortung, das sind ganz ekelhaft abgestandene Begriffe —“

Hm. Grau dachte nach. Er sch�ttelte den Kopf und l�chelte. „Sie m�gen recht haben, da� ich ein altmodischer Mensch bin, aber ich glaube nicht, da� der moderne Mensch so ist, wie Sie ihn beschreiben. Der moderne Mensch f�hlt sich im Gegenteil mehr durchdrungen vom Gef�hle der Verantwortung als der Mensch irgend einer andern Epoche. Oft scheint es als ob in ihm erst jenes Gef�hl richtig erwacht sei.“

Der Arzt unterbrach ihn.

Man m�sse ja nur den Mut und die Ehrlichkeit haben die Wahrheit zu sehen und zu sagen, warf er ein. Ein Blick in die Natur gen�ge, um jeden zu �berzeugen, da� das Prinzip des Egoismus �berall regiere. Ebenso im Menschen. Man fange an, das zu erkennen und —

„Erlauben Sie,“ sagte Grau, „das hat man schon vor Tausenden von Jahren erkannt. Es springt ja in die Augen und ist das Nat�rlichste. Aber seit Tausenden von Jahren haben sich nun die Weisen mit diesen Problemen besch�ftigt, �ber Recht und Pflicht, den Einzelnen und die Gesamtheit, �ber Tugend und Laster — sie haben dar�ber nachgedacht, haben sich die K�pfe zerbrochen — die Allerweisesten der Menschen — ich bin ja ein Nichts im Verh�ltnis zu diesen K�pfen — aber mir erscheint nichts l�cherlicher und kleinlicher als der Egoismus.“

In diesem Augenblick wurde die Sektbowle von der sch�nen Wirtin hereingetragen und mit lautem Hallo begr��t. Der Redakteur lie� seinen Festbericht im Stiche und f�hrte einen indianischen Tanz auf. Eisenhut pfiff auf einem Schl�ssel und der Adjunkt segnete die Bowle mit feierlichen Geb�rden. Herr von Hennenbach kam mit der sch�nen Wirtin herein und fa�te sie um die H�fte. Der leichenblasse Lehrer schlief in der Sofaecke, er erwachte bei dem Geschrei, blickte auf die Bowle, machte eine abwehrende Handbewegung und schlief weiter.

Die Bowle brachte neues Leben in die Gesellschaft. Man sang einen Rundgesang und st�rzte sich dann mit neuem Eifer auf das Spiel. Eisenhut hielt noch immer die Bank. Er sah bleicher und erregter aus, schrie und lachte mehr als alle. Zuweilen lauschte er gegen die T�re, wenn die Musik hereindrang, dann bellte er, trommelte und sprach sinnloses Zeug.

„Ich werde jetzt mein Kost�m ausziehen!“ schrie er.

„Du bist ein Chinese auch ohne Kost�m!“ sagte der Adjunkt und der Witz fand gro�en Beifall.

„Vorsicht!“ sagte Eisenhut b�se und deutete mit dem Zeigefinger auf den Adjunkten, aber augenblicklich lachte er wieder heiter.

Herr von Hennenbach nahm wieder am Spiele teil. Es schien als ob das Gl�ck sich ihm zuwende. Er strich sich aufgeregt das schwarze, gl�nzende Haar aus der bleichen hohen Stirne und lachte.

„Es beginnt!“ rief er. „Nur los, Eisenhut! Ich brauche Geld! Noch eine Karte, wenn ich bitten darf. Ich setze zehn Mark!“

Aber er verlor, und obgleich Eisenhut unvorsichtig spielte, verlor der Freiherr fortw�hrend. Er wurde noch aufgeregter und erbleichte mehr und mehr. Er setzte nun stets zwanzig Mark.

„Zum Teufel!“ schrie er und lachte nerv�s.

Dann aber gewann er. Er gewann f�nf-, sechsmal nacheinander und geb�rdete sich laut vor Freude. „Endlich wendet sich das Blatt! Prosit, prosit allerseits!“

„Die Bank hat acht!“ rief Eisenhut.

„Neun!“ schrie Herr von Hennenbach und schlug auf den Tisch.

Eisenhut sah ihn an und l�chelte h�misch. „Sehen lassen!“ sagte er.

Es waren nur sechs Points.

Freiherr von Hennenbach stand auf und stie� den Stuhl zur�ck und erbleichte. „Ich habe doch gez�hlt und gez�hlt!“ rief er. „Sehe ich nicht recht? Das ist ja eine Figur — aber das ist ja zum Teufelholen — bin ich denn bezecht?“

Eisenhut meckerte. „Du hast dich get�uscht, Kurt — setze dich — get�uscht hast du dich, das kann vorkommen.“

Rechtspraktikant Schmidt aber sagte scharf: „Man mu� eben acht geben!“

„Wie beliebt, Herr Grau? Wir haben die Telegraphie, das Telephon, Bogenlampen, Blitzz�ge, die R�ntgenstrahlen — all das hat unsere Zeit geschaffen. Imponiert Ihnen das nicht ein wenig? Kinematograph, Phonograph, ja, was haben wir doch alles. Die eminente Entwickelung der Naturwissenschaften.“

Herr Grau m�ge sich auch an die Errungenschaften der modernen Physiologie, Bakteriologie, Chirurgie erinnern, bemerkte der Arzt.

Grau l�chelte. „Ich sagte schon, da� das alles ganz gro� ist,“ sagte er, „all diese Erfindungen, von denen Sie sprechen, wunderbar! Ich lege Ihnen sogar noch einen tieferen Sinn bei — sie sind in gewissem Sinne Offenbarungen — Verzeihung, ich spreche im vollen Ernste, meine Herren — aber —“

„Aber?“

„— trotz ihrer Gr��e und Wichtigkeit und Tiefe sind sie alle zusammen noch nicht imstande eine Kultur zu bilden. So gro� sie sind, sind sie doch kein wesentlicher kultureller Faktor. Ich nehme an, ja, zum Beispiel, ein einziger Psalm von Salomo ist weitaus mehr wert als alle Fernsprechapparate und Dynamomaschinen zusammen —“

„Allen schuldigen Respekt vor Ihrem Salomo, aber —“

„Wir k�nnen ja auch sagen: Ein Gedicht von Heine, eine Kantate von Bach, ein Beethovenscher Akkord, ein Gedanke von Plato oder Goethe, wie Sie wollen.“

„Pardon,“ unterbrach ihn der Arzt, „glauben Herr Grau vielleicht, da� ein Goethescher Gedanke, um nur eines herauszugreifen, kulturell h�her zu werten ist als zum Beispiel die Erfindung des Serums gegen die Tollwut oder die Entdeckung des Cholerabazillus?“

Grau sah ihn erstaunt an. „Aber nat�rlich!“ sagte er l�chelnd. „Wir sprechen ja von Kulturwerten, nicht wahr?“

Hm!

Aber mit einem Serum k�nne man doch Tausende von Menschen heilen und ihr Leben retten?

Grau l�chelte. „Haben Sie damit schon etwas zur Kultur beigetragen, Herr Doktor?“

„Hahaha!“ lachte der dicke Chinese und zog seine Karten auf.

Hier geschah es, da� Herr von Hennenbach auf Grau blickte. Wiederum ruhten die Blicke der beiden eine Weile merkw�rdig fragend und suchend ineinander. Grau blickte den Freiherrn lange an. Und es war eigent�mlich, der junge Mann erbleichte unter Graus Blick. Er erbleichte ganz langsam. Er wandte die Augen ab, um Grau sofort wieder anzusehen. Er legte die Karten auf den Tisch, starrte Grau an und drehte mechanisch den silbernen Reif um das Handgelenk. Dann gab er sich einen Ruck, verzog den Mund und griff nach seinem Glase und erhob es gegen Grau.

„Auf Ihre Gesundheit, Herr Grau!“ sagte er und l�chelte.

Grau r�hrte sich nicht. Es war ein solcher L�rm, da� der Freiherr annahm Grau habe nicht geh�rt. Er wiederholte: „Auf Ihre Gesundheit, Herr Grau!“

Sah Grau nicht? H�rte er nicht? Er blickte ruhig und ohne eine Miene zu bewegen auf den jungen Mann.

„Auf Ihre Gesundheit, Herr!“

Grau sah und h�rte nicht.

„Das ist doch unerh�rt!“ stammelte der Freiherr und erbleichte.

Niemand hatte dem Vorfall Beachtung geschenkt.

Professor Richter r�ckte n�her an Grau heran, so da� jetzt Grau ebenfalls unter den gelben chinesischen Schirm zu sitzen kam.

„Also unsere Zeit findet keine Gnade vor Ihren Augen? Seht an, seht an!“ begann er von neuem.

Grau antwortete nicht zugleich. Er war m�de von dem ewigen Geschw�tz, �brigens besch�ftigten ihn auch andere Gedanken, gerade jetzt.

„Bitte?“ sagte er. Er l�chelte. „Gerade vor meinen Augen? Ich bin ja nicht befugt, zu urteilen und zu richten. Aber wenn Sie mich fragen, so kann ich wohl antworten, da� ich nicht ganz zufrieden bin. Man arbeitet, man sucht, ja, gut, ich m��te ein Tor sein, wollte ich das leugnen, unsere Zeit bereitet gewi� eine andere vor, die einen h�heren Wert besitzt. Wie es gegenw�rtig aussieht — nein, ich kann nicht zufrieden sein. Ganz und gar nicht. Vielleicht hat es noch nie eine Kultur gegeben, die so tief stand wie die Kultur unserer Zeit. Sie l�cheln? Ja, erlauben Sie mir, so scheint es mir. Andere Zeiten und V�lker hatten ja nicht die grandiosen Kulturvorbilder wie wir sie haben. Trotzdem. Eine gewaltige Bewegung, ein Rausch, eine Begeisterung, Ideale? Nun? Wo sind sie? In Europa? Der Tr�ger der Kultur ist meines Erachtens in unserer Zeit nicht Europa. Auch das belustigt Sie? Ich �u�ere meine Ansicht selbst auf die Gefahr hin, da� ich mich vor den Herren l�cherlich mache und immer mehr und mehr altmodisch erscheine. Es ist doch ein Gespr�ch, nicht wahr? Was weiter? Ja, so scheint es mir. Europa ist sicherlich das reinlichste und zivilisierteste St�ck Erde, nat�rlich. Gro�e Gef�hlsstr�mungen — wir haben das Mittelalter gehabt, mit einem gro�en Rausch, Sehnsucht nach Erl�sung, Befreiung, wie haben doch die Menschen damals gef�hlt? Ich wei�, da� Sie den M�nchen gegen�ber nicht freundschaftlich gesinnt sind — aber der Gedanke des M�nchtums war doch tief. Oder? Ich wei�, da� man allgemein den Gedanken kurzerhand abtut — aber wenn man nachdenkt? Er ist doch tief. Die M�rtyrer — die Fakire und Derwische — zu welchen Taten sind sie f�hig gewesen, und die Fakire vollbringen heute noch die unglaublichsten Dinge. Was ist Gef�hl, was ist Mysterium, Wunder, Tiefe? Freundschaft, Liebe? Religi�ses Empfinden? Sehen Sie sich um? Nun, gewi�, ich erscheine Ihnen vielleicht altmodisch, weil ich mich danach umsehe. �brigens wei� ich wohl, da� all das noch existiert, aber nicht als Bewegung, als allgemeine Empfindung. Wir haben viel Anerkennungswertes in unseren Tagen, aber wissen Sie, woran es uns vor allem fehlt?“

„Bitte?“

„An seltenen Tugenden, gro�en Gef�hlen und au�erordentlichen Eigenschaften.“

„Hahaha. Fahren Sie fort! Auf das Wohl der Fakire und heulenden Derwische!“

Grau erhob das Glas. „Auf ihr Wohl!“ sagte er. Und er fuhr fort: „Wir haben in unserer Zeit eine Art von Bequemlichkeit, die mir bedenklich erscheint. Wenn ich richtig beobachte, so ist man im allgemeinen geneigt sich ohne jegliches tiefere Nachdenken den �rmlichsten und trivialsten Lebensanschauungen anzuschlie�en — zum Beispiel dem Materialismus, Atheismus und so weiter. Und wissen Sie warum? Weil es so einfach, so n�chtern ist, weil man nicht zu denken braucht und weil diese Anschauungen so gar keine Anforderungen stellen. Das erscheint mir so �rmlich und trivial und das ganze Leben ist so geworden, selbst die Literatur, sehen Sie sich die Literatur an, wie trivial ist sie doch zum gr��ten Teil geworden, die Feste, jede Lebens- und Gesellschaftsform beinahe! Trotzdem,“ f�gte er hinzu, „ist unsere Zeit wertvoll, weil sie mit ungeheurer, wenn auch verborgener Kraft, eine neue, grandiose Kultur vorbereitet!“

Hier aber brach ein lautes Geschrei aus. Der Lehrer n�mlich war langsam vom Sofa geglitten und unter den Tisch gefallen. Er schlief und man h�rte ihn laut schnarchen.

Auch Adjunkt Kaiser war eingeschlafen. Sein Kopf lag mit dem Kinn auf der Brust und die Oberlippe stand l�ppisch vor. Aber er hielt seine Karten tapfer in der Hand und �ffnete immer ein Auge, sobald die Runde an ihn kam. Das erriet er stets. Die Stimmen der Spieler wurden leidenschaftlicher, rauh und betrunken. Zuweilen trat eine Pause ein, da alle anfingen m�de zu werden. Dann h�rte man das Wiegen der Musik im Saale, die Geigen, die Klarinetten, die Pauken. Manchmal kam die Musik bis dicht an die T�re, kicherte durch die Spalten, verschwand in der Ferne und wiegte sich heiter.

Dann sah Eisenhut auf und starrte zur T�re.

Da erhob sich Grau pl�tzlich und sagte: „Meine Herren, ich bitte um eine Minute Geh�r. Ich finde Sie alle bei guter Laune und ich m�chte die gute Stimmung benutzen, um Sie zu einem wohlt�tigen Werke zu animieren.“ Er zog den silbernen Ring mit dem winzigen blauen Stein aus der Westentasche. „Ich habe hier einen Ring,“ fuhr er fort, „den ich zu Geld machen m�chte. Er geh�rt einer armen alten Frau. Vielleicht findet sich hier ein Liebhaber?“

Er l�chelte und zeigte den Ring. Seine wei�en h�bschen Z�hne blitzten.

Der dicke Chinese lachte zuerst und alle fielen in sein Lachen ein.

„Nein, Sie sind schon ein wenig sehr altmodisch — hahaha — alles was recht ist —“

„Der Ring ist freilich einfach und schlicht,“ sagte Grau, der leicht err�tete, und zeigte den Ring im Kreise umher, „er geh�rte Fr�ulein Margarete Sammet, die sich das Leben nahm — Sie erinnern sich gewi� alle — f�r die Mutter m�chte ich ihn zu Geld machen. Nat�rlich gebe ich ihn nicht billig her, nicht allzu billig. Findet sich kein Liebhaber? Herr Redakteur Heinrich — oder vielleicht Sie, Herr Assistent Pechmann? Sie lachen, meine Herren, aber die Frau ist ja arm und hat Geld n�tig. Herr Amtsrichter Leutlein, Herr Eisenhut?“

Eisenhut blickte auf den Ring und blinzelte, dann sah er Grau ins Gesicht. Er wurde totenbla� und h�rte auf zu blinzeln. Er sch�ttelte den Kopf. „Nein, danke!“ sagte er leise.

Grau verbeugte sich und l�chelte. „Nicht? Wie schade! Aber vielleicht Sie, Herr von Hennenbach? Ich habe die Angelegenheit in die Hand genommen und m�chte sie auch zu Ende bringen, deshalb. Vielleicht Sie, Herr von Hennenbach? Wollen Sie sich den Ring nicht ansehen?“ Grau beugte sich �ber den Tisch und zeigte den Ring. „Sie sind ja ein Liebhaber solcher Dinge, wollten Sie mir nicht einmal meinen Reisesack abkaufen? Sie erinnern sich, es war hier im Elefanten am Tage vor der Beerdigung des Dienstm�dchens. — Ich habe Sie vorhin beleidigt, ich war unh�flich gegen Sie. Tragen Sie mir das nicht nach. Sie waren ja an jenem Abend ebenfalls nicht gerade freundlich gegen mich — vergessen wir es, wir sind quitt. Wollen Sie sich den Ring nicht ansehen?“

Grau spielte eine l�cherliche Rolle. Alles belustigte sich �ber ihn.

Herr von Hennenbach begann augenblicklich laut aufzulachen. Er lachte, da� sich sein Gesicht r�tete und hustete. „Danke, danke!“ rief er aus.

„Oh, aber ich denke, Sie verstehen sich auf die Sch�tzung eines solchen Ringes —“

Der Freiherr lachte immer noch.

„F�r den Ring habe ich leider keine Verwendung,“ sagte er und lachte immerfort.

„Bitte sehr!“ Grau l�chelte sonderbar. „Selbst Sie also nicht!“ sagte er und sah dem lachenden jungen Mann in die Augen.

Pl�tzlich jubelten alle und blickten zur T�re. An der T�re h�rte man das Lachen von M�dchen, Adele und die Schwestern Sinding traten ein.

„Hurra! Hoch die Damen!“

F�nftes Kapitel

Ah!“ schrien die Herren und fuhren in die H�he. Der dicke Chinese schwang den Schirm wie eine Fahne und der Redakteur verneigte sich tief und ruckweise, da� sein wirres Haar �ber die Stirne flog. Hurra! Hoch die Damen! Hoch! Ein Stuhl klapperte auf dem Boden und ein Weinglas fiel auf geisterhafte Weise ganz langsam von selbst um und zerbrach. Adjunkt Kaiser schlief friedlich in seinen Hemd�rmeln; da keine Karte mehr gekommen war, war er eingeschlafen.

Der Rauch wirbelte zur T�re hinaus, so sah es aus als k�men die M�dchen aus einer Wolke. Sie standen alle drei z�gernd beisammen und hatten Furcht der Gesellschaft nahe zu kommen, die l�rmend auf sie eindrang.

„Wir wollten einmal sehen, wie die Herren sich am�sieren!“ sagte Adele und blickte umher. Sie bewegte den F�cher in der Hand und der �rmel ihres Kost�ms fiel herab, so da� man ihren wei�en vollen Arm sah. In dem roten Kost�m, mit den schwarzen Haaren, den hellen Augen sah sie imponierend und fremdartig sch�n aus. Rosen schm�ckten das Haar, die Schulter, den G�rtel. Sie lachte. Ihre Z�hne waren so wei�, ihre Lippen waren so rot. Aber ihre Augen waren ohne Erbarmen, stechend und hart.

Sie blickte auf Grau, sah aber sofort weg, sie streifte Eisenhut mit einem raschen Blicke.

Eisenhut hatte sich langsam erhoben als Adele sichtbar wurde. Er reckte den Spitzbart vor, h�rte auf zu blinzeln und machte die Augen scharf, um sich zu �berzeugen, da� sie wirklich im Zimmer stand. Er wurde fahl, richtete sein Kost�m, strich sich die Haare zurecht und starrte unausgesetzt auf Adele. Auf seinen Lippen erschien ein verzweifeltes L�cheln. Er lie� sich auf das Sofa nieder, langsam, um kein Ger�usch zu machen, und versteckte sich hinter dem jungen Hennenbach, der mit Klara Sinding plauderte.

Pl�tzlich lachten alle. Der junge Lehrer n�mlich, der unter dem Tische schlief, erwachte und machte sich auf allen Vieren aus dem Staube. Er kroch zur T�re, stie� sie mit dem Kopfe auf und verschwand.

„Ja, was ist denn das?“ schrien die M�dchen.

„Das ist unser Hund!“ sagte Herr von Hennenbach, der seine Trunkenheit geschickt hinter seinen sicheren gesellschaftlichen Formen verbarg. „Er geht um f�r die Damen zu bestellen!“

„Hahaha!“ lachten die Schwestern Sinding und Klara blickte Herrn von Hennenbach mit schw�rmerischen, gl�nzenden Augen an; sie verriet sich mit einem Blicke.

Professor Richter ordnete geschickt wie ein Kellner die Gesellschaft. Gl�ser! Die Damen sollten sich zu Hause f�hlen, h�h�! Gl�ser f�r die Damen.

„Nein, keinen Wein, um Gottes willen!“ rief Adele. „Vielleicht k�nnte man ein Glas Selters haben.“

„Selters! Selters!“

Auch die Schwestern Sinding wollten nichts mehr trinken. „Selters, ja.“ Sie sa�en mit gl�henden Wangen da.

Adele lachte laut auf. „Hier ist er ja, unser Herr Eisenhut!“ rief sie und zeigte auf Eisenhut. „Bedenken Sie nur, meine Herrschaften, hundert Mark war ihm zuviel f�r ein Glas Sekt, an dem ich nippte!“

„Ah, oh — oho!“ riefen die Herren rings im Kreise.

Eisenhut bewegte die Lippen. Er blinzelte. „Ich habe ja — habe ich nicht hundert Mark bezahlt — ich wollte Ihnen die Hand geben —“

Aber Adele war grausam. Sie h�rte ihn nicht, sie erz�hlte die Geschichte von den hundert Mark, die ganze Szene und ahmte Eisenhuts Erstaunen, Schrecken und Schwanken nach. Sie sprach sehr rasch und f�chelte sich unaufh�rlich Luft zu. Oh, wie entsetzlich hei� es sei! Ob man die Fenster nicht —

„Die Fenster auf — zum Donnerwetter! F�r die Damen —“

Der Redakteur stand schon eine ganze Weile da, das Glas in der Hand und klappte mit den Lidern wie eine mechanische Figur. Offenbar hielt er eine Rede, aber niemand nahm Notiz von ihm.

„— des Lebens heitere Zierde — ehret die Frauen, sie flechten und weben — hoch die Damen! —“ murmelte er — „hoch! Ein Kranz sch�ner Jungfrauen, der des Festes Tafel schm�ckt — k�nnte ich jeder ein Kr�nzchen von Maienblumen auf das holde Haupt legen —“ Pl�tzlich liefen dicke Tr�nen �ber sein Gesicht. „Hoch die Damen, hoch!“

Die Herren fielen st�rmisch ein.

Spielen? Ja, nat�rlich wollten sie spielen. Alle! Man st�rzte sich kopf�ber ins Spiel, schrie und lachte. Die Damen w�rden es sofort k�nnen, eine Kinderei! Der Adjunkt schlief immer noch. Amtsrichter Leutlein, der seine schl�frige Miene abgelegt hatte, tropfte ihm Wein auf die Glatze, und er erwachte. Er starrte lange Zeit geistesabwesend auf die M�dchen, dann sagte er feierlich: „Guten Abend!“

„Es ist ganz herrlich hier!“ rief Adele. „Kann ich dem Klub beitreten? Ein Glas Bowle nun, Herr Doktor, bitte.“

„Bowle, ein Glas Bowle, rasch!“ kommandierte der dicke Chinese.

„Ja, also, verehrter Herr Grau —“ Er m�sse doch zugeben — selbst wenn er mit allem und allem unzufrieden sei — er m�sse doch gestehen, da� die Wissenschaft in verschiedene Dinge Klarheit gebracht habe, eine ganz unglaubliche Anzahl von Vorurteilen, den schw�rzesten Vorurteilen, habe sie zerst�rt, Aberglaube und naive Vorstellungen habe sie in Grund und Boden hineingeritten —

„Nat�rlich gebe ich das zu. Ich habe den allergr��ten Respekt vor der Wissenschaft und ziehe den Hut vor ihren gro�en M�nnern. Wo habe ich denn behauptet, da� ich, ein kleiner und einfacher Mensch — das w�re ja geradezu k�hn —“

„Gut, gut! Der ganze Wunderglaube, zum Beispiel, zum Teufel ist er! Pardon! Aber er ist zum Teufel, einfach wie weggeblasen. Kein Kind kann heutzutage mehr glauben, da� jemand Wasser in Wein verwandelt oder f�nftausend Halunken mit einem Groschenkipf speist. He?“

„Nat�rlich, das ist Fabel!“

„Bravo, bravo! Also endlich —“

„Im �brigen,“ f�gte Grau hinzu, „wer wei�, ob es nicht doch ein wahres Geschehnis ist? Wie sch�n ist aber jenes gro�e Gef�hl, jenes Verlangen nach dem Au�erordentlichen, jene Sehnsucht nach dem Wunderbaren? Nicht wahr? Ergreifend ist das! Und oft glaube ich es auch, ich glaube es. Ich bin geneigt, das Unglaublichste zu glauben, gerade weil ich es nicht begreifen kann —“

„Nun aber, Verehrter, der gesunde Menschenverstand — wo bleibt da der gesunde Menschenverstand? Ich bitte, Ehrw�rdiger, der gesunde Menschenverstand mu� doch auch auf seine Rechnung kommen?“

Grau l�chelte. „Der gesunde Menschenverstand?“ sagte er. „Was ist es eigentlich damit? Ich mu� Ihnen gestehen, Herr Professor, da� mein Verstand, obwohl ich annehme, da� er vollst�ndig gesund ist, mich sehr h�ufig im Stiche l��t. Derselbe gesunde Menschenverstand hat schon ganze V�lker und Zeitalter betrogen. Legen Sie mir einen Kirschkern her und behaupten Sie, es wird ein Baum daraus werden mit Bl�ttern, Bl�ten, Kirschen, verzeihen Sie, mein gesunder Verstand wird es nicht f�r m�glich halten. Sagen Sie mir, die Erde fliegt mit einer ungeheuren Geschwindigkeit von so und soviel Meilen um die Sonne, ich werde sagen, entschuldigen Sie, mein gesunder Menschenverstand begreift das nicht. Ich werfe einen Stein, der Stein fliegt, ich begreife das nicht, nicht einmal das. Ich mu� Ihnen leider gestehen, da� ich mich auf meinen gesunden Verstand nicht einmal bei den einfachsten Dingen verlassen kann, von komplizierteren gar nicht zu sprechen.“

Hm, hm.

„Aber Verehrter, Sie geben trotzdem zu, da� Ihr gesunder Menschenverstand den Wunderglauben abweist, nicht wahr? Man soll nur die Wissenschaft arbeiten lassen — H�lle und Tod! — sie wird ihr Werk der Aufkl�rung schon vollbringen. Auch die Sch�pfung, wie die Bibel sie darstellt, das ist wohl eine Fabel oder nicht?“

„Nat�rlich ist das eine Fabel, aber —“

Redakteur Heinrich stand auf und dr�ckte Grau die Hand. „Redefreiheit f�r jedermann! Wir sind unter uns!“ sagte er mit einem g�nnerhaften Schmunzeln. „Sie k�nnen sich nach Belieben und ganz frei �u�ern, niemand wird ein Wort erfahren. Ein Wort, ein Mann!“

„Aha, die Damen haben Gl�ck! Ich habe diesmal nicht gesetzt, Eisenhut, schreie nicht so! Ich erlaube mir die Behauptung auszusprechen, da�, wenn die Aufkl�rung, die Wissenschaft in alle Schichten und Poren des Volkes gedrungen ist — all der Zauber, Aberglaube und Irrtum werden wie Wachs schmelzen — ja was dann? — Ich erlaube mir zu behaupten, da� die Religion dann bankerott ist, einfach. Sie kann ruhig die Bude schlie�en, ruhig! Ich bitte wegen des starken Ausdrucks um Entschuldigung, aber es ist so, bei allen Teufeln, um kein Haar anders ist es.“

„Bitte,“ sagte Grau, „es ist ja nur eine Formsache, die nichts zu sagen hat. Also, das glauben Sie? Aber ich glaube, je mehr die Wissenschaft erkennen wird, desto mehr wird sich das religi�se Gef�hl steigern, es wird nicht verschwinden, es wird im Gegenteil wachsen, ungeheuer anwachsen. Denn die Wissenschaft wird Wunder um Wunder aufdecken, es wird alles verwirrender und verwirrender, unfa�barer werden. Der Gottesbegriff verliert nat�rlich die einfache naive Form, er wird sich mehr und mehr verfeinern, vergeistigen; je wissender und gr��er der Mensch wird, desto erhabener und gr��er und unfa�barer wird sein Gott. Das Mysterium wird gewaltiger, je mehr man in dasselbe hineinsieht —“

„Ich glaube, es bereitet sich eine Zeit vor mit einem so tiefen religi�sen Gef�hl, da� es dem Wahnsinn gleich kommt.“

„Glauben Sie, Herr Grau! Wenn man aber einem Menschen begreiflich macht, da� vor etlichen Millionen Jahren der Mensch noch gar nicht existierte? Wie? Was denn, was denn? Gott?“

Grau sah ihn erstaunt an. „Wenn es jetzt keinen Menschen g�be,“ versetzte er l�chelnd, „so g�be es allerdings kein menschliches religi�ses Gef�hl. Aber es handelt sich ja bei dieser Frage weniger um die Existenz des Menschen als um das Dasein Gottes. Ob der Mensch existiert und seit wann, das ist ja nebens�chlicher Natur.“ Grau l�chelte. „Es ist merkw�rdig wie sehr Sie an die Naturwissenschaften glauben,“ fuhr er fort, „ich verehre die modernen Naturwissenschaften und verdanke ihnen zum gr��ten Teil meiner Erziehung — allein so unumst��lich wahr sind ihre Thesen nicht, glaube ich. Vielleicht lacht man in einigen hundert Jahren �ber einen Anh�nger der jetzigen Entwickelungslehre ebenso, wie man in unseren Tagen �ber jemand lacht, der noch glaubt, der Mensch sei von Gott aus Erde geformt worden. Bitte, erschrecken Sie nicht, ich selbst bin nicht dieser Meinung, sondern ich finde die Behauptungen der modernen Wissenschaft f�r h�chst annehmbar. Aber was soll das sagen, nicht wahr?“

„Wie!“ Der dicke Chinese lachte und schrie. „Alles, alles mein Herr, alles! Ich bitte Sie, die Konsequenzen — die Konsequenzen! Fassen Sie die Konsequenzen ins Auge!“ heulte er triumphierend.

Erstens also sei — und zweitens —

Adele lachte. Sie hielt die Bank und gewann fortw�hrend.

„Nun auf das Wohl der Herren!“ rief sie und erhob das Glas. Sie sah wiederum Grau einen Augenblick lang eigent�mlich an. Dann l�chelte sie. „Auf das Wohl Susannas!“ sagte sie. „Auf gute Freundschaft!“ setzte sie hinzu und l�chelte wieder.

„Auf gute Freundschaft!“

Eisenhut hatte keinen Wein im Glase und bis er es f�llte, war es zu sp�t. Er sagte h�flich: „Auf die Gesundheit der Damen!“ und st�rzte das volle Glas hinunter. Dann lachte er. Nur Maria Sinding sagte: „Zum Wohlsein!“

„Es ist sehr unterhaltend hier!“ sagte Adele. „Alles Ernstes, ich will Mitglied des Klubs werden. Ja! ich will die kurzen Monate noch genie�en.“

Wann denn die Hochzeit sei?

„Im Mai!“ antwortete Adele lachend. Dann sch�ttelte sie den Kopf. „Wer wei� es?“ f�gte sie hinzu. „Niemand wei� es. Seht her, wieviel ich gewonnen habe! Ich habe Gl�ck im Spiel! Faites vos jeux, messieurs!“

Professor Richter verlor endlich die Geduld. Ja, ein merkw�rdiger Herr war dieser Herr Grau. Wie eine Katze fiel er stets auf die F��e. Nun er zugegeben hatte, da� der Mensch vielleicht nichts sei als das letzte Glied einer langen Entwickelungsreihe — ein Produkt der Auslese und Zuchtwahl — nun war alles noch viel wunderbarer f�r ihn. Er bewunderte den feinen Geschmack und Instinkt der Wesen, immer das Sch�nere und Zweckm��igere auszuw�hlen, er bewunderte das Resultat. Nein! Man k�nne nicht mit ihm diskutieren.

Aber nach einer Weile begann Professor Richter von neuem die Diskussion. Er bearbeitete Grau nach allen Regeln und von allen Seiten. Die ganze moderne Wissenschaft lie� er aufmarschieren. Endlich — ach, endlich!

„Nun, verehrter Herr,“ murmelte er und rieb bed�chtig die gro�en fetten H�nde aneinander, „die Schlu�folgerungen sind h�chst einfach. Ja, das ist ja erstaunlich, was Sie nun alles zugegeben haben, haha! Sie sind ja gar kein solch altmodischer Mensch, Donner und Doria — nein, Sie sind ja ganz modern. Und beschlagen sind Sie ebenfalls, nicht wahr, Doktor, wie er doch die Literatur kennt, unser Herr Grau! Aber nun erlauben Sie, da� ich zusammenfasse! Wenn Sie mir all das zugeben und behaupten all das �ndere ja an der Sache nichts — wenn Sie mir zugeben, da� die Seele des Menschen aus der Tierseele entstanden ist, ein Komplex von Gehirnfunktionen — wenn Sie mir das zugeben, wenn Sie mir zugeben, da� jedes Empfinden von einem physiologischen Vorgange begleitet sein mu� — so erlischt also die Seele — sie h�rt auf, sie ist fort und verschwunden, in die Binsen ist sie gegangen — in dem Augenblicke, da die Blutzirkulation im Gehirn stockt! Das ist doch logisch, nicht wahr? Ja, zum Henker, jeder Idiot begreift das. Aber dann leugnen Sie ja die Unsterblichkeit der Seele, haha! Vollst�ndig, mein Verehrter, jawohl — Sie lachen — aber Sie taten es, gerade vor zwei Minuten. Prosit! Ja, prosit, Sie sind ein moderner Mensch, durch und durch, einen Orden sollen Sie haben!“

„Haben Sie gesehen, da� alle herblickten, als Sie das kleine Wort Unsterblichkeit aussprachen?“ entgegnete Grau. „Es fiel mir auf. Ja, das nur nebenbei. Was sagten Sie? Was habe ich doch getan? Aber auf Ihre Gesundheit, auf die Gesundheit der Damen — gewi� werde ich heute einen Rausch bekommen, so oft schenkt mir der liebensw�rdige Herr Doktor ein! Ja, was habe ich doch nur getan, da� Sie so triumphieren, Herr Professor? Triumphieren Sie, bitte, nicht zu fr�h. Ja trotzdem, trotz alledem glaube ich an die Unsterblichkeit der Seele. Ich werde Ihnen nicht mit Gr�nden kommen, denn so unzul�nglich meine Worte w�ren, so unw�rdig w�ren Worte diesem Gegenstande. Auch finde ich es h��lich, jedes Geheimnis mit einem Worte zu vernageln. Wie w�rde es sich doch ausnehmen, wollte ich sagen, all die Millionen Schwingungen, Strahlen, die in jeder Stunde von Ihnen ausgehen und ja gewi� fortdauern m�ssen, sie zusammen — oder die Seele k�nnte sich irgend eines unbekannten Mediums bedienen — wie h��lich w�rde das doch klingen und nichts sagen obendrein. Nein, meine Herren, ich f�hle es und ich denke auch, nie h�tte ein Mensch diesen Gedanken fassen k�nnen, niemals, wenn es nicht etwas Wahres mit ihm w�re!“

Grau l�chelte und einen Augenblick lang leuchteten seine Augen wie dunkles Gold.

„Ja,“ wiederholte er, „wie h�tte doch solch ein Gedanke in den menschlichen Kopf kommen k�nnen, wenn er nicht wahr w�re!“

Aber da h�re jede Diskussion auf. Herr Grau sei ein ganz modern denkender Mensch, aber sobald man gewisse Dinge ber�hre — haha!

„Diese Dinge lassen sich eben nicht diskutieren!“ erkl�rte Grau l�chelnd.

Dr. N�rnberger rollte sich eine Zigarette und sagte: „Aber der Mensch hat ja auch den Gedanken der Sterblichkeit der Seele fassen k�nnen, also mu� es auch damit eine gewisse Richtigkeit haben.“

„Gewi�,“ erwiderte Grau, „der Irrtum ist verzeihlich, denn wir sehen den Tod stets ringsum und es ist auch m�glich, da� ein Teil — jener Teil, Herr Doktor — der Seele stirbt — — — — Aber sehen Sie doch, was ist mit Herrn Eisenhut?“

Eisenhut n�mlich deutete mit dem Zeigefinger auf den Tisch und schrie unaufh�rlich: „Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Ich lasse mir das nicht bieten!“

„Er l��t sich das nicht bieten!“ ahmte der Adjunkt Eisenhuts heulende und pfeifende Stimme nach.

„Bitte, bitte!“ sagte Adele und lachte gereizt. „Herr Eisenhut wei� es besser, nat�rlich!“

Jemand hatte Adele grausam genannt, weil sie Eisenhut soviel Geld abn�hme. Sie hatte ganze Rollen von Geld vor sich liegen. Man k�nne doch sehen, da� Eisenhut es aufs Verlieren anlege.

„Er mag spielen, wie er will!“ antwortete Adele lachend. „Wenn es ihm Freude macht zu verlieren, so mag er ruhig verlieren. Ich f�r meine Person freue mich, wenn ich gewinne, und ich freue mich, wenn jemand verliert. Wer hat mich doch grausam genannt? Sie, Herr Assistent Pechmann? Danke! — Ja,“ f�gte sie in scherzendem Tone hinzu, „gewisserma�en haben Sie recht, ich bin vielleicht grausam. Zum Beispiel, ich hasse die Kranken und die Kr�ppel, ob sie nun bucklig sind oder hinken, einerlei, und oft denke ich, man sollte sie eigentlich vergiften, das beste w�re es! Ist das nicht grausam? Und dann, schon als Kind war ich recht unangenehm, ich habe meine Amme in die Nase gebissen und sp�ter liebte ich es, den M�cken den Kopf abzurei�en —“

Sie sagte es in scherzendem Tone und gab dabei die Karten; niemand beachtete es weiter, aber Eisenhut begann pl�tzlich sich ganz unsinnig zu geb�rden.

„Das ist nicht wahr.“ schrie er und pochte auf den Tisch. Gel�chter.

„Wie beliebt?“ fragte Adele und richtete die hellen Augen auf ihn.

Eisenhut schrie: „Niemals haben Sie M�cken die K�pfe abgerissen, das ist eine L�ge. Ich habe es in einem Buche gelesen!“

Jemand fragte, ob er denn �berhaupt je ein Buch gelesen habe?

Der Redakteur streckte beide H�nde gegen Eisenhut aus: „Friede sei mit dir!“ Aber der dicke Chinese schob ihn zur Seite und fa�te Eisenhut an der Schulter. „Eisenhut!“ rief er. „Ruhig, oder du fliegst hinaus! Du brauchst Damen l�gen zu strafen! Eine Dame l�gt nie! Verstanden, du Erzl�gner!“ Ja, die Damen m��ten den unangenehmen Zwischenfall entschuldigen.

Eisenhut machte sich frei und erhob sich. Er war wei� wie eine get�nchte Wand. Er atmete tief und versuchte zu l�cheln. Seine Lippen zitterten, das Haar klebte an seiner Stirn. Er lie� die Augen im Kreise umherirren, von einem zum andern, und seine Lippen bebten st�rker: Feinde, lauter Feinde!

„Wie sagen Sie?“ sagte er, stotterte er. „Ich stehe — ja, was soll das hei�en — was soll das hei�en! frage ich?“ Er rang die H�nde und alle sahen ihm zu, wie zu einem Schauspiel. „Was soll das hei�en,“ fuhr er zitternd und bleich fort. „Ich bin wohl kein Mensch? Alles was recht ist — es ist zuviel! Erzl�gner? Wie — alles was recht ist — Sie — Sie haben — dieser Doktor dort, Herr Dr. N�rnberger — er hat Herrn Grau heraufgelockt. Dr. N�rnberger ist gegangen um Herrn Grau heraufzuholen, wir wollen ihm die W�rmer aus der Nase ziehen, er sagte es, Professor Richter — es w�re ein Vergn�gen, zum Scherz ein Gespr�ch mit ihm anzufangen — er hat es gesagt. Alles l�gt hier, alles macht sich lustig hier, so ist es. Eine Dame l�gt nie? Er sagt es, hier, Herr Professor Richter, aber vorhin hat er gesagt, jede Frau w�re ein Sack voll L�gen und die Frauen l�gen so, da� sie sogar manchmal die Wahrheit sagen. Ich habe es geh�rt, alle haben es geh�rt —“

Alle Teufel! Ruhe!

Aber Eisenhut schrie nur um so lauter. „Das lasse ich mir nicht bieten. Erzl�gner? Mu� ich mir denn —“

„H�ren Sie mal! Eisenhut!“ sagte Professor Richter und fa�te Eisenhuts Arm. Aber Eisenhut stie� ihn zur�ck, er stieg auf das Sofa.

„Es hat gar keinen Sinn!“ sagte er. „Gar keinen Sinn — Fr�ulein von Hennenbach hat mich verh�hnt — vor allen Leuten — ich habe aber hundert Mark bezahlt f�r ein Glas Sekt — sie hat mir nicht einmal die Hand gegeben — dann zerbrach ich ein Glas — Ja, ich kam hierher und freute mich. Ich freute mich so sehr. Ich war allen dankbar, euch allen — aber wie begann es. Es begann mit den hundert Mark! Ich hasse euch alle, alle! Ich hasse euch, ihr Hunde und L�gner! Und auch Sie hasse ich, Fr�ulein von Hennenbach — mehr als alle! Bin ich geizig, bin ich schmutzig, ich? Wie? Ihr alle seid mir Geld schuldig, sechzehntausend Mark seid ihr mir alle zusammen schuldig — bin ich geizig? Ihr lacht?!“ Er fuhr rasch in die Tasche und zog den Pack Banknoten heraus. „Es ist mir alles einerlei — hier, ich zerrei�e das Geld — alles, alles — nehmt es, ihr Bettler! — ich hasse euch!“

Man schrie, lachte und stie� Eisenhut vom Sofa herunter.

Adele sagte: „Lassen Sie ihn doch! Er klebt die St�cke ja morgen doch wieder zusammen.“

Eisenhut richtete die Blicke auf sie. Er schlo� einen Augenblick lang die Augen und hatte das Aussehen eines Menschen, der das Gef�hl hat, in die Tiefe zu st�rzen. Er legte auch die H�nde auf den Tisch um sich zu st�tzen.

„Sie sagen das!“ sagte er mit b�se funkelnden Augen. „Sie! Nach all dem was vorgefallen ist!“

Adele stand auf. „Herr Eisenhut!“ sagte sie und erbleichte.

Eisenhut machte eine verzweifelte Geb�rde. Er blickte Adele an und pl�tzlich �nderte sich der Ausdruck seines Gesichtes vollst�ndig. Er err�tete und wurde wieder bleich. Seine Augen f�llten sich mit Tr�nen. Er rang die H�nde und schrie: „Ich bin schlecht, schlecht, ich bin — seht alle her, wie schlecht ich bin! Ja, bei Gott, bei allen G�ttern, verzeihen Sie mir, Fr�ulein von Hennenbach! Ha! Oh, was habe ich gesagt! Was habe ich gesagt? Was sollte denn vorgefallen sein? Da� Sie freundlich zu mir waren und mich einluden zum Tennis? Jeder wei�, da� nichts vorgefallen ist. Ich beleidigte Sie — ich wollte Sie beleidigen, das ist es! Sie m�ssen es vergessen. Sie haben recht, ich habe ja schon �fters Banknoten zerrissen und wieder zusammengeklebt. Sie sagten die Wahrheit — ja, bei Gott —“

„Eisenhut!“ sagte Grau.

Eisenhut blickte ihn an und suchte mit seinen glitzernden verzweifelten Blicken in Graus Augen. Dann l�chelte er sp�ttisch. „Herr Eisenhut — ich bitte recht sehr!“ sagte er und deutete auf den Tisch. „Euch allen sage ich —“

Man lachte wiederum und schrie ihm zu doch endlich ruhig zu sein.

„Ich will nicht!“ keuchte Eisenhut.

Der dicke Chinese umklammerte Eisenhuts Arm und sagte: „Jetzt bist du ruhig, du bist ja vollst�ndig betrunken!“

Eisenhut spie ihm ins Gesicht.

„Lassen Sie mich in Ruhe!“ rief er. „Wer gibt Ihnen das Recht mich zu duzen, he? Ich fordere Sie zum Duell. Auf Pistolen fordere ich Sie, Sie Schuft!“

Alle Wetter! Ruhe!

Der Chinese sprang zur�ck und besann sich einen Augenblick. Er blickte auf die M�dchen, dann lachte er w�tend.

Eisenhut aber schrie: „Haben Sie geh�rt, Sie Schuft und Heuchler! Haben Sie es geh�rt? Oder sind Sie zu feige, wie, wie, wie?“

„Ich nehme die Forderung mit Vergn�gen an!“ sagte der Chinese und verbeugte sich vor Eisenhut. „Auf Kanonen oder Pistolen, wie Sie w�nschen!“

Man n�tigte Eisenhut sich zu setzen. „Er nimmt sie ja an, schreie nicht so!“

„Gewi� nehme ich die Forderung eines jeden Gentleman an!“ sagte Professor Richter mit ruhiger Stimme. „Aber Sie erlauben mir eine Frage, wo haben Sie Ihre Papiere?“

„Papiere?“ Eisenhut stotterte und tastete an seine Taschen.

„Als Offizier der Reserve und ehemaliger Korpsstudent bin ich dem Ehrenkodex unterworfen. Ich bitte Herrn Eisenhut um sein Universit�tsmatrikel.“

Eisenhut �ffnete den Mund und starrte dem Chinesen ins Gesicht.

Man l�chelte und lachte ringsum.

„Ich sehe, Sie haben die Matrikel nicht in der Tasche, wer sollte sie auch immer mit sich herumschleppen,“ fuhr der dicke Chinese in aller Ruhe fort. „Nat�rlich bin ich kein Pedant. Ich will Ihnen nur eine einzige Frage vorlegen, eine kleine Pr�fung gewisserma�en. Wir kennen einander und k�nnen auf schriftliche Ausweise verzichten. �bersetzen Sie mir den bekannten Satz: Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat. Bitte!“ Er stand mit den F�usten in den H�ften und schnarrte die Sentenz herunter, da� es rasselte.

Eisenhuts Blick flackerte. Er err�tete, er erbla�te, er blickte scheu auf Adele, ohne den Mut zu haben, sie anzusehen.

„Quae medica —“ stotterte er.

„Ein bekanntes Spr�chlein von Hippokrates,“ schnarrte der Chinese. „Das ist nicht zuviel verlangt.“

„Quae —“

Eisenhut sank auf das Sofa zur�ck.

Es war ganz still und pl�tzlich h�rte man Grau lachen; er lachte heiter, belustigt, und noch niemals hatte man dieses Lachen von ihm geh�rt.

Er fa�te Eisenhut am Arm und sagte: „Herr Eisenhut! Fallen Sie doch auf den albernen Scherz dieses Herrn hier nicht herein!“

„Fort!“ sagte Eisenhut. „Fort! Hinweg!“ Er stie� ihn zur�ck.

„Guten Abend!“ Grau verlie� das Zimmer.

Eisenhut sprang auf. „Leben Sie wohl!“ sagte er zu allen. „Ich sage nicht mehr als leben Sie wohl!“

„Leben Sie wohl!“ wiederholte trocken der Adjunkt.

Eisenhut fixierte ihn und der dicke Chinese brach in lautes Gel�chter aus.

Eisenhut schwankte zur T�re. Die Tanzmusik drang herein; man tanzte Fran�aise und Bezirksamtmann H�berlein rief mit lauter Stimme franz�sische Kommandos. Er wandte den Blick auf Adele und sagte, indem er den Kopf senkte: „Leben auch Sie wohl, Fr�ulein von Hennenbach! Leben Sie wohl f�r immer!“

Adeles Lippen zuckten. Das sei das beste, was er tun k�nne.

Eisenhut lachte verzweifelt und verlie� das Zimmer. Er taumelte, immerzu verzweifelt lachend, den Korridor entlang, er ging die Treppen hinab und lachte immerzu dasselbe verzweifelte Lachen.

Grau verlie� vor ihm, dicht vor ihm, das Hotel und verschwand in der Richtung nach seinem Hause.

Sechstes Kapitel

Eisenhut lief so schnell ihn die F��e trugen �ber den Marktplatz, und sein gelbes chinesisches Kost�m flatterte die Stra�e hinunter, die zum Flusse f�hrte.

Es schneite fein; kleine Flocken, einzelne Kristalle gleichsam, fielen langsam und flimmernd herab und bedeckten den Boden mit einer sanften d�nnen Schicht wei�en Schnees.

Eisenhut �berschritt mit gro�en fl�chtigen Schritten die Steinbr�cke und wo die Felder anfingen, begann er wieder zu laufen. Hier au�en war die Nacht kalt und schwarz und der Wind hauchte �ber die Ebene. Eisenhuts dunkle Gestalt erschien auf einer Anh�he, verschwand wieder, tauchte als Schatten auf dem n�chsten H�gel auf und wurde kleiner und kleiner mit jeder Bodenwelle. Er lief wahnsinnig rasch und bald erschien es als ob ein Hund oder ein Fuchs sich rasch �ber die �de n�chtige Ebene bewege und endlich im D�ster verschw�nde. Seine Spuren schrieben eine ungeheure Kurve in den beschneiten Grund. Endlich wurden sie schnurgerade, sie liefen wie mit dem Lineal gezogen ferner und ferner in die Ebene hinein.

Eisenhut lief und lief, bis er ersch�pft in den Schnee fiel und sich nicht wieder erhob.

Der Wind blies dicht �ber die Erde und feiner Schneestaub bereifte seine Kleider, seine Haare, seinen Bart. Er f�llte die Falten seiner Kleider, die Vertiefungen zwischen Armen und K�rper und errichtete einen kleinen Wall auf der einen Seite, der Wind blies und drehte sich im Kreise und begann die Arbeit auf der andern Seite. Bald lag er halb zugeweht in der �den lautlosen Ebene . . .

Als Eisenhut wieder die Augen �ffnete, wu�te er nicht sofort, was vorgefallen war. Er zwinkerte und der Schnee fiel von seinen Lidern, er sch�ttelte den Kopf und der Schnee fiel aus seinen Haaren. Ein Mann kniete bei ihm, sch�ttelte ihn, rieb, klopfte.

Eisenhut starrte ihn mit bl�den Augen an. Er erkannte Grau.

Siebentes Kapitel

Eisenhut und Grau kamen rasch �ber die Br�cke gegangen. Eisenhut war in Graus Mantel eingeh�llt und hatte Graus Hut auf dem Kopfe, er gab sich M�he Grau zu folgen, der zur Eile trieb. Er zitterte und die K�lte sch�ttelte ihn am ganzen K�rper. Zuweilen weinte er leise vor Ersch�pfung.

„Eines begreife ich nicht,“ begann Eisenhut zitternd, es war das erste Wort, das er sprach, „wie konnten Sie mich finden, wie soll das ein Mensch begreifen?“

Grau l�chelte. „Das ist sehr einfach, Herr Eisenhut. Ich habe gesehen, was vorfiel. Sie waren sehr erregt und deshalb folgte ich Ihnen. Das war kein Kunstst�ck, ich konnte ja Ihre Spuren im Schnee sehen. So einfach ist das. Nur vorw�rts!“

Eisenhut nickte, er l�chelte und sch�ttelte den Kopf. „Ich habe von einem gro�en Feuer getr�umt,“ sagte er, „daran w�rmte ich mich — ein helles, gro�es Feuer. Ich streckte die H�nde hinein. Nun f�llt mir alles ein — oh, wie schrecklich, ich hatte so furchtbar getrunken! Das gro�e Feuer schrie meinen Namen. Eisenhut, schrie es, tanze, tanze! Ich tanzte und das Feuer lachte — hahaha — Eisenhut tanze! — da waren Sie es, der mich sch�ttelte! Nun f�llt mir alles ein, ich bin nicht mehr betrunken — ich lief im Schnee, durch den Schnee — haha — ich wollte sterben, ja, aber nun lebe ich noch. Ich wollte sterben, als ich zur Br�cke hinabrannte. St�rze dich ins Wasser, kopf�ber — kopf�ber, genau so dachte ich, kopf�ber — aber das Wasser in der Mitte des Flusses glitzerte so kalt — all das Eis — vielleicht unter dem Eise schwimmen — niemals — ich lief weiter. Ich lief und warf mich in den Schnee, auf einer Anh�he, da lag ich und es wurde kalt und ich f�hlte wie ich einschlief. Nein! Ich sprang auf. Ich hatte alle Lust zum Sterben verloren. Sterben, warum? Aber ich konnte ja doch nicht mehr zur�ckgehen, konnte ich mich denn wieder sehen lassen? Ich hatte ja Abschied genommen — hatte ein gro�es Geschrei gemacht — also mu�te ich wohl oder �bel sterben. Das ist kein Vergn�gen, das ist ein schauderhaftes Gef�hl, sterben zu m�ssen und nicht zu wollen. Ich lief in die Nacht hinein, vorw�rts, fort und schrie: Du bist zum Tode verurteilt, Eisenhut — es geschieht dir recht — zum Tode bist du verurteilt. Dieser Professor mit seinem Duell — ich hatte mich verabschiedet — von allen — lebewohl f�r immer — also vorw�rts, vorw�rts! Wie ich doch gefroren habe — eine f�rchterliche K�lte — ich lief um warm zu werden. Ich wollte auch nicht mehr denken. Du bist zum Tode verurteilt, sagte ich und hatte wahnsinnige Angst. Ich wurde m�de und setzte mich in den Schnee — nur ein bi�chen ausruhen, ein klein wenig — aber ich hatte furchtbare Angst. Ich wurde schl�frig und alles wurde mir gleichg�ltig. Einerlei, einerlei, sagte ich, es geht dahin mit dir, Eisenhut, in die H�lle hinein. Ich lachte. Ich hatte eine Menge von Gedanken — wie ich im Schnee liegen w�rde, lang und steif — man wird dich finden, dachte ich. Alle w�rden es erfahren — man hat ihn gefunden — alle, aber nein, jetzt war nichts mehr zu �ndern — es konnte ihnen leid tun — es war nichts mehr zu �ndern, haha! Dann w�rde ich beerdigt werden und Sie — Sie werden die Rede halten. Ich dachte an alles und auch daran, da� die jungen Damen vom Tennisklub k�men. Aber da kam die Angst zur�ck. Nein! Ich werde nicht sterben. Ich hatte Angst! Wie dumm nicht zu wissen, was morgen ist. Nicht zu wissen, wie das und jenes enden wird — schon aus Neugierde konnte ich ja nicht sterben. Nein, nein — hihihi! Du gehst nach Hause, stellst dich ans Fenster und lachst, ja! Alles ist einerlei! Also ging ich nach Hause, ich rannte — im Nu war ich zu Hause — ah, ich war ja gar nicht weit gegangen gewesen — in meinem Zimmer sa� eine Katze. Ich machte ein gro�es Feuer und setzte mich davor und w�rmte mich — und ich verga� alles, f�hlte mich so wohl — aber pl�tzlich erwachte ich, ich richtete mich auf: Da lag ich ja im Schnee! Ich war gar nicht zu Hause? Das ist ja schrecklich, sagte ich mir, und zitterte und konnte nicht denken. Du bist ja gar nicht zu Hause. Bei allen Teufeln in der H�lle! Das ist toll, sagte ich, das ist — ich kroch ein wenig vorw�rts, ich stand auf — ich laufe wieder — ich glaube immerzu zu laufen, ich sehe die Br�ckenlampe — ich erwache wieder und finde mich wieder im Schnee. Das ist entsetzlich! sage ich und schreie.“ — Hier begann Eisenhut wieder vor Ersch�pfung leise zu weinen. — „Ich laufe und glaube ich laufe nach Hause und immer, immer finde ich mich wieder im Schnee. Da verzweifelte ich, ich schrie, ich schrie — aber ich h�rte nicht mehr, ich h�rte mich nicht schreien — ich lief, lief, lief — oh, wie schrecklich lief ich doch —“

Eisenhut lachte und weinte in einem und Grau h�rte wie seine Z�hne klapperten.

„Ich habe Sie beleidigt, Herr Grau, neulich, heute abend, ich wollte —“

„Lassen wir die alten Geschichten ruhen!“

Der „wei�e Elefant“ war noch immer hell beleuchtet, die Musik wiegte sich in der Ferne, Lachen und Singen drang aus dem Torweg. Eisenhut hielt sich die Ohren zu.

„Ich darf doch ein wenig mit Ihnen eintreten?“ sagte Grau. „Nur, bis Sie ganz in Ordnung sind, Herr Eisenhut.“ Er sah Eisenhut l�chelnd ins Gesicht.

Achtes Kapitel

Eisenhut nahm eine dem�tige Haltung an. Er nickte und schlo� die fleckige T�r mit dem kleinen Guckfensterchen auf. Er verneigte sich und sagte mit dem�tigen Augen und einer linkischen, r�hrenden Handbewegung: „Treten Sie ein in mein Haus!“

Im Hause war es ganz dunkel und es roch dumpf und feucht wie in einem Keller. Etwas raschelte und sprang �ber Graus F��e. „Es gibt Ratten hier, deshalb bewohne ich den ersten Stock,“ sagte Eisenhut und z�ndete eine kleine Talgkerze an.

Grau blickte sich gespannt um: In der Ecke stand eine alte Holzfigur, ein Heiliger, dessen Arme abgeschlagen waren.

Grau nickte. Ich bin aber noch nie in diesem Hause gewesen, dachte er und starrte die Figur an. Er war wie bet�ubt.

Eisenhut �ffnete unterdessen ein hohes eisernes Gitter, das das Treppenhaus abschlo�. „Eine alte Figur, die ich auf dem Speicher fand. Bitte!“

„Ja!“

Kaum hatte Grau einen Fu� auf die Stufen gesetzt, als es im ganzen Hause schrill zu l�uten begann. „Das sind Alarmglocken. Ich wohne ganz allein im Hause.“

Vor Eisenhuts Zimmern im ersten Stock stand ein kleines braunes H�ndchen mit einem Backenbart wie ein Oberkellner, und wedelte vergn�gt mit dem Schweife und streckte die Zunge heraus.

„Sehen Sie her!“ sagte Eisenhut und sch�ttelte den Kopf. „Solch ein Hund!“ Er stampfte mit dem Fu�e und rief: „Warum bellst du nicht, wenn ein Fremder kommt!“ Das H�ndchen rannte entsetzt davon und kroch unter einen Diwan.

Eisenhut stellte die Kerze auf den Tisch und sank ersch�pft auf den alten Lederdiwan. Er schlo� die Augen und sah aus wie ein Greis. Er zitterte am ganzen K�rper.

Das Zimmer war eine Art Halle und hatte eine gew�lbte Decke und zwei breite Fenster in tiefen Nischen, der Boden war krumm und knarrte bei jedem Schritte; ein m�chtiger hellbrauner Ofen in der Form eines W�rfels, der auf vier Kugeln stand, der alte Lederdiwan, ein hoher zerrissener Sessel mit geschnitzter Lehne, ein gro�er schwarzer Schrank, einige St�hle, der Tisch, das war alles, was im Zimmer stand. Die W�nde waren vollst�ndig nackt, nur an dem Pfeiler zwischen den Fenstern hing ein Bild, jedoch bis zur Unkenntlichkeit vom Rauch geschw�rzt. Die Fenster waren ohne Gardinen, das Zimmer kahl und unordentlich, man konnte glauben in einem Gef�ngnis zu sein.

Es war eisig kalt hier.

Pl�tzlich sah Grau Eisenhuts Augen auf sich gerichtet, Eisenhut verfolgte ihn mit den Blicken. Er l�chelte sp�ttisch. Dann begann er zu sprechen, aber die Stimme versagte ihm, er r�usperte sich und begann von neuem. „Weshalb gehen Sie denn nicht?“ fragte er heiser. Er zitterte.

„Davon ist nun gar nicht die Rede. Vor allen Dingen will ich Feuer ansch�ren,“ versetzte Grau. „Wo kann ich Holz finden? Sie m�ssen trachten ins Bett zu kommen, Herr Eisenhut.“

Eisenhut schlo� wieder die Augen; er wiegte den Kopf hin und her und murmelte, da� er gewohnt sei, in den Kleidern zu schlafen.

Grau ging hinaus und suchte die K�che. Hier fand er einen gro�en Haufen von Tannenzapfen, �sten, St�cken von Latten und Splittern von Bauholz. Das zerbrochene Rad eines Kinderk�rrchens lag dabei, ein Peitschenstiel, ein unbrauchbarer Kochl�ffel und viele Dinge, wie man sie auf der Stra�e finden kann. Auf ein Bord waren Kohlenbrocken gelegt, geordnet zu einem langen Zuge, St�ckchen um St�ckchen, einige Reihen. Ebenso entdeckte Grau auf einem Gesimse eine Sammlung alter Eisenteile, Schrauben, N�gel, Hufeisen, das St�ck einer Eisenbahnschiene und einen T�rdr�cker.

Grau f�llte den gelben Ofen mit Holz und machte Feuer. Dann kam er wieder aus der K�che zur�ck mit einem Kochtopf voll Wasser, mit Tellern, Messern, Brot und einem riesigen St�ck Speck, das er in der K�che entdeckt hatte. Er stellte den Topf auf den Ofen, schnitt Brot und Speck und hantierte lautlos, w�hrend Eisenhut auf dem Diwan sa� und zu schlafen schien. Zeitweise �ffnete er ein Auge und l�chelte sp�ttisch. Das kleine H�ndchen streckte die Schnauze unter dem Diwan vor und verfolgte jede Bewegung Graus.

Der dicke Ofen begann zu prasseln und zu fauchen, manchmal knallte es wie Sch�sse in seinem Innern und wei�licher dicker Rauch quoll aus den Fugen.

Es war lange still. Dann ging Grau hinaus und holte Gl�ser aus der K�che.

Eisenhut blinzelte. „Sie bem�hen sich!“ sagte er leise. „Sie bem�hen sich!“ Er l�chelte sp�ttisch.

Grau l�chelte und antwortete freundlich: „Die M�he ist sehr gering, Herr Eisenhut. Wenn Sie mir einen Dienst erweisen wollen, so sagen Sie mir, bitte, ob ich nicht etwas Kognak finden kann.“

Eisenhut l�chelte und deutete auf den alten schwarzen Schrank.

Dieser Schrank sah im Innern aus wie das Schaufenster eines Branntweinfabrikanten, er war angef�llt mit Flaschen von allen Gr��en und Farben und Formen, zierlichen Flakons, dicken Bocksbeuteln; Eisenhut schien auch Liebhaber von Phantasieflaschen zu sein, da stand eine Flasche aus zwei Kugeln, ein pechschwarzer Neger in rot-wei�-gestreifter Badehose und mit wei�en lachenden Z�hnen, und andere Sehensw�rdigkeiten. Eine Menge von Kerzenstumpfen und Zigarrenresten, ein Revolver und ein Fernglas lagen in dem obersten Fach, das mit staubigen Weinflaschen vollgestopft war.

„Ah, das ist ja ganz pr�chtig,“ sagte Grau. „Hier haben wir alles was wir brauchen.“

Er bereitete Grog und stellte ein Glas vor Eisenhut. „Bitte,“ sagte er. Er blickte im Zimmer umher, sch�ttelte den Kopf und fuhr fort: „Wie h��lich Sie doch wohnen, Herr Eisenhut! Ein Mann wie Sie, Gott stehe mir bei! Wie sch�n k�nnten Sie es hier haben, eine freundliche Farbe an den W�nden, Vorh�nge, ein h�bscher Teppich. Ein paar Bilder, die Sie erfreuen, so oft Sie sie ansehen, eine Uhr mit einem langen Pendel, die Ihnen die Zeit vormi�t und etwas L�rm macht. Sie k�nnten es sch�n haben, da� es eine Freude w�re, zu Ihnen zu kommen.“

„Sie haben auch keine B�cher hier. Ein Bord mit sch�nen B�chern. Wenn Sie allein sind oder m�de, dann k�nnten Sie sich in den Sessel setzen und lesen bei der Lampe. Ich liebe das sehr, ich f�r meine Person. Es gibt so herrliche B�cher. Die ganze Welt ist darin, alles was die Menschen gedacht und gef�hlt haben. Sie k�nnen in der Gesellschaft von wirklich gro�en und au�erordentlichen Menschen leben, die alle wie Freunde zu Ihnen sind. Sie finden Friede, Ruhe und Halt, Freude, Sch�nheit und Rat. Sehen Sie, hier an dieser Wand, da k�nnten die B�cher stehen. Ich werde mit Ihnen in den n�chsten Tagen zum Buchh�ndler gehen. — Wollen Sie nicht den Grog trinken? Der wird Ihnen gut tun. Vielleicht w�nschen Sie ihn ein wenig st�rker?“

Eisenhut sch�ttelte den Kopf, ohne die Augen zu �ffnen.

„Seien Sie kein Narr! Ich will Ihnen die Schuhe ausziehen, es wird warm hier, alle Wetter! Das ist gut f�r uns beide.“ Grau zog ihm die Stiefel aus. Eisenhut richtete sich auf und blickte sich nach dem H�ndchen um. Das kleine braune H�ndchen verschwand blitzschnell unter dem Diwan und zerrte ein Paar alte Pantoffeln hervor.

„Was f�r ein h�bsches und kluges H�ndchen!“ sagte Grau. „Ich darf ihm doch etwas Speck geben? Du hast deine Sache ganz au�erordentlich gut gemacht!“

W�! W�! W�w�!

„Schon gut, schon gut! Siehst du, das hat mir gefallen, schleppst die Pantoffeln f�r deinen Herrn herbei und bist selbst so klein. Nun auf Ihre Gesundheit, Herr Eisenhut, auf unsere Gesundheit, raffen Sie sich auf, st�rken Sie sich!“

Eisenhut sch�ttelte den Kopf und starrte vor sich hin. Sein Auge war tr�be und hoffnungslos. „Es ist alles vorbei!“ murmelte er leise und nickte. Er schl�rfte langsam den hei�en Grog, er zitterte immer noch. Grau machte ihm ein zweites Glas zurecht. „Nein, nein!“ sagte Eisenhut, aber er schl�rfte auch dieses Glas. Es wurde warm und er h�rte auf zu zittern.

Pl�tzlich stand Grau auf und legte seine Hand auf Eisenhuts Schulter und dann umarmte er ihn. „Ich bin als Freund zu Ihnen gekommen!“ fl�sterte er.

Eisenhuts Schultern bebten.

Es war stille und die lange Ofenr�hre lie� einen hohlen surrenden Ton h�ren. Vom Marktplatze herauf drang der fr�hliche L�rm einer Gesellschaft, die sich verabschiedete. Gute Nacht, gute Nacht — huhu!

„Glauben Sie an die H�lle?“ fragte Eisenhut leise nach einer Weile.

„Nein.“

„Sie glauben nicht daran?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht daran glaube, ich f�hle nicht so.“

„Gut. Aber Sie t�uschen sich. Es gibt eine H�lle. Ja! H�ren Sie wohl, es gibt eine H�lle, sage ich Ihnen! Die Erde ist die H�lle, das Leben ist die H�lle, ich bin die H�lle, sehen Sie her, hier, hier ist die H�lle. Meine Gedanken und meine Gef�hle sind meine H�lle, meine Tr�ume! Ich kann einen Hund vor mein Haus legen, da� niemand herein kommt, aber — frage ich Sie — kann ich einen Hund vor meinen Kopf und mein Herz legen? Wenn ich wache, da kann ich mich bet�uben, ich kann Karten spielen, ich bringe vielleicht meine Gedanken los, aber wenn ich schlafe —? Sie tr�umen, da� ihr K�rper mit Aussatz bedeckt ist, mit Geschw�ren, mit einer Kruste aus Linsen, was ist das? Ist das ein Leben? Das ist die H�lle. Oder eine Spinne sitzt auf ihren Augen und saugt sie aus. Das ist entsetzlich!“

„Warum kann ich nicht sein wie andre Menschen, die fr�hlich und guter Dinge sind? Warum kann ich nicht sagen: Ach, guten Tag, wie geht’s? und dabei l�cheln? Ich f�hle mich unbehaglich in Gesellschaft — ich hasse die Menschen! Aber warum hasse ich sie doch? Warum, warum? Habe ich mich selbst so geschaffen? Ich hasse die Menschen, das ist ebenfalls die H�lle. Ich sehe die Menschen lachen und fr�hlich sein, es gibt mir einen Stich, ich h�re, da� man einen Menschen lobt, da� man gut und bewundernd von ihm spricht, das kann ich nicht ertragen — ich schimpfe �ber ihn. Ich mache ihn schlecht. Ich glaube nicht an das Gute. Die guten Menschen, denke ich, sind alle Heuchler, sie hassen sich ja doch, alle zusammen, sie hassen einander wie Teufel. Ich glaube nicht an Gott, an nichts glaube ich. Ich freue mich, wenn es einem Menschen schlecht geht. Er bricht das Bein, ich lache und sage: Recht so, recht so, nur frisch darauf los Beine gebrochen, ich freue mich. Ich lese die Zeitung. Ein Eisenbahnungl�ck. Selbst das macht mir eine geheime Freude, obwohl die Leute mir ja ganz fremd sind. Haha — so bin ich, bei Gott. So kann ich nicht mehr leben, sterben kann ich auch nicht, denn ich liebe das Leben, schrecklich liebe ich es, obgleich es die H�lle ist. Wie soll ich es doch anpacken?“ Er sch�ttelte den Kopf. „Und ich bin so weit, da� es mir ein Vergn�gen ist, Ihnen meinen Bankerott zu erkl�ren, es macht mir Freude, Sie sehen zu lassen, wie gemein ich bin. H�ren Sie zu, h�ren Sie geduldig zu. Ich liebe das Geld, offen und ehrlich gestanden. Das ist das einzige, sage ich zu mir, was du hast. Und sie beneiden dich darum, die andern. Sie kommen zu mir und wollen Geld. Nichts als Geld, keiner hat noch etwas andres von mir verlangt. Ich liebe das Geld und wenn ich es hergebe, so ist es nur, um mir den Menschen zu kaufen, er wird freundlich gegen mich, er l�chelt, wenn er mich sieht. So ist es und um kein Haar anders. Ich will, da� die Menschen vor mir auf dem Bauch liegen. Wenn ein Mensch mir schmeichelt — nimm! nimm! er kann alles haben — ich glaube ihm ja nicht, aber es ist doch sch�n all die h�bschen Worte zu h�ren — Herr Eisenhut hin und Herr Eisenhut her, vorw�rts und r�ckw�rts — wie geht es Ihnen, Herr Eisenhut, Sie sehen krank aus! Dieser Herr Eisenhut, was f�r ein nobler und feiner Mann ist er doch! Ja, wenn ich es glauben k�nnte, aber ich kann es ja nicht glauben. Ich glaube nichts. Sobald man mir etwas sagt, so verzieht einer in mir — hier, in meiner Brust, das Gesicht und grinst. Er spricht ja nicht die Wahrheit, denke ich. Ein nobler und feiner Mann! Aber weshalb k�nnte er es denn nicht wirklich meinen? ich habe ihm ja gar nichts getan. Sprechen Sie?“

„Weil er Sie wahrscheinlich nicht daf�r h�lt, Herr Eisenhut!“

„Aber es gibt ja viele Lumpen und Hunde ringsumher — wie spricht man von ihnen? Man ist freundlich, Ja, man liebt sie. Man liebt sie, obgleich sie Lumpen und Hunde sind! Warum das? Warum liebt mich keiner?“

„Weil Sie die Menschen nicht lieben, Eisenhut!“

Eisenhut l�chelte und seine Z�ge verzerrten sich. Er nickte. „Ich hasse die Menschen, es ist wahr! Aber ich gebe mir doch M�he, das nicht sehen zu lassen.“

Grau l�chelte und legte die Hand auf Eisenhuts Schulter. „Das hilft Ihnen nichts.“ sagte er. „Die Menschen f�hlen es, obgleich Sie Liebe und Freundschaft heucheln.“

Eisenhut sah ihn an, er blinzelte nicht. „Sie f�hlen es?“ Er blickte mit hilflosen Augen vor sich hin und gab dem kleinen Hunde einen Sto� auf die Schnauze, als er sich ihm zu F��en setzte. Der Hund sah ihn erschrocken und erstaunt an und blickte auch auf Grau, was er davon halte? „Wenn ich daran denke, an alles denke, so ist mein Leben eine fortgesetzte Blamage gewesen,“ fuhr Eisenhut fort und st�tzte das verzehrte Gesicht in die H�nde. „Ja, ja, dreimal ja! Eine einzige Blamage. Ich will gar nicht daran denken, wie die Bauern mich durchgepr�gelt haben — das ist ja eine Kleinigkeit — aber ich mache den Mund auf — ich sage etwas, ich tue etwas — alles ist nichts als Blamage. Ich bin auch so unwissend — ich sch�me mich — so unwissend — ich kann nicht richtig schreiben, einmal wollte ich einen Brief an eine Dame schreiben, ich konnte nicht, diese S�tze, Komma, Punkt, diese W�rter, man schreibt sie hin, sie haben keinen Sinn mehr, es ist zum wahnsinnig werden. Haha, wie haben sie gelacht, dieser Professor Richter und die ganze Bande — — ich spreche — alle lachen, die Herren und die Damen. Sie sprechen von einer Stadt und ich denke, sie liegt in Deutschland, aber die Stadt liegt in China. Alles lacht, alles! Ich lache mit und sage, ja, man kann sich t�uschen. Aber ich liebe es, gebildet zu erscheinen, trotzdem ich nichts wei�, ich sage ein Wort franz�sisch, ich streue ein lateinisches Wort ein — damit man glaubt, dieser Eisenhut kennt eine Menge Sprachen — aber ich wende ein fremdes Wort an und wieder lacht man. Das ist doch kein Vergn�gen, oder?“

Aber das sei ja weiter nicht schlimm. Wenn er f�hle, da� er unwissend sei, und darunter leide, weshalb lasse er sich nicht belehren.

„Glauben Sie? Glauben Sie, da� es nicht zu sp�t ist?“

„Wie alt sind Sie denn, um Gottes willen?“

„Dreiunddrei�ig.“

Grau lachte.

Eisenhut fl�sterte: „Niemand wei� es. Ich habe gar keinen Unterricht genossen. Meine Mutter sagte, was brauchst du den Kram, du hast Geld. Lenz hat mich unterrichtet — aber was war es doch? Er spielte Karten mit meinem Vater — sie tranken und spielten — Ah, sagte Lenz, dein Sohn braucht nichts zu lernen, er saugt die Weisheit aus dem Leben und aus der Natur! Auf diese Weise habe ich gar nichts gelernt, k�nnte ich dem Lehrer den Sch�del einschlagen! Ich habe nie den Mut gehabt, Unterricht zu nehmen, denn der Lehrer h�tte ja gesehen, wie unwissend ich bin.“

„Das ist ja nebens�chlich, das l��t sich leicht nachholen,“ warf Grau ein. „Mit einigem guten Willen.“

„Ja?“ sagte Eisenhut und nickte. „Das ist es ja nicht, es ist auch nur ein St�ckchen. Aber alles zusammen, alles, alles. Ich k�nnte nicht einmal alles sagen, selbst wenn ich wollte. Solch schreckliche Dinge! Aber was sagen Sie dazu, wenn einem Menschen mit der Zeit alles gleichg�ltig wird? H�ren Sie, ist es m�glich, da� es einem Menschen gleichg�ltig ist, ob es Tag oder Nacht ist? Ich liege im Bett und wage nicht aufzustehen, nicht aufzuwachen, denn ich f�rchte mich vor dem Tag, vor der Langeweile und dem Nichts. Was wird vorgehen, frage ich mich? Nichts, nichts! Weshalb soll ich aufstehen? Nun, ich stehe nicht auf, ich m�chte im Bette liegen und schlafen, immerzu, bis ich sterbe. Aber auch das ist sinnlos. Ich stehe auf, und ich denke, warum bist du aufgestanden, hast ja nichts zu tun. Ich gehe auf die Stra�e und die Sonne scheint. Mein Gott, wie gut es ist, da� die Sonne scheint, denke ich. Ich freue mich, ich gr��e die Leute. Das ist das Leben, denke ich, wenn die Sonne scheint und der Mensch fr�hlich ist. Ich gehe ein wenig in der Sonne und freue mich nicht mehr. Es ist ja so einerlei, ganz einerlei, ob die Sonne scheint oder nicht. So gehe ich in das n�chste Wirtshaus, setze mich hin, trinke Bier, esse K�se, sitze da, stundenlang und trinke — es ist mir ja alles einerlei. Ich kann ruhig hier sitzen, warum nicht? Mein Kopf ist leer, ich kann nichts denken. Aber ich kann tr�umen. Ich denke, ich gehe, gehe auf der Stra�e, da kommen sechs junge M�dchen daher, Arm in Arm und lachen mich an. Ich tr�ume, ich gehe durch den Wald und eine Dame kommt daher und begr��t mich und plaudert mit mir, ganz wie mit andern Herrn, ja, was will ich sonst? Nichts andres will ich sonst! Aber wenn ich der Dame in Wirklichkeit begegne, so gr��t sie kaum und l��t mich stehen. Haha, denke ich, so sind sie, und ich trinke. Oh, wenn sie doch zum Teufel ginge, sie und alle M�dchen, die immer lachen und vergn�gt sind, alle, alle, mit ihr in die H�lle! Ich w�nsche, da� sie krank wird und ihr die Haare ausfallen und ich freue mich — ja, wie h��lich wird sie doch aussehen? Niemand wird sie mehr ansehen — auch ich — nein, ich nicht, ich werde alles f�r sie tun, was sie will. Alles, alles, sie mag h��lich sein wie sie will. Aber das alles wird ja nie sein. Sie wird leben und fr�hlich sein, alle, alle Menschen. Ich fluche den Menschen, auch meinen Freunden! Habe ich welche? — M�gen sie dahinfahren! Brauche ich Freunde, nein? Ich lache, alles ist ja gleichg�ltig und ich br�te vor mich hin — ja, nun ist mir wieder alles einerlei — alles — aber das ist noch schrecklicher, lieber noch Ha�, noch Qual — Das ist das schrecklichste meiner H�lle, da� mir alles einerlei geworden ist!“ Er stand mit einer Geb�rde des Ekels auf. — Seine Z�ge waren bleich und verfallen. Die Linien um seinen Mund waren tief und gaben dem Gesichte den Ausdruck eines trostlosen L�chelns, obgleich er keine Miene bewegte. Ein verzweifeltes stummes Lachen war f�r immer in sein Gesicht eingegraben. Seine Augen waren scharf und brannten in kranker Glut, wie die eines Irren. Er ergriff das Glas mit Grog, das Grau f�r ihn gerichtet hatte und st�rzte es hinunter. Seine Hand zitterte.

„Ja!“ sagte er heiser wie ein Mensch, der lange geweint hat. „La�t uns trinken! Geben Sie mir noch ein Glas, es ist so nicht auszuhalten. Alles peinigt mich! Dieses Zimmer, ich brauche es nur anzusehen! Dieses Sofa, dieser Stuhl, alles qu�lt mich! In meinem Kopfe geht etwas herum, immer das gleiche! Haben Sie das schon erlebt, da� in Ihrem Kopfe immer das gleiche herumgeht, etwas das Sie foltert, wachen Sie auf, es ist da, gehen Sie zu Bett, es ist da. Es ist immer da, es weicht nicht mehr. Jemand lacht, es ist in seinem Lachen, sie trinken eine Flasche Schnaps, es ist in der Flasche. Es ist immer da! Sie werden ohnm�chtig, aber je ohnm�chtiger Sie werden, desto mehr ist es da! Sie werden wahnsinnig, aber dann ist es f�r immer da. Es qu�lt mich, weil es immer da ist. Hier — hier — der Boden, der Stuhl, auf dem Sie sitzen, die T�rschwelle — da ist es! H�ren Sie! Es ist das Tollste, was Sie je geh�rt haben. H�ren Sie?“

„Ich h�re, sprechen Sie, Eisenhut!“ sagte Grau.

Eisenhut atmete tief und begann: „Eines Nachts da klopft es an meine T�re — ich mu� es Ihnen sagen, ich mu�! — es klopft, ich horche, es klopft an der T�re, die zum Garten f�hrt. Ha! denke ich, wer, bei allen Teufeln, soll denn mitten in der Nacht an der T�re, der hintern T�re klopfen? Bum, bum! Die Haare stehen mir zu Berg, ich bekomme Angst und es siedet in meinem Kopfe. Ich sitze hier an meinem Tische wie aus Stein. Vielleicht sind es Diebe oder M�rder, die dich hinauslocken wollen? Nero beginnt zu kl�ffen. Pack, pack! sage ich, pack Nero, und �ffne die T�re und er kollert die Treppe hinunter und bellt. Bum, bum! Ich gehe ins Schlafzimmer, nehme das Gewehr und �ffne vorsichtig ein Fenster. Wer ist da! schreie ich laut, aus Angst schreie ich so laut. Jemand lacht leise im Garten. Ja, zur H�lle mit dir, wer kann denn im Garten lachen, das ist doch unerh�rt! Wer ist da? Es ist eine Dame, deren Stimme ich kenne.“ Hier hielt Eisenhut inne und blickte auf Grau. Ein Schatten fiel �ber sein Gesicht, nur das Kinn war beleuchtet und Grau sah, da� sein Mund l�chelte, so wie der eines Menschen, der horcht und l�chelt zu gleicher Zeit. „Es sind weder Diebe noch M�rder,“ fuhr er fort „es ist ja eine Dame, die du kennst. Sie hat mit mir zu sprechen. Was um alles in der Welt — es ist ja Nacht — tiefe Nacht! — Ich �ffne. Sie tritt ein und lacht. Was ist das eigentlich mit den Hunden, vor denen gewarnt wird, und mit den Fu�angeln und Selbstsch�ssen in Ihrem Garten, sagt sie und lacht als ob es heller Tag w�re. Bitte? Ja, das sei eine Finte, um das Gesindel abzuschrecken. Nichts ist wahr daran! Nun also, bitte? Sie habe mit mir zu sprechen. Bitte, sage ich, bitte, hier ist es finster ich bringe Licht, Licht, sofort, sofort, bitte, gn�diges Fr�ulein. Hier sitzt sie also, hier, mein lieber Herr, hier, wo Sie jetzt sitzen. Es ist zwei Uhr nachts, es ist Sommer. Geben Sie mir noch ein Glas Grog, ich mu� trinken, ich freue mich. Sie sitzt hier, sie hat dringend mit mir zu sprechen. Es war am dritten Juni, nachts zwei Uhr. Sie kommt mit einer gro�en Bitte, sie wei� nicht, ob ich sie ihr erf�llen werde. Bitte, bitte, sage ich, mein gn�diges Fr�ulein — nein, sie will nichts trinken, sie hat es auch sehr eilig, es tut ihr leid, da� sie nicht immer liebensw�rdig mit mir umging. Ich mu� verzeihen, Launen, sie ist sehr launisch. So sprach sie, so freundlich und blickte mir in die Augen. Sie sagte einfach Eisenhut, nicht Herr Eisenhut, nein, gibt’s nicht, Eisenhut bin ich. Bitte, sage ich, wenn es in meiner Macht steht? Ja, es steht in Ihrer Macht, es ist so leicht f�r Sie, Eisenhut. — Eisenhut, einfach Eisenhut! — Sie hat ein hellrotes Tuch um die Schultern geschlungen und blickt mich an. Es h�tten sich zu Hause Dinge ereignet, die unangenehmsten Dinge —. Geld! Auch sie wollte Geld von mir! Sie sind ja doch kein Geizhals, Eisenhut, sagte sie. Eine pl�tzliche Forderung — hm — ihre Mutter sei sterbenskrank, das ganze Haus, nun k�me sie zu mir, sie habe Vertrauen zu meiner G�te. G�te? denke ich. Sie l�gt, sie will Geld. Da sitzt sie nun, sie blickt mich an, sie tut ganz gleichg�ltig, spricht als ob sie vom Wetter spreche, aber sie bebt, sie bebt! Warum soll ich nicht helfen, denke ich, warum nicht? Die Familie ist verschuldet, das Geld ist verloren, ich kann es ebensogut einem Hunde zum Fressen geben — niemals wirst du auch einen Pfennig wieder sehen! — aber da sitzt sie ja, ich sehe wie sie innerlich zittert. Das freut mich — uns�glich! Da sitzt sie, fr�her, da sah sie mich nicht an, sie reckte die Nase in die Luft, sie ging wie eine K�nigin durch die Stra�en und wir andern alle waren Hanswurste und Luft f�r sie. Aber da sitzt sie nun — weshalb soll ich nicht — wie? Wieviel ungef�hr? Sie atmet zweimal tief, pickt mit dem Finger Brotk�rnchen vom Tisch, sie l�chelt, und sagt: zwanzigtausend Mark. Zwan—zig—tausend — sie hatte wohl den Verstand — nein, nein, nein. Ah, was die Leute doch denken. Esse ich Gansbraten und eingemachte Birnen? Ich esse nur einmal im Tage — nein! Da steht sie auf, sie legt mir die Hand auf die Schulter. Es ist so leicht f�r Sie, in einigen Monaten bekommen Sie es zur�ck. Ich stelle Ihnen einen Wechsel aus, einen Schuldschein, wie Sie wollen. Es wird alles gesch�ftsm��ig geregelt werden — nun spricht sie wie ein Bankier. Aber sie bebt ja doch! Sie sieht, da� ich z�gere, sie f�hrt mir mit der Hand �bers Haar, sie legt ihre Hand auf die meine. H�ren Sie, sage ich zu ihr, h�ren Sie, gn�diges Fr�ulein, Sie wissen, da� ich Sie liebe, werden Sie meine Frau. Ich liebe Sie, Sie k�nnen tun was Sie wollen, nur da� ich Sie t�glich sehen kann — denn ich will ja lieber Ihr Lakai sein, als der Mann einer der geschwollenen Kr�merst�chter von hier. So sage ich und sie h�rt aufmerksam zu. Ich sage, Sie werden dann so viel Geld haben wie Sie nur w�nschen. Alles wird Ihnen geh�ren, alles, eine Million und mehr! Haben Sie soviel? fragt sie und l�chelt. Ja, sage ich, ich l�ge nicht. Ich �ffne die T�re und zeige ihr den Schrank, �ffne ihn: Sehen Sie! Alles sollen Sie haben. H�ren Sie, Eisenhut, sagte sie, es kann doch nicht so rasch gehen, ich mu� es mir doch �berlegen und wenn ich Ihre Frau werde, so werde ich es doch nicht Ihres Geldes halber. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter und l�chelt. Ich m�chte sie an mich ziehen, aber sie macht eine kleine Bewegung und ich tue es nicht. Ich sage zu ihr, da� ich ordentlich und gut werden w�rde — ich schw�re ihr, nicht mehr zu trinken. Sie soll befehlen und ich gehorche, blindlings. Ihr Lakai werde ich sein. Ja, sie wolle nachdenken. So schnell kann es ja nicht gehen, mein Freund — sagt sie — mein Freund, das ist ja ausgeschlossen. Sie m��ten bei meinen Eltern um meine Hand anhalten, aber so — ich bringe Ihnen ja gewi� Freundschaft und Sympathie entgegen, obgleich ich immer launisch gegen Sie war — ob ich Sie aber heiraten kann, das mu� ich mir doch �berlegen. — Wann werden Sie mir Antwort sagen? — Morgen oder in den allern�chsten Tagen. Gut, sage ich, dann will ich Ihnen das Geld mitbringen. Sie besinnt sich und setzt sich langsam nieder. — Das geht ja nicht, mein Freund, sagt sie! Morgen gibt es zu Hause eine Katastrophe, wenn die Forderung nicht eingel�st werden kann. Es ist ein Wechsel. K�nnte es Ihnen nicht einerlei sein — ich komme morgen wieder zu Ihnen, ich verspreche es Ihnen. — Gut, ich z�hle ihr die Scheine hin. Danke, sagt sie, und z�hlt das Geld sorgf�ltig nach — aber ich sehe, wie ihre Hand bebt. Sie geht. �ber diese Schwelle hier ist sie gegangen. Sie geht wieder durch den Garten. Also morgen! sage ich. Ja, antwortet sie, wenn es mir m�glich ist, sicherlich. — Am andern Tage gehe ich zum Schneider und lasse mir einen Frack anmessen. Sie heiraten wohl? Ja, vielleicht. Ich warte. Der Tag vergeht, sie kommt nicht. Ich warte einige Tage. Der Frack ist fertig. Ich probiere ihn an und der Gedanke kommt mir in den Kopf um ihre Hand anzuhalten. Ja? Sofort — vorw�rts, — haha — vielleicht ist sie krank. Gut. Der Vater empf�ngt mich. Wie? sagt er. Ich spreche und er lacht. Na, sagt er, Herr Eisenhut, was f�llt Ihnen doch ein — hahaha — er lacht — er lacht und sagt: Entschuldigen Sie, ich lache ja nicht — es ist ja h�chst ehrenvoll — aber ich glaube, da� meine Tochter — hahaha! — da� meine Tochter, na, da� die W�nsche und Absichten meiner Tochter — �brigens, wer kennt die Frauen? Sie wird es Ihnen ja sagen. Konrad — meine Tochter soll kommen. — Sie kommt. Ich sehe sie nicht, aber ich h�re ihren Schritt, obwohl Teppiche gelegt sind, h�re ich ihn. Sie ist da. — Herr Eisenhut gibt uns die Ehre, gibt dir die Ehre — Sie ist totenbleich — sie sieht mich an und auch ihre Lippen werden bla� — sie hat Angst, ich werde sprechen — nein, Sie brauchen keine Angst zu haben, nein, so bin ich ja nun doch nicht — ich werde Sie nicht verraten. Sie l�chelt, gibt mir freundliche und h�fliche Worte. Sie sagt nicht Ja, sie sagt nicht Nein, sie sagt hmhm. Ich gehe. Der Diener l�chelt ebenfalls. Soll ich dich aufs Maul hauen, du Affe? — Ich warte, ich denke, wie dumm, wie voreilig. Endlich treffe ich die Dame und sage: Nun? Wie steht es mit der Antwort? — Sie l�chelt und sagt: Ja, was f�r Einf�lle Sie doch haben, Sie kommen ins Haus — ich bin ja nicht wiedergekommen, war Ihnen das nicht klar genug? — Ich sage: Haha, was ist das! Sie haben aber versprochen zu kommen. Ja, sagt sie gleichg�ltig. Ich m�chte Sie bitten weniger laut zu sprechen und sich weniger auffallend zu geb�rden, Herr Eisenhut, wenn uns jemand beobachtet! — Nun sprechen Sie ja ganz anders, seht an, sage ich, neulich da konnten Sie viel freundlicher sein. Sie haben von Freundschaft und Sympathie gesprochen — was wei� ich — es war aber nur eine Falle, so ist es. Sie haben wohl auch nie im entferntesten daran gedacht, mich zu heiraten — wie? — Sie sieht mich an und l�chelt ver�chtlich. Wenn Sie es wissen wollen: Nein! Ich bitte Sie nun — Was bitten Sie! schreie ich. Dann haben Sie mich einfach betrogen! — Sie stampft mit den F��en und wird bla�. Bitte! sagt sie und sieht mich an als ob ich ein Lakai w�re. Ich h�tte nicht gedacht, da� Sie ein solch ungebildeter Mann w�ren! Au�erdem w�re es mir nie in den Sinn gekommen Sie um eine Gef�lligkeit zu bitten. Sie geht. — Ja, wie konnte ich auch so ungebildet schreien, denke ich, wie konnte ich mich so vergessen. — Ich kam mir vor wie ein Hund. Ich trank, schrecklich trank ich in dieser Zeit, ich wollte gar nicht mehr zur Besinnung kommen. Ich habe eine Dame beleidigt und liebe sie doch, ja zum Teufel mit mir! Ich trinke hier in dem gleichen Zimmer, wo sie mir das Haar streichelte. Ich bin ein ungebildeter Mann, jawohl, ganz richtig. Das ist wahr, sie hat es gesagt. Ich k�nnte mir die Haare ausrei�en! Sie h�tte mich ja nie um eine Gef�lligkeit gebeten, wenn sie gewu�t h�tte, was f�r ein ungebildeter Mann ich eigentlich bin. Ja, es ist wahr, sie heuchelte mir etwas vor, sie machte mir Versprechungen — soll ein Mensch in der Welt aufstehen und das Gegenteil behaupten! — sie schmeichelte mir, sie nahm die Gef�lligkeit von zwanzigtausend Mark mit sich, das tat sie — aber trotzdem! Und ich fluchte und trank, weil sie mich angelogen hatte, ich trank weil ich ein Narr war und ihr glaubte, ich trank, weil ich sie kr�nkte und am meisten trank ich, weil sie mich nun verachtete wegen meines ungebildeten Benehmens. Ich mag schon gar nicht daran denken — wie ich den Freiersmann spielte und mir einen Korb holte — Wie sollte ich je mit der Sache fertig werden, je ins Klare kommen? Ich sitze hier und trinke und deute auf den Tisch — hier hast du also auf der einen Seite eine Dame, die kommt, dich streichelt und heuchelt und verspricht und — ich deute auf den Tisch — hier hast du also einen Mann, der sich die Freiheit nimmt zu fragen, was denn eigentlich — hier hast du also — und hier — nein! Mein Kopf fa�t das nicht. Wie ist es doch? Wer hat recht und wer hat unrecht. Wie ist es doch? Nein, ich bin zu dumm, um das je herauszubekommen. Aber Zorn kommt �ber mich, Wut, da� ich schreie! Hier hast du also, hier — und hier — ja, ich bitte einen vern�nftigen Menschen mir zu erkl�ren — wie? Ist es vielleicht ein Vergn�gen — ich frage den Teufel! — ist es ein Vergn�gen — einen Frack anzuziehen — wie — und ein alter Habenichts lacht — ist das ein Vergn�gen — ich bitte weniger laut zu sprechen — wenn uns jemand beobachtet — wie? Gott im Himmel, wie soll ich das verstehen! — Ich hasse die Menschen! Was f�r eine Behandlung ist das? Ich hasse die Frauen! Ja, ich liebte jene Dame, es ist die Wahrheit, ich liebte sie. Aber nun hasse ich sie. Ich begegne ihr auf der Stra�e, ich gr��e nicht, ich blicke sie nur durchdringend an. Ich gehe an ihr vor�ber und ziehe einen Brief heraus, auf den ich mit haushohen Buchstaben Schuldschein schrieb — ich mache es so, da� sie es sieht. Ich hasse sie, sie k�nnte es Schwarz auf Wei� haben — ich treffe sie in der Buchhandlung und lasse den Brief fallen. Sie soll nur etwas Angst vor mir haben, jetzt, da ich sie hasse. Ich habe sie geliebt, was ist geschehen, da� ich sie jetzt hasse? Habe ich zu mir gesagt: Hasse sie, hasse sie! Nein! — Ich begegne ihr mit den Freundinnen, sie spricht das erste Wort, sie reicht mir die Hand. Sie spricht mit mir: Sie hat Angst. Gott im Himmel! denke ich, weshalb hat sie doch nur Angst? Nun spricht sie freundlich mit mir, sagt, ob ich nicht zum Tennis kommen wolle — nur weil sie Angst hat. Ja, weshalb sollte sie denn Angst haben? Vor mir? Ach, bei Gott, nein, sie braucht gar keine Angst zu haben, ich tue ihr nichts, nein. Es ist ja schrecklich, zu sehen, da� sie Angst hat. Denn ich liebe sie ja, ich hasse sie ja gar nicht, ich liebe sie! Ich blicke auf ihr Haus und weine. — Wie l�cherlich, Angst zu haben, ich werde es ihr sagen, von einem Skandal kann ja gar keine Rede sein. — Ich laure auf den Wegen, bei ihrem Haus, endlich treffe ich sie. Ich nehme den Brief aus der Tasche, um ihr den Schuldschein zur�ckzugeben — sie sieht mich an und sagt: Man wird Sie bezahlen, haben Sie keine Angst, Herr Eisenhut. Aber ich bitte Sie mich gef�lligst ungeschoren zu lassen, ich kann ja keinen Fu� mehr aus dem Hause setzen, ohne da� Sie dastehen. — Glauben Sie nun, ein Mensch wie ich, l�chelt, gibt den Brief zur�ck, sagt ihr, da� sie unbesorgt sein m�ge? Glauben Sie das? Dann sind Sie auf falschem Wege. Ich bin nicht so. Nein. Was hat mich doch so w�tend gemacht? Ich stehe da mit dem Briefe und also mu� sie denken — deshalb spricht sie ja so — aber da� sie so spricht, ihre Haltung, ihr Blick — alles — was hat mich doch w�tend gemacht, da� ich schreie: Nehmen Sie sich in acht vor dem Skandal! Ich schreie das, ich lache ganz gem�tlich und gehe.

Ist das nicht um verr�ckt zu werden, wie? Nichts ist geblieben als Ha�. Aus allem, was man tut, nichts bleibt als Blamage, Ekel und Ha�! Ach, wie ich doch die Frauen hasse. Sie sind Schlangen, sch�n, w�rmen sich in der Sonne und glitzern, denken b�se und sind giftig! Man sollte sie alle einsperren, gehen daher und bl�hen sich auf. Nun, ich hasse sie! Ich hasse auch die M�nner, aber die Frauen hasse ich auf eine ganz andere Weise! Ich sitze hier, bewerfe sie mit Schmutz und hasse sie. In manchen Stunden, da liebe ich sie ja. Sie sind sch�n, Gott im Himmel, sie sind ja sch�n, sage ich, sch�n und r�hrend sind sie. Ich bitte euch um Verzeihung, ihr Frauen auf der ganzen Erde, ich! Aber der Ha� kommt zur�ck. Auch die Menschen liebe ich zuweilen, aber der Ha� kommt zur�ck und zerfri�t mich wie Gift. Ist das ein Dasein? frage ich Sie, was f�r ein Leben soll das sein! Es ist ein Hundedasein, nichts als ein Hundedasein!“

Er lachte verzweifelt auf und schrie.

„Das ist das, h�ren Sir, Herr Grau, das ist das, nun habe ich es Ihnen erz�hlt, das, was mich qu�lt — was nicht mehr von mir weicht, ich denke daran, fresse daran �ber ein halbes Jahr — immer wieder ziehe ich den Frack an — immer wieder — geht die Dame �ber diese Schwelle — immer wieder spricht sie mit mir oben im Walde — immer, immer, immer wieder — ah!“ Er vergrub den Kopf in den H�nden.

„Halt!“ schrie er. „Sagen Sie nichts! Es ist noch nicht alles! Ich mu� alles sagen, es mu� heraus, ich mu� es tun, Sie sollen wissen, wie es um mich steht. Glauben Sie denn, es sei eine Wonne so zu leben — mit all dem im Kopfe? Wie ist das alles gekommen? Wei� ich es? Wie ist es gekommen, da� alles sich in meinen Gedanken in Schmutz verwandelt? Jedes harmlose Wort — ich h�re es, man spricht es — aber in meinem Kopfe verwandelt es sich zu einer Niedrigkeit. Was f�r Gedanken habe ich doch fr�h und sp�t — abscheuliche Gedanken, die kein Mensch ertragen kann, ich m�chte weit fort von ihnen, aber es geht nicht. Nichts ist schrecklicher als eine verdorbene Phantasie — sie ist ein Gespenst, das alles h��lich und stinkend macht.“ Er schauderte zusammen und sch�ttelte sich wie gepackt vom Grausen. „Auch meine Phantasie ist eine H�lle!“

„Ich will nicht mehr!“ fuhr er fort und wiegte den Kopf auf den Schultern hin und her. „Ich will nicht — aber ich mu� — ich mu� Ihnen alles sagen. Warum? Haben Sie mich etwas gefragt? Haben Sie zu mir gesagt: Nun, Eisenhut, wie steht es mit dir? Was macht dir Qual? Nein! Nichts haben Sie gesagt. Aber ich sage Ihnen alles, ich rei�e vor Ihnen das ganze Haus ein, damit Sie sehen, was darin ist. Ich verkaufe mich auf Abbruch vor Ihnen. Warum? Vielleicht, weil Sie mir helfen sollen? Oder? Warum denn? Ich habe Sie gesehen, ich habe geh�rt, was Sie sagten, damals bei der Beerdigung — ich habe an Sie gedacht. Ich konnte meine Gedanken nicht mehr von Ihnen losrei�en. Warum? Kenne ich nicht hundert Leute, an die ich nicht denken mu�? Was ist das? Ich habe gedacht, wie sch�n und jung er ist und wie freundlich und gleichm��ig liebensw�rdig gegen jedermann. Vielleicht ist er gl�cklich, vielleicht ist er gut und vielleicht hat er keine H�lle in der Brust, keine h��lichen Gedanken, sch�ne Gedanken vielleicht! Nein, er ist ein Dummkopf und ein Schw�tzer, habe ich gedacht, er ist eine Art Idiot, ein Narr — so wie Professor Richter sagt. Aber trotzdem mu�te ich an Sie denken. Ich tr�umte von Ihnen, ich sah in Ihre Fenster, ich mu�te Ihnen immer begegnen, Sie immer ansehen. Ich ging um Sie herum, im Kreise, und kam nicht mehr los von Ihnen. Was ist das? Am ersten Tage, da begegnete ich Ihnen — ich richtete es so ein — ich tat, als ob ich gr��en wolle, ich gr��te nicht. Aber Sie gr��ten und sagten: Ein sch�ner Tag oder was Sie doch sagten. Freundlich sahen Sie mich an. Ich aber lachte �ber Sie. Ich lachte und ich wei� nicht, warum ich lachte. Sie l�uteten an meiner Glocke, am gleichen Tage, ich �ffnete nicht. Ich dachte, aha, er hat eine Liste bei sich, er will Geld! Aber nicht deshalb allein �ffnete ich nicht, nein — ich hatte Angst vor Ihnen, ganz pl�tzlich — eine eigent�mliche unsagbare Angst. Seitdem mu�te ich immer an Sie denken.“

„Ich tr�umte auch von Ihnen, ja! Ich tr�umte, einige Schurken h�tten mich angeschossen. Ich lag da und st�hnte und mein Gaumen brannte. Ich pre�te die Hand auf die Brust, das Blut scho� heraus, ich stand Todes�ngste aus — da ging die T�re auf und Sie kamen herein. Ich wurde sofort ruhig. Sie legten mir die Hand auf die Brust, da flo� das Blut nicht mehr. Sie feuchteten den Finger an den Augen an, da war die Wunde geheilt. Das tr�umte ich von Ihnen und oft tr�umte ich von Ihnen.“

„Warum, warum? Seitdem ich Sie sah — weshalb doch? Ich verstehe ja das ganze Leben nicht mehr. Ich mu�te an Sie denken und je mehr ich an Sie denken mu�te, desto mehr ha�te ich Sie, je mehr ich Sie ha�te, desto mehr mu�te ich an Sie denken. Wenn ich Sie nur sah, konnte ich w�tend werden. Sie gehen dahin, so leicht — Ihre Augen sind so klar — alles zusammen — ich ha�te Sie aber! Nun sitzen Sie da, ich erz�hle Ihnen alles. Ich mu�. Ich mu� fortfahren, ich wei� nicht warum.“

„Sie sollen von diesen Schuften h�ren, diesem Professor Richter, dem Adjunkten, von Dr. N�rnberger — von mir und ihnen — alles sollen Sie h�ren. Weshalb verkehre ich mit diesen Leuten? Weil sie gebildet sind, weil sie angesehen sind! Oh, h�tte ich sie nie kennen gelernt, diese Hunde, die alle so sind — so niedrig wie ich — die nichts glauben, nur lachen, nichts wollen, alles in den Schmutz ziehen — diese — nein, nein, nein, genug — einmal hat mich Dr. N�rnberger zum Duell herausgefordert, ich glaubte es sei ihm Ernst — ich — nein, nein, nein — genug — nichts mehr —“

Er schwieg und schlo� die Augen und es sah aus als ob er ohnm�chtig werden w�rde. Grau wollte ihm eben beispringen, aber da sah er, da� Eisenhut l�chelte.

Er l�chelte und ohne die Augen zu �ffnen sagte er: „Es ist zu toll, es waren ja gar keine zwanzigtausend Mark, die die Dame holte. Es waren nur zehntausend!“ Er sch�ttelte den Kopf, blinzelte und begann zu Graus Erstaunen heiter zu lachen. „Ja,“ rief er aus, „wie toll! Es waren ja nur zehntausend Mark! Ich bildete mir ein, es seien zwanzigtausend gewesen, all die Zeit lang und endlich glaubte ich es selbst. Ha! Ha! Ha! Ja, bei Gott, so ist es mit mir! Ich l�ge und manche L�gen wiederhole ich so oft, da� ich sie selbst glaube. Warum mu� ich denn immerzu l�gen? Das ist sonderbar! Ich komme in eine Wirtschaft und erz�hle, da� ich soeben einen wei�en Hirsch gesehen habe. Weshalb, warum, wozu? Hat mich jemand gefragt, wie? K�nnen Sie mir das erkl�ren?“

Grau antwortete: „Ich denke, Sie wollen sich interessant machen, Herr Eisenhut.“

Eisenhut nickte, gleichsam befriedigt �ber Graus Antwort. „Ja, das ist es. Ich habe mich schon wahnsinnig gestellt, ja sogar tot habe ich mich gestellt — sogar tot! Um Aufsehen zu erregen, um mich interessant zu machen. Deshalb l�ge ich auch immerzu. Ich habe auch Sie einmal angelogen, als wir zu M�tterchen hinaus gingen. Da� Lenz mit den M�dchen im Sommer spazieren ging und sagte: Alle auskleiden. Das war eine L�ge. Ha! Ha! Ha! Wie kam ich doch darauf. Warum tat ich es doch! Ha! Ha! Ha!“

Grau unterbrach ihn, denn er sah, da� Eisenhut den �u�ersten Grad von Erregung erreicht hatte. „Ruhen Sie sich aus, Eisenhut, sprechen Sie nicht mehr!“ sagte er und f�hrte ihn zum Sofa.

„Ja, ja!“ sagte Eisenhut. „Ha! Ha! Ha!“

Eisenhut schwieg. Dann lachte er wieder, sah Grau an und wurde pl�tzlich ernst. „Sie sind gewisserma�en der allerschrecklichste Mensch!“ fl�sterte er. „Mir graut vor Ihnen, denn man kann Sie nie kennen, nie, nie!“

„Aber lieber Freund!“ sagte Grau. „Ruhen Sie doch ein wenig.“

Eisenhut nickte und schwieg.

Aber er begann von neuem und er sprach und fl�sterte die ganze Nacht hindurch. Das Licht der Kerze erlosch und sie sa�en im Dunkeln. Durch die Risse des Ofens flackerte der Schein des Feuers, das langsam erstarb. Er sprach aus der Dunkelheit, lachte, schrie, schluchzte, fl�sterte. All die Qual, die in den Menschenherzen haust —

Grau zitterte, so da� er die H�nde auf die Knie pressen mu�te, um sich nicht zu verraten. Warum zitterst du? fragte eine Stimme in ihm. „Es ist so schrecklich, so schrecklich all das zu h�ren!“

Grau unterbrach ihn nicht; er sollte sich aussprechen. Die Scheiben der Fenster wurden blau und begannen zu glitzern. Lautlos kam der Tag. Nichts regte sich auf der Stra�e. Dann begann eine feine bimmelnde Glocke im Kloster zu l�uten und der Gesang der M�nche hallte aus der Ferne.

Eisenhut sa� zusammengekr�mmt im Sessel und schwieg.

Grau sa� still und blickte zu ihm hin. Die Fenster wurden hellblau und die H�user gegen�ber tauchten wie aus einem dicken Nebel auf.

Dann sagte Grau: „Sie haben viel gelitten, Eisenhut!“

„Ich bin verloren und schlecht, schlecht und verloren.“

Grau sch�ttelte den Kopf. „Nein,“ sagte er, „aber Sie haben zu viel gelitten! Sie sind nicht schlecht, nur schrecklich ungl�cklich sind Sie!“

Aber Eisenhut sa� bleich, mit verzweifelten lechzenden Augen. „Kann ich denn so leben?“ fragte er und wollte aufstehen. Aber Grau dr�ngte ihn sitzen zu bleiben. Er sah ihn an, reichte ihm die Hand und dr�ckte sie. Er nickte und sa� lange Zeit, die hellen freundlichen Augen auf ihn gerichtet.

„Geduld, Geduld!“ sagte er endlich. „Nun wird es ja schon Tag; die Sonne mu� bald aufgehen. Sehen Sie doch, wie blau der Himmel wird, es wird ein sch�ner klarer Tag werden. Was soll ich Ihnen doch sagen, Eisenhut? Da sitze ich nun und beginne vom Wetter zu sprechen, weil ich nicht wei�, wie ich beginnen soll. Ich bin ja so unerfahren und jung, Sie m�ssen Nachsicht haben, ich bin ja sogar j�nger als Sie, Eisenhut — wie anma�end w�re es doch, wollte ich Ihnen Ratschl�ge geben. Sie haben Vertrauen zu mir gehabt und wie sch�n ist es doch, da� Sie ein solch unbedingtes Vertrauen zu einem Menschen haben konnten! Sch�n war es f�r mich, da� Sie mich damit auszeichneten und ich werde Ihnen das nicht mehr vergessen. Ich habe mich so gefreut dar�ber und ich danke Ihnen. Ich bin Ihr Freund, wenn Sie nur wollten. Ja, ich geh�re Ihnen ganz! Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken, es wird Sie st�rken. Sind Sie m�de? Nein? Ich denke mir, wie ungl�cklich und arm Sie doch sind. Aus all dem was Sie mir erz�hlten, konnte ich ja entnehmen, da� Sie niemals, aber auch niemals einen Freund gehabt haben.“

„Wir alle aber k�nnen nicht ohne Freunde leben!“

„H�ren Sie, was Susanna einmal zu mir sagte. Sie sagte, wenn sie in den B�chern liest, so f�hlt sie, da� sie von all den Gestalten, die in den B�chern vorkommen, etwas hat, ob sie nun schlecht oder gut sind. So empfand auch ich, als ich Ihnen zuh�rte. Ich bin Ihnen so sehr �hnlich; von all Ihren W�nschen, K�mpfen, Schmerzen habe auch ich einen gro�en Teil. Ich will ja nicht sagen, da� ich genau so bin wie Sie, nein, jeder Mensch ist ja doch anders, aber so im allgemeinen? Mehr oder weniger sind alle Menschen wie Sie, Eisenhut. Ach, sch�tteln Sie doch nicht den Kopf, es scheint mir so, soweit ich die Menschen kenne Sie sind Ihnen alle verwandt. Sie sind allein oder f�hlen sich allein, ganz wie Sie. Sie leiden unter dieser Einsamkeit, wie Sie. Sie haben Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft. Sie haben schlechte und h��liche und ha�erf�llte Gedanken, jeder Mensch hat sie zuweilen. Sie l�gen und posieren, um gesehen, geh�rt, beachtet zu werden, um interessant zu erscheinen. Ja, das tun fast alle. Fast alle sind so empfindlich wie Sie und wir alle f�hlen einen Tropfen Essig st�rker auf der Zunge als ein Pfund Honig. Alle sind so ehrgeizig, alle legen so gro�en Wert auf die Liebe und die Achtung der Menschen wie Sie — und das ist ja nur gut! Wir alle m�chten nicht nur geliebt, wir m�chten bewundert sein. Und das ist ja nur gut!“

„Das Leben ist gegen Sie unfreundlicher und nachsichtsloser gewesen als gegen andere, Eisenhut. Das hat Sie bitter gemacht und Sie sind nicht stark genug gewesen. Dann haben Sie in Ihrer Seele gew�tet, wie haben Sie in Ihrer Seele gew�tet, Eisenhut, wie ein M�rder! Ja, das haben Sie getan, verzeihen Sie mir, aber ich mu� es sagen! Nun aber frage ich Sie, hat Ihre Seele sich das gefallen lassen? Nein, nein! Sie hat sich gewehrt dagegen und hat Sie gefoltert daf�r und gepeinigt. Denn sie sagte sich: Genug, genug, wie geht er doch mit mir um? Ihre Seele ist ja gut, Eisenhut. Sie sind ja ein guter, wahrhaft guter Mensch! Das glauben Sie nicht? Seht an! Ich habe ja schon fr�her von Ihnen geh�rt und es ist wahr, ich habe viel, viel an Sie gedacht! Weshalb sehen Sie mich so an? Ja, das habe ich getan. Ich habe mich in Gedanken viel mit Ihnen besch�ftigt. Sie taten es ja auch mit mir, nicht wahr? Ich habe gedacht, Eisenhut ist ein guter Mensch, den man viel qu�lte. Ein guter, aber einsamer Mensch ist er, ich schw�re Ihnen, ich habe das gedacht! Sie sind gut, sagen Sie, was Sie wollen. Sie hassen die Menschen, weil sie Ihnen zuvor so gro�e Liebe entgegen brachten. Wie k�nnen Sie doch lieben! Haben Sie nicht gesagt — als Sie von jener Frau sprachen — ich blicke auf ihr Haus und weine? Sie vergeben mir wohl, da� ich es wage, Ihre intimsten Gef�hle zu ber�hren. Ich will Ihnen ja nur beweisen, wie gut Sie in Wirklichkeit sind und wie wenig Sie sich selbst kennen. Das ist auch ein Fluch, eine Strafe f�r diejenigen, die in ihrer Seele w�ten, da� sie sich selbst nicht mehr kennen. Sie haben gesagt: Die Sonne scheint, ich gehe auf die Stra�e, ich gr��e die Leute — kurz und gut, ich k�nnte Ihnen ja an vielen, vielen Dingen zeigen, da� ich im Recht bin. Haben Sie nicht auch jener Dame, die in der Not zu Ihnen kam, geholfen?“

„Ich will Ihnen sagen, welchen Fehler Sie begangen haben. Sie haben jenen Fehler begangen, den die meisten Menschen begehen: Sie suchten Gl�ck und Erl�sung durch andere, durch Freunde und Freundinnen. Und Sie haben jenen Fehler begangen, den die meisten M�nner begehen, sie suchten Gl�ck und Friede durch die Frau. Ja, fragen Sie sich doch, sollten die Frauen vielleicht dazu da sein, da� wir uns bei ihnen ausruhen, erholen, da� wir von ihnen das Gl�ck und die Freude entgegennehmen? Nein, wie unsinnig w�re das doch! Sie wollten, da� die Menschen Sie lieben, da� die Frauen Sie lieben, da� Sie sie lieben d�rfen, nicht wahr? Dann w�re Ihnen geholfen. Aber wenn Sie zu einem Menschen kommen, so sieht er Sie an und fragt sich: Was wird er mir geben? Ich frage Sie, sind Sie reich, k�nnen Sie geben? Ja, Liebe, nicht wahr, wollten Sie denn nicht Liebe geben? Richtig, aber jene Liebe, die aus Ihrer eigenen Ohnmacht hervorgeht, Verzweiflung, weil Sie mit sich allein nicht leben k�nnen, weil Sie arm im Innern sind, Anlehnung wollten Sie, Halt! Wenn Sie in ein Wirtshaus gehen, essen, trinken und nicht bezahlen k�nnen, so wirft Sie der Wirt vor die T�re, Sie sind ein Zechpreller. Er hat keine Nachsicht mit Ihnen. Die meisten Menschen sind solche Wirte, die den vor die T�re werfen, der nicht bezahlen kann und den nicht hinein lassen, der arm aussieht. So sind die Menschen, sie m�ssen vielleicht so sein, denn sie sind ja selbst arme Wirte, keine reichen Herren, die Bettler speisen k�nnen.“

„Sie fragen mich nun — ja, sagen Sie, ich sehe doch, man liebt den oder jenen und was ist er im Grunde genommen, aber man nimmt ihn auf, man liebt ihn. Lieber Eisenhut, ich wei� das wohl. Man nimmt ihn auf, man liebt ihn um einer einzigen sch�tzenswerten Eigenschaft willen! Vielleicht kann er singen, oder Geschichten erz�hlen, oder er ist freigebig, er ist witzig, er ist drollig, er ist g�tig oder er ist mutig. Wenn er nur eine einzige Eigenschaft hat, die ihn vor andern auszeichnet. Haben Sie eine solche Eigenschaft? Fragen Sie sich? Sie sind beg�tert, Sie sind ein reicher Mann und diese Eigenschaft hat Ihnen Einla� gew�hrt. Aber das ist ja eigentlich keine Eigenschaft, nicht wahr.“

„Das sind harte Worte, verzeihen Sie mir. Sie wissen ja selbst, Sie leben nicht im Frieden mit sich. Ja, Sie sind so unzufrieden wie einer nur sein kann und haben ja selbst Ihren Bankerott erkl�rt. Aber Sie wollen, da� man Sie liebt! Freunde sind der Preis unserer Tugenden, Eisenhut.“

„Sie sagen, Sie hassen die Menschen, Sie glauben nicht an ihre Liebe und G�te und an das Edele in ihnen. Aber Sie wollen, da� man Sie liebt. Du guter Gott, was denken Sie denn, die Menschen f�hlen ja Ihre geheimen Gedanken. Sie achten die Frauen nicht sehr, aber Sie wollen, da� die Frauen Sie lieben. Da kommen Sie nun zu den Frauen, Sie sprechen, Sie sind liebensw�rdig, Sie sind freundlich — aber die Frauen? Die Frauen f�hlen ja deutlich, wie Sie sonst �ber sie denken. Sie bleiben k�hl. Ein anderer spricht dieselben Worte, l�chelt das gleiche L�cheln, sehen Sie, wie die Augen der Frauen leuchten, wie freundlich sie ihn anblicken? Warum? Ja, die Frauen f�hlen, er denkt immer so von uns. Das Gef�hl eines Mannes k�nnen Sie am Ende t�uschen, aber niemals das Gef�hl einer Frau, denn sie sind alle Hellseherinnen.“

„Nun, Eisenhut? Eisenhut, Eisenhut, Eisenhut — ich bin ja Ihr Freund und mir m�ssen Sie alle diese grausamen Worte verzeihen. Weshalb bin ich Ihr Freund, Eisenhut? Weil ich Sie am besten kenne. Nun? sage ich. Sie fanden keine freundliche Miene bei den Menschen. Was taten Sie aber? Gingen Sie nach Hause und sagten Sie zu sich selbst: Ich bin ja wenig wert, ich habe den Menschen zu wenig zu geben. Ich bin nicht einmal ein guter Gesellschafter, denn ich wei� ja wenig und habe meine Kenntnisse nicht bereichert. Taten Sie das? Nein, ach, Sie taten es nicht. Sie klagten die Menschen der H�rte und Lieblosigkeit und Schlechtigkeit an und begannen zu trinken. Sie suchten also Erl�sung, Gl�ck und Friede im Rausch. Das tun ebenfalls alle Menschen, die meisten, sie bet�uben sich alle auf irgend eine Art. Aber der Rausch verfliegt, die Bet�ubung verfliegt und Ihre Seele schreit hungriger und durstiger als zuvor. Ihre Seele will Wahrheit, keine L�ge und Bet�ubung. Im Rausch, da k�nnen Sie einherschreiten wie ein K�nig, aber der Rausch vergeht und Sie sind ein Bettler. Denn Sie sind ja kein wirklicher K�nig gewesen im Rausche, nur als K�nig verkleidet waren Sie. Ich wei� das alles, Eisenhut, ich, Ihr Freund, denn — all das habe ich an mir selbst erlebt.“

„Sie leben viel in der Nacht, Eisenhut. Wer ertr�gt das? Wissen Sie denn, wie gef�hrlich es ist mit den Geistern der Nacht zu leben, f�r den Menschen, der ja geschaffen ist zum Verkehr mit den freundlichen Wesen des Tages und des Lichtes?“

„Sie leben immer mit sich allein. Auch das ist gef�hrlich. Nur wenige Menschen k�nnen es ungestraft tun, denn der Mensch ist ja geschaffen zum Umgange mit seinen Br�dern.“

„Ihre Seele hat nach Eindr�cken gehungert, Ihr Geist nach Erkenntnis? Haben Sie Ihre Seele ges�ttigt, Ihren Geist? Nein. Sie sind nicht der Mann, der zufrieden ist, seine Gesch�fte zu verrichten, Geld einzukassieren und in Kneipen zu sitzen. Es ist gut, da� Sie das nicht befriedigt. Ihre hungernde Seele soll Sie qu�len, das ist gut. Aber was tun Sie, Ihre Seele zu s�ttigen? Nichts, Eisenhut, da sitzen Sie in diesem Gef�ngnis, in diesen Fuhrmannskneipen, in dieser kleinen Stadt, wo das Leben still steht. Was w�rden all die andern Millionen Menschen tun, die so allein sind wie Sie, wenn sie nicht Spiel und Gesang, Musik und Poesie h�tten? Es ist ja nicht genug, da� der Mensch i�t und trinkt und schl�ft, nein, er braucht ja viel mehr. Warum reisen Sie nicht, Eisenhut, hinaus in die Welt? Warum nicht? Wo t�glich tausend neue Eindr�cke Ihre Seele erquicken und ermutigen? Warum taten Sie das nie?“

„Da drau�en kennt mich ja kein Mensch,“ antwortete Eisenhut.

Grau l�chelte. „Lieber Freund,“ sagte er, „daran m�ssen Sie sich ja gew�hnen, nicht mehr gekannt zu sein. Sie m�ssen es lernen Ihr Leben zu leben, ohne da� Sie ein Schauspieler sind, der sich von andern bewundern l��t. Wenn Sie einen Ring am Finger tragen, so m�ssen Sie ihn nicht tragen f�r die andern, sondern weil es Sie freut Ihre Hand geschm�ckt zu sehen. Und wenn Sie gl�cklich sind und heiter und tanzen und singen, so m�ssen Sie nicht tanzen und singen, weil andere es sehen und h�ren und denken werden: Er tanzt, er singt, er ist guter Dinge. Sie m�ssen es tun f�r sich allein.“

Eisenhut sch�ttelte den Kopf. Er ging herum, er sch�ttelte den Kopf. Worte, Worte, was sollten ihm all diese Worte n�tzen, frage er? Diese H�lle von Leben —. Aber er war schon hoffnungsvoller gestimmt.

„Ja,“ sagte Grau, „es ist wahr, Sie haben die H�lle in sich und Sie sind sehr ungl�cklich. Ich wei� es und ich w�rde Ihnen gerne etwas abnehmen, k�nnte ich nur. Aber haben Sie nichts anderes als diese H�lle in sich, nichts anderes sonst?“

Grau griff sich an die Wangen. Er f�hlte pl�tzlich, da� er Fieber hatte.

Eisenhut schlich an den W�nden entlang und sch�ttelte den Kopf. Hinter ihm ging das H�ndchen; doch da Eisenhut sehr langsam dahin schl�rfte, hatte es immer Zeit, sich nach jedem dritten Schritte seines Herrn zu setzen. Dann blickte es auf Grau und spitzte die Ohren. Eisenhut sch�ttelte den Kopf.

„Nein!“

Grau lachte leise. „Das ist ja nicht wahr!“ sagte er, „Sie haben ja selbst — ach, haben Sie nicht gesagt, Sie freuen sich, wenn die Sonne scheint, Sie freuen sich, wenn Sie jene Dame im Walde treffen? Sie haben sch�ne Tr�ume, wie das Leben sein k�nnte, Sie haben gewi� nicht nur h��liche Tr�ume.“

Eisenhut lachte. Er tr�ume oft, er fliege, es gehe dahin �ber die Lande — haha!

„Sehen Sie! Und auch wenn Sie wachen, haben Sie sch�ne Tr�ume. Es gibt doch noch so viel Sch�nes f�r Sie!“

„Nein, nichts mehr.“

„Heute sehen Sie ja alles schwarz, Eisenhut. Aber Sie freuen sich doch �ber viele Dinge — wenn Sie zum Beispiel ein sch�nes Pferd sehen oder eine dicke hohe Eiche im Walde —“

„Ja, ja.“

„Sehen Sie! Ich k�nnte wohl stundenlang — stundenlang Dinge nennen, die Sie lieben. Es ist ja lange nicht so schlimm wie Sie es heute sehen, mein Freund, lange nicht so schlimm. Haben Sie denn keine Sehnsucht mehr? Kein Verlangen nach Gl�ck, Freude, Friede? Wie?“

„Ja, doch!“

„Aber wer dieses Verlangen noch hat, der w�nscht ja noch zu leben und das Leben ist ihm noch kostbar. Die Menschen, mein Freund, die mit dem Leben fertig sind, w�nschen sich nichts mehr. Und nun mu� ich Ihnen doch Ratschl�ge geben, obschon es mir anma�end erscheint. Ich meine, vielleicht k�nnte ich Ihnen sagen, wie Sie es zu beginnen h�tten — f�r den Anfang wenigstens — was meines Erachtens gut f�r Sie w�re. Sie brauchen das ja nicht zu befolgen — es ist ja nur meine Ansicht, die Ansicht eines jungen und unerfahrenen Menschen —“

„Ich befolge alles, alles!“ sagte Eisenhut. Er �ffnete die Tischschublade und nahm eine Handvoll Zigarren heraus, die er Grau reichte.

„Danke, danke!“ sagte Grau. „Als ob Sie w��ten, wie leidenschaftlich ich rauche. Nun h�ren Sie —“

Grau entwickelte ihm seinen Plan. Vorerst m�sse er seine Nerven kurieren, seine Gesundheit kr�ftigen. „Sehen Sie mich an, Eisenhut,“ sagte Grau und fuhr erst fort als Eisenhut stehen blieb und ihn ansah. „H�ren Sie wohl! Sie m�ssen ein neues Leben beginnen, und jeder Mensch mu� das von Zeit zu Zeit. Von Grund auf neu! In jeder Beziehung! Jeden Tag um sechs Uhr heraus, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends harte k�rperliche Arbeit in den Steinbr�chen, wie ein Tagl�hner — einen Monat lang. — Wie? — Ja, das m�ssen Sie! Einen Monat lang! Punktum, dar�ber wird nicht mehr gesprochen. Sie m�ssen sich den Schlaf erarbeiten. Danach, zwei Monate lang jeden Vormittag von sechs Uhr bis zw�lf Uhr harte Tagl�hnerarbeit in den Steinbr�chen, nachmittags frei. Ich will Ihnen B�cher geben, B�cher empfehlen. Ich will Ihnen gern etwas behilflich sein. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen regelrechte Stunden, nat�rlich kann ich es nicht ganz umsonst tun. Ich verlange f�r die Stunde eine Mark. Das ist Ihnen nicht zuviel? Sch�n! Sobald Sie etwas sicherer sind, fort auf Reisen.“

„Wohin?“

„Das alles wird sich finden. Wir werden alles noch genau besprechen. Ich deute Ihnen vorl�ufig alles nur an.“ Grau l�chelte, w�hrend er Eisenhut immerzu ansah.

„Ich werde alles tun — tun — tun — alles!“ sagte Eisenhut.

„Gut. Wir werden auch zu besprechen haben, wie Sie sich einzurichten haben. Wir werden Ihre Wohnung h�bsch herrichten und ich werde h�ufig zu Ihnen kommen. Wir werden uns gut unterhalten. Am besten wird es sein, wenn Sie vorl�ufig nicht mehr mit Professor Richter und Konsorten verkehren. Die passen nicht zu Ihnen. Ah, sehen Sie doch, jetzt funkelt die Sonne auf den D�chern. Bist du m�de?“

„Nein, nicht im geringsten.“

„Gut, dann lasse deinen Schlitten einspannen und wir fahren hinaus in irgend ein Dorf und fr�hst�cken da. Bist du einverstanden damit?“

„Wie Sie w�nschen, ich bin dabei.“

Grau lachte. „H�rst du nicht, da� ich Du sage, wie? Freilich, es ist unversch�mt, denn ich bin ja der J�ngere. Aber was k�mmern wir uns um solche H�flichkeitsregeln, haha, jetzt, da wir so gute Freunde geworden sind. Wenn du aber nicht willst —“

Eisenhut l�chelte und blinzelte. „Zigarren? Zigarren haben wir. Wir k�nnen gehen und den Kutscher wecken.“

Vielleicht ist nie in seinem Leben jemand gut gegen ihn gewesen, dachte Grau.

Sie fuhren hinaus in den Winter, der aufsteigenden Sonne entgegen, die Schellen klingelten am Schlitten —

— — — — — — — —

Von diesem Ausflug kehrte Grau krank zur�ck. Er hatte sich in der Nacht vorher erk�ltet und fiel in ein heftiges Fieber, das mehrere Wochen lang anhielt. Eisenhut pflegte ihn wie ein Bruder.

Dritter Teil

Erstes Kapitel

Grau lag in leichtem Fieber und dachte �ber die Menschen nach. Diese Zwietracht in vielen Familien! Daran dachte er. Ein geistiges Band fehlte. Man sollte in den Abenden ein gutes Buch vorlesen. Geld? Nein. Es gibt B�cher zu l�cherlichen Preisen. Der Sohn oder die Tochter liest vor, die andern arbeiten nebenbei — es ist ein Genu�! Gewi�, er mu�te eine Brosch�re schreiben: Wegweiser —

Grau erwachte.

Da standen die Fenster offen und die Luft war lau und w�rzig. Die B�ume gr�nten. Es war Fr�hling geworden.

Pl�tzlich erschien Adeles sch�nes Bild in seinem Geiste. Er l�chelte und stand auf.

Die Stadt hatte sich vollst�ndig ver�ndert, gr�ne Wipfel und bl�hende B�ume ragten �ber H�user und Mauern. Man blickte in eine Gasse hinein und sah einen kleinen bl�henden Kirschbaum leuchten, man blickte durch einen Torweg und sah zu seiner �berraschung ein ganzes Beet von Tulpen brennen. An den H�usern und Erkern kletterte allerlei Rankenwerk empor, als wolle der Fr�hling die kleine alte Stadt in ein gr�nes Netz einspinnen.

Der Flu� str�mte rasch und jung dahin und die Schiffe und F�hren zogen an der Stadt vor�ber. Ein kleiner Kettendampfer heulte und schleppte eine Reihe flacher Frachtschiffe hinter sich her. Am letzten Schiffe schaukelte ein kleines Boot und darin sa� ein Mann mit einer Pfeife im Munde. Im Schaukeln des Bootes war der Fr�hling und auch in der Art, wie der Mann im Nachen sa� und auch im lustigen Rauche der Pfeife war der Fr�hling.

Die Ebene gl�nzte in der Sonne, die D�cher ferner D�rfer leuchteten; Burgen auf den H�hen und weite gr�ne W�lder.

Grau sa� in seinem Garten, noch geschw�cht und m�de von dem langen Krankenlager und l�chelte. Seine Seele in diesen Wochen der Genesung war empf�nglicher, fr�hlicher noch als sonst und voller Dankbarkeit.

Er lauschte, blickte umher und wunderte sich. Sein Herz klopfte. Zuweilen kam das Fieber zur�ck, ein leises, fast angenehmes Fieber, dann empfand er alles wie einen Traum. Eine wunderbare Frische stieg aus dem jungen Rasen und wehte von Adeles Park her, alles war so frisch und neu. Die V�gel zwitscherten in allen Wipfeln und zuweilen vereinigte sich das Klingeln all dieser kleinen Vogelstimmen zu einem einzigen schwingenden Ton: Der Fr�hling stand auf gr�ner Wiese und blies auf seiner Fl�te einen bet�renden Schmeichelsang.

Graus Blick glitt �ber die Stadt hinweg bis zu den kleinen D�rfern, die in der Ferne lagen. Da standen H�user, vor den H�usern lagen G�rten. In den G�rten wuchsen Blumen, unter den Hecken Veilchen, auf den H�ngen Schl�sselblumen. Die blauen H�henz�ge am Himmelsrande waren gr�n, hinter ihnen dehnte sich gr�nes Land. Gr�n, gr�n — die ganze Erde war nichts als eine gr�ne Insel, die im �thermeere schwamm.

Im Tale arbeiteten Leute auf den Feldern, die Erde zu bestellen. Bei der gro�en Steinbr�cke wimmelte es von Arbeitern, die einen neuen Bahndamm aufwarfen. Schaufeln und Picken blitzten in der Sonne. Auf einem Neubau kletterten die Zimmerleute im Dachstuhl und h�mmerten, auf der Landstra�e knarrten Wagen mit Steinen, die zum Ausbessern der Wege bestimmt waren.

War es nicht sch�n hier zu sitzen und zu sehen, wie der Mensch sich seine Wohnst�tte bereitete?

Und Grau dachte daran wie klein die Erde vordem war. Eine flache Insel von einem Meere umbraust, �ber ihr der Himmel als Decke. So klein war die Erde und so klein war die Welt. Aber die Erde sprach: Entdecke mich! Und der Mensch sp�hte aus und die Erde wuchs. Die Erde ruhte nicht, und fl�sterte und fl�sterte und pl�tzlich stand ein Mensch auf, einer von den Schlaflosen, und sagte: Nach Ost und West, Nord und S�d kannst du wandern, die Erde hat kein Ende, sie ist ein Ball, um den Sonne, Mond und Sterne kreisen. Aber die Erde ruhte nicht, sie fl�sterte und fl�sterte und ein Mann erwachte in der Nacht und erschrak und sagte: Die Erde steht nicht still, sie bewegt sich! Und fand keinen Schlaf mehr. Die Erde wuchs und die Welt wuchs. Die Gestirne r�ckten auseinander, in erschreckende Fernen r�ckten sie, aber sie h�rten nicht auf, den Menschen anzustarren und er ersann Mittel ihnen bis in die fernste Ferne zu folgen. Und mit jedem Tage w�chst die Welt. Der Astronom schreibt die unfa�bare Ziffer nieder, in jeder Nacht starren hundert Rohre in den Raum, sp�hen und suchen — und morgen wird eine Depesche �ber die L�nder fliegen: Die Welt ist gewachsen, abermals ist sie gr��er geworden!

Und mit jedem Tage w�chst die Erde. Die Pioniere sind an der Arbeit. Wenn jener Mann zur�ckkehrt, der jetzt den Nachen durch den fernen Schilfwald st��t, wenn das Schiff im Norden nicht vom Eise zerdr�ckt wird: Sieg! Die Erde ist gewachsen, sie ist gr��er geworden! Erobere mich, spricht die Erde, ich bin dein!

Grau l�chelte. Wahrhaftig, dachte er ergriffen, ich liebe den Menschen, den Entdecker, den Eroberer, den Pionier, den Rastlosen!

Und er sah zu, wie die Menschen im Tale arbeiteten und Schaufeln und Picken triumphierend in der Sonne blitzten.

Niemals hatte sich Grau reicher gef�hlt als in diesem Fr�hling, niemals empfand er st�rker die Wunder der Welt und verwebte er sich inniger mit ihnen. Unausgesetzt durchschauerte ihn das Gef�hl lebendig zu sein, selbst in den N�chten. Er erwachte oft und h�rte sein Herz pochen und Freude erf�llte ihn und er dachte: Und morgen und �bermorgen und jeden Morgen beginnt ein neuer Tag.

Jedes kleinste Ding bekam Sinn und Beziehung. Das Leben war wie das Buch des Meisters, wo man es �ffnet, Wahrheit, Sch�nheit, tiefes Gleichnis und tiefes Geheimnis — aber was ist das Buch des Meisters anders denn ein Gleichnis des Lebens?

Die Sonne ging unter und ein leiser Wind trug Duft und W�rme �ber die Stadt und ber�hrte Graus Wangen. Grau err�tete und wu�te nicht warum. Er blickt sich um, ob niemand seine sonderbare Erregung beobachtet habe. Dann ging er zur�ck in sein Haus.

Selbst der Wind, dachte er, wie kostbar ist er? Ohne ihn w�re das Leben nicht das Leben und nicht so reich wie es ist. Der Wind und der Sturm, die Morgensonne und die Nachtfrische, die warmen Regentropfen und der Hagelschauer — sie alle erwecken ein geheimnisvolles Leben in uns, wir atmen, es rieselt in uns, es erf�llt uns, wir erschrecken, erschauern: Das ist das Leben.

Zweites Kapitel

Die Wiese um Susannas H�uschen wurde gr�n, im Vorg�rtchen platzten die Knospen. In all der Sonne sah das Haus freundlich und h�bsch aus. Am Fenster sah man vom Morgen bis zum Abend ein kleines gelbes Gesicht.

Susanna sa� den ganzen Tag am Fenster und l�chelte.

Sie l�chelte, als das erste Tr�ppchen V�gel �ber den Himmel steuerte und der Tauwind die Pappeln auf der Br�cke sch�ttelte. Der Schnee sank in den Boden und das Eis zerging, sie l�chelte. Es gr�nte, �ber Nacht regnete es gr�ne Flocken �ber die Pappeln auf der Br�cke, an der Landstra�e stellte der Fr�hling eine ganze Postenkette bl�hender B�ume auf. Susanna l�chelte.

Nun konnte man die Fenster �ffnen und Susanna trank die Luft, erschauerte und wurde bleich. F�hlst du? sagte sie und griff mit der Hand in die Luft, als greife sie etwas: Das ist die Luft!

Dann sah sie zu wie das Gras wuchs und die Blumen und sie bebte, wie wenn all die Gr�ser, all die Blumen aus ihrem eigenen Herzen w�chsen. — Aber doch war ihr Herz nicht so wie sie es w�nschte:

„Geliebter, mein Geliebter und Freund, du G�tigster und Sch�nster von allen, ich liebe dich. Mein Geliebter und Freund, Gl�ck in dein Herz, h�re mich, du G�tiger mit den goldenen Augen, h�re mich und sprich. Wie ist mein Herz? Ich wei� es nicht. Ich habe in den B�chern gelesen und mir mein Herz aus den B�chern gesucht, aber so ist es nicht, nein. Es ist nicht, wie ich will, es ist anders. Ich liebe dich! Es ist sch�n, es ist Fr�hling, das Gras w�chst, die Blumen leuchten. Die Sonne liegt in meinem G�rtchen und ich danke ihr, da� sie auch an mein G�rtchen denkt, und ich sage mir, wollten sich doch die Schollen lockern und die Sonne hineinlassen, denn da unten will es auch W�rme haben. Ich danke der Luft, so s�� ist sie. Ich lache, wenn ein Vogel vor�berfliegt.“

„Aber doch, mein Herz ist nicht so, wie ich es will, es ist anders.“

„Ich habe geweint, ich weine so oft! Ich habe getr�umt, ich ginge in einer Wiese, schlank und sch�n und gesund und ich sang, ich erwachte und mu�te weinen. Soll ich es nicht sagen? Soll man dem, den man liebt, seine Schw�chen verh�llen, oder ist es ein Recht der Liebe, alles zu gestehen? Sprich! W�rdest du nicht du sein, ich w�rde schweigen, ich k�nnte dich ja trotzdem lieben, aber ich w�rde es nicht wagen, dir alles zu gestehen. Aber du verstehst mein Herz und es nennt dich Freund. Ich bin gl�cklich, so sehr! Ich habe dich, ich bin froh. Ja, das Gro�e ist gekommen, das Seltene ist gekommen, auf das ich so viele Jahre wartete, nun ist es ja doch gekommen, ich bin das gl�cklichste M�dchen der gr�nen Erde. Es ist ja gekommen das Seltene, da ich es nicht mehr glaubte und nicht mehr hoffte. Wie wunderlich ist das Leben! Nun ist es da. Ich habe gew�nscht, noch einmal das Gras zu sehen und die Blumen. Da ist das Gras und da sind die Blumen. Ich bin gl�cklich, sehr! Ich sage zu meinem Herzen: Hast du nicht ihn? Und hast du nicht auch den Fr�hling? Ja, sagt mein Herz, ich bin ja froh. Es ist ja froh, es ist ja voller Freude — aber es ist nicht so, wie ich es will. Es ist traurig zur gleichen Zeit, traurig, traurig und weint in mir. Gibt es solch ein Herz wieder auf der Welt? Es jauchzt und es weint in derselben Stunde. G�tiger Freund, sprich! Es ist ja nicht so, mein Herz, wie ich es gerne m�chte —“

„Eines wei� ich nun. Wenn du zu deinem Herzen sagst: Sei so, so, so! — es tut doch was es will, du kannst ihm nicht befehlen.“

„Kannst du zu deinem Herzen sagen: Sei nicht bange! Wenn es aber doch vor Angst zittert? Habe keine Furcht! Wenn es voller Angst ist? Denn die Angst qu�lt mich, die Angst. H�rst du, es pocht, es pocht �berall, mein Blut pocht, es pocht in meinen Fingern, es pocht in der Wand, der Decke. Dann schweigt es pl�tzlich und ich denke: Wollte es doch lieber wieder pochen! Das ist in den N�chten. Ich sage zu meinem Herzen: Sieh die Sterne, sieh den Himmel, f�hle die Nacht des Fr�hlings. Es gibt ja nichts, was ich mehr liebe als die Fr�hlingsnacht, sagt mein Herz — und vergeht vor Angst. F�hle wie die Erde schl�ft, sage ich, ein Kind, so tief und sch�n — aber die Angst qu�lt mich. Ist mein Leben vor�ber, vorbei, vorbei, gegangen, gegangen? Sage nein! Denn wie k�nnte mein Leben vor�ber sein, da es eben erst begann? Nein, nein, nein! Sage nein! mein Geliebter.“

„Gibt es Menschen, die die Sprache der V�gel verstehen? Vielleicht verstehst du die Sprache der V�gel und es ist eines deiner vielen Geheimnisse, die dir das L�cheln geben, das man nie auf andern Menschenlippen sieht! Ich liege hier und die Stare sitzen auf dem Kobel, den du mit Herrn Eisenhut gezimmert hast, sie sitzen da, blicken zu mir her und unterhalten sich �ber mich. Sieh doch die Stare, wie sie gl�nzen! sage ich zu meinem Herzen, h�re sie, wie sie pfeifen — aber mein Herz lauscht starr vor Angst. Ist es denn m�glich, da� die Stare wissen, wie schlimm es um mich steht? Ist es denn m�glich, da� sie wissen, was in den n�chsten Wochen sein wird? Nein, nein, bei Gott, all das ist ja unm�glich! Und doch? Es mu�, es mu� unm�glich sein, denn es ist schrecklich, was die Stare sagen!“

„Es ist nicht das allein! W�re es nur das allein. Auch der Wind spricht, auch die Luft spricht. Der Wind fl�stert und ich verstehe wohl, was er sagt. Er sagt dasselbe wie die Stare. Ich sage zu meinem Herzen: F�hle, wie fein der Wind schmeichelt, aber mein Herz glaubt es nicht: H�re was er spricht, sagt mein Herz. Ach, alles, alles sagt das gleiche, es ist ja immer das gleiche, selbst die Uhr sagt es, wenn sie ticktackt. Und der Wind sagt es in jeder Nacht. Hast du den Wind schon gesehen? Nicht laufen, nicht im Laub, im Getreide. So, eine Person, eine Gestalt. Ich habe ihn gesehen wie er am Fenster stand, ein graues d�rres M�nnchen in weitem Mantel, voller Buckel und H�cker. Er hat einen H�cker auf der Brust, auf dem R�cken, seine Nase, seine Stirn, sein Ellbogen, alles ist ausgezogen zu H�ckern.“

„W�rest du hier! Wenn du hier bist, so hat die Angst keine Macht �ber mich.“

„Ich sehe Gestalten. Oft stehen viele Gestalten in meinem Zimmer und sie blicken mich alle mit ihren fahlen Augen an, ohne Gef�hl, ohne Interesse, gleichg�ltig. Sie regen sich nicht, sie sagen nichts, sie sagen auch nichts zu einander. Sie stehen und warten. Niemals k�nnte ich sagen, wo sie beginnen und wo sie aufh�ren, aber sie sind da. Merkw�rdig — ich f�rchte mich nicht vor ihnen. Es ist als m��ten sie dastehen. Ja, ich habe zu ihnen gesprochen. Ich habe allen Mut zusammengenommen und habe gesagt: Was wollt ihr von mir? Seid ihr dahingeschiedene Seelen, wollt ihr mich begleiten, wenn ich von der Erde fortgehe? Aber sie regten sich nicht, sie standen wie zuvor und sahen mich an. Ich weinte. Denn ich kam mir so verlassen vor.“

„Zuweilen geht auch ein Schritt ums Haus und es ist mir, als ob jemand am Fenster stehen bliebe. Einmal erwachte ich mitten in der Nacht, ich h�rte wie der Schritt anhielt und eine Stimme am Fenster hauchte: Bald —“

„Ich habe nachgedacht und ich fand es f�rchterlich. All die Knaben, die am Morgen �ber die Br�cke zur Schule gehen, all die Bauern, die Freundinnen, Klara und Maria und auch Adele — ja, auch sie! — und auch M�tterchen und auch du, mein Liebling — alle, alle! All die Menschen, die jetzt schlafen oder wachen, in einem Zuge fahren oder auf Schiffen segeln — alle werden eines Tages still liegen und sich nicht mehr regen. Auch du. Auch M�tterchen. Auch Adele. Und pl�tzlich stellte ich mir alle gestorben vor. Auch Adele. Sie sah so sch�n aus.“

„So sind meine N�chte und auch meine Tage sind so.“

„Es ist das Fieber, es ist die Angst —“

„So klein bin ich, so schwach. Ich bin gl�cklich! Glaube es mir. Adele sagte zu mir: Es mu� dich gl�cklich machen, da� er dich liebt. Ja, ja, ja! sagte ich und es ist wahr. Aber mein Herz ist ja nicht so, wie ich will. Ich hatte mir vorgenommen mutig zu sterben, denn es mu� ja sein, ich hatte mir vorgenommen zu l�cheln und zu sprechen: Es ist leicht und s�� zu sterben — aber nun — die Angst — die Angst!“

„Du aber sollst kommen und mir die Hand auf die Stirn legen, da� ich Ruhe habe!“

„Du kommst und mein Herz ist wie fr�her, da ich ein Kind und ohne Angst war. Ich h�re die V�gel, ich sehe die Wiesen, ich lache. Sage nein, nein, nein! Du sagst es ja immer, du bist die Hoffnung und du bringst Mut. Die �rzte wissen nichts, sagst du, ich glaube dir. Aber weshalb l�chelt der Arzt, wenn er mit mir spricht? Brauchte er denn zu l�cheln? Aber ich glaube dir, solange du bei mir bist, glaubt es mein Herz: Das macht mich ja gesund, wenn es mein Herz glaubt —“

„S�� ist es, an dich zu schreiben und ein Gl�ck. Ich denke, ich darf ihm schreiben. Es gehen viele in der Stra�e und sehen sich nach ihm um. Liebt er Maria, liebt er Klara, liebt er Adele? Er liebt mich. Ich kenne dich nicht. Du klagst nie, wie sollte ich dich also kennen. Es fiel mir erst jetzt auf, da� du nie mit einem Worte geklagt hast, du sprichst nie von dir. Die Leute sagen, du seist ein Tor, ich aber wei� wohl, da� Sie Leute t�richt sind. Oft erschrecke ich, denn ich kann dein Bild nicht festhalten, ich wei� nicht, wer du bist. Nur wenn du mir nahe bist, da wei� ich es, da frage ich nicht danach, da frage ich nichts, denn du bist gut: Komm und nimm die Angst von meinem Herzen — Susanna —“

Drittes Kapitel

Wie erstaunt war doch Susanna, als sich die T�re immer wieder und wieder �ffnete und immer mehr junge M�dchen eintraten. Es wollte gar kein Ende nehmen. Noch mehr erstaunt war M�tterchen, die sich fein hergerichtet hatte. Ihre Augen standen immer voller Tr�nen und sie verlegte zum Ungl�ck fortw�hrend die Brille. „Welche Freude — da� sie uns die Ehre schenken — an Susannas Ehrentage.“ — Vor der T�re hing ein Willkomm-Kranz — anders hatte es M�tterchen nicht getan. „Willkommen“ stand darauf und M�tterchen hatte darunter geschrieben: Zum Verlobungsfeste von Susanna Lenz. Sie war immer unterwegs, konnte sich keinen Augenblick niedersetzen, dazu hatte sie keine Zeit, immer flatterte ihre wei�e Sch�rze aus und ein.

Aber es nahm ja kein Ende. Auf der Br�cke gingen wiederum drei M�dchen. Grau hatte es gut verstanden, die jungen M�dchen an ihr Versprechen, zu einem kleinen Feste bei Susanna zu kommen, zu erinnern. Auch Fr�ulein Sperling kam, die „ewige Braut“. Grau hatte sie ganz besonders eingeladen. Sie kam mit Tr�nen in den Augen und l�chelnden Lippen und nickte immerzu ger�hrt mit dem Kopfe.

Die M�dchen kamen in hellen Fr�hlingskleidern und gl�nzenden Augen und roten Wangen, und alle waren guter Laune. Sie zwitscherten und kicherten soviel wie ein ganzer Wald voller V�gel, wenn die Sonne aufgeht. Sie brachten alle Blumen mit, ganz als ob sie es ausgemacht h�tten, und f�llten das Zimmer damit an. Susanna sa� in einem Garten. Auch Adele brachte Blumen, sie brachte einen gro�en Strau� von wei�en Rosen. Die Schwestern Sinding hatten einen Kranz aus Veilchen geflochten, den sie Susanna auf den Kopf setzten und alle M�dchen klatschten in die H�nde.

Au�er Eisenhut waren noch ein Onkel und eine Tante gekommen, aus Weinberg. Die Tante war klein und rund, eine Schwester M�tterchens, sie sprach kreischend und hielt sich den dicken Leib beim Lachen. Sie hatte ein kleines und ein gro�es glotzendes Auge, das alle vergn�gt anstarrte. Der Onkel kam im schwarzen Rock, mit einem hohen Zylinder. Er war Aushilfsbriefbote in Weinberg. Er war m�rrisch und sah �rgerlich aus. Er sprach kein Wort und bewegte auch keine Miene, aber die M�dchen k�mmerten sich nicht um ihn.

Das Zimmer war zu klein und Grau und Eisenhut zerlegten M�tterchens Bett und schafften es in die K�che. Aber als immer mehr G�ste kamen, mu�te auch Susannas Bett hinausgeschafft werden. Die Gesellschaft nahm um den Tisch herum Platz auf St�hlen, B�nken, Hockern, Koffern. Endlich war alles in Ordnung und das Fest konnte beginnen.

Es begann. Es begann mit Kaffee und Kuchen, Lachen und Gesang. Hin und her gingen die Worte und das Lachen ging rings im Kreise. Was man sprach, das h�tte niemand sp�ter sagen k�nnen, aber man unterhielt sich gut und ohne jede Pause.

Wie Susanna f�hlte! Sie sa� da mit strahlenden schwarzen Augen, inmitten all der Blumen, den Kranz auf den Haaren, inmitten all der jungen lachenden M�dchen. Sie blickte ringsum im Kreise, von einem Gesichte zum andern, lauschte, l�chelte. Sie blickte Grau strahlend an und legte den Kopf an seine Schulter.

Er dr�ckte ihr die Hand.

Als man die Weinflaschen entkorkte, stie� M�tterchen pl�tzlich einen Schrei aus: Ein b�rtiger, wilder Kopf erschien am Fenster und eine tiefe Ba�stimme sagte: „Guten Tag, allerseits!“ Es war der Lehrer.

M�tterchen rannte zur T�re hinaus und hing an seinem Halse.

Wie kam er doch hierher? „Ja, das ist ein Geheimnis, sozusagen! Ich habe eben ein Engagement von einem Theater gehabt — als K�nig Lear zu gastieren — habe aber die Lumperei im Stiche gelassen, als ich von dem Feste h�rte!“ Es war ihm gl�nzend gegangen auf seiner Wanderschaft, gl�nzend und f�rstlich wie immer hatte er gelebt. Auf einem Herrensitz, bei einem Baron hatte er f�rmliche Festtage gehabt, eine Stadt, besser gesagt eine Art Marktflecken, wollte ihn zum B�rgermeister haben. Als ob das so einfach w�re —!

Ja, trotzdem er in zerrissenen Kleidern daher kam und eine bedenkliche Schramme an der Stirne hatte, war es ihm nie so gut gegangen, niemals hatten ihn seine Freunde so f�rstlich aufgenommen. Hahaha!

Nun gab es leider einen kleinen Zwischenfall. Der Aushilfsbriefbote n�mlich tat, als sehe er nicht, als Lenz ihm die Hand zum Gru�e hinstreckte.

„Mein Name ist Pracht!“ sagte er. „Ich habe nie das Vergn�gen gehabt, Sie zu kennen.“

„Oho! Du kennst mich nicht! Seht an! Mein Schwager! Seht an. Hier ist meine Hand!“

Aber Herr Pracht kannte ihn nicht.

Lenz streckte ihm die Hand hin.

„Genug, genug!“ sagte er und lachte herzlich. „Hier ist meine Hand! Frieden wollen wir schlie�en.“

Nein, Herr Pracht kannte Leute seines Schlages nicht. H�tte er gewu�t —

„Unsinn!“ sagte Lenz und lachte. „Ich stelle mich also vor, Lenz ist mein Name, Herr Pracht!“

Herr Pracht lehnte ab. Er bedaure.

„Gut!“ sagte Lenz und lachte. „Die Herrschaften haben gesehen, da� ich diesen Herrn Pracht hier, diesen pr�chtigen Herrn ein Dutzendmal meine Hand hinstreckte und meine Gastfreundschaft anbot. Herr Pracht zieht es vor ins Freie zu gehen. Darf ich bitten, Herr Pracht!“

Lenz nahm den Aushilfsbrieftr�ger am Genick, f�hrte ihn hinaus durch den Garten, er �ffnete ihm h�flich die T�re und gab ihm einen Schwung, da� Herr Pracht in die Wiese flog und sein hoher Zylinder in das Gras kollerte.

Dann kam Lenz herein, lachte, rieb sich die H�nde und bat die Gesellschaft wegen der kleinen St�rung um Entschuldigung.

Er sprach und sprach, stand auf und sang, das Glas in der Hand, mit herrlicher Ba�stimme ein Lied: Im tiefen Keller sitz’ ich hier. — Niemand konnte wie er im tiefen Keller sitzen, da war der Modergeruch des Kellers, der Widerhall riesiger F�sser — alles. Niemand konnte wie er den Wein im Glase anl�cheln, mit einem verliebten g�nnerhaften L�cheln, niemand konnte wie er mit solch k�niglicher Geste das Glas erheben.

Hierauf erz�hlte er eine absolut unglaubliche Geschichte von zehn Schwestern mit eisernen Nasen — sie machten dem Vater Stiefel aus Eisen und sandten ihn nach Freiern aus — eine Hexe vollst�ndig aus Eisen — niemand k�nnte diese Geschichte wiedererz�hlen. Die Gesellschaft lachte herzlich und der unangenehme Zwischenfall war vollst�ndig vergessen. Die M�dchen tranken und ihre Wangen wurden r�ter, ihre Augen gl�nzender. Sie sangen. Sie sangen alle Lieder, die sie kannten: Am Brunnen vor dem Tore — Als ich noch im Fl�gelkleide — Der Mai ist gekommen — M�tterchen h�rte and�chtig zu. Als die Fr�hlichkeit den H�hepunkt erreicht hatte, sangen sie: Ich wei� nicht was soll es bedeuten —

Auch die „ewige Braut“ f�hlte sich zu Hause unter den jungen M�dchen, sie sang indem sie den blondwei�en Kopf hin und her auf den Schultern wiegte und man h�rte sie stets noch die letzte Silbe hinausziehen, wenn alle schon zu Ende waren.

Dann lachte sie.

Eisenhut sang nicht, aber er l�chelte.

„Singen Sie doch mit, Herr Eisenhut!“ rief Adele und sah ihn an. Eisenhut kam in Verlegenheit. „Ich habe Ihnen seinerzeit auf dem Balle so sehr unrecht getan,“ fuhr Adele laut fort, da� alle es h�ren mu�ten, „vergeben Sie mir!“

Eisenhut sagte: „Ach, das ist ja — haha — schon — so lange her — wie?“ Sp�ter erbot er sich ganz von selbst, die Kosten von Susannas Aufenthalt im S�den zu bezahlen, im Falle sie reisen sollte. Er fl�sterte es Grau ins Ohr.

Es ging fr�hlich in dem kleinen H�uschen her und als die Sonne unterging blendete sie all den jungen M�dchen ins Gesicht. All die singenden Lippen und strahlenden Augen gl�nzten und die Z�hne der jungen M�dchen blitzten.

Susanna l�chelte und w�hrend sie l�chelte, schlief sie ein.

Die Gesellschaft schlich sich davon. M�tterchen steckte Grau ein kleines Paketchen in die Tasche. „Nimm!“ sagte sie geheimnisvoll. „Wie soll ich dir doch danken? Ein solch herrlicher Tag! F�r mich und Susanna! Wie gl�cklich sie war!“

Viertes Kapitel

In den H�usern z�ndete man die Lampen an und die Glocken l�uteten den Abend ein, als die Gesellschaft in die Stadt eintrat. In den Stra�en war es schon auffallend dunkel und merkw�rdig warm. Kinder l�rmten und die Leute standen vor den H�usern um die erfrischende duftende Luft zu genie�en. Man h�rte Stimmen in den noch dunkeln Zimmern, Worte, die gerufen wurden, die Familie des Schl�chtermeisters Keim war um eine Talgkerze versammelt und nahm das Abendessen ein.

Am Marktplatze ging die Gesellschaft unter vielem L�rm und fr�hlichem Lachen auseinander.

Grau und Adele gingen miteinander. Sie hatten den gleichen Weg.

„Wir haben ja den gleichen Weg!“ sagte Adele und sie sahen einander an und nickten. Sie waren beide beklommen und stiegen schweigend die Stufen hinauf. �ber die Mauer des Friedhofes und aus Eisenhuts Garten hingen Zweige und Bl�ten, so da� sie durch eine Gasse von Bl�ten und Duft gingen. Es war schw�l hier und d�mmerig. Adele stand still und sog den Duft ein. „Es ist Jasmin.“

„Ja, es ist Jasmin!“ sagte Grau und wieder begegneten sich ihre Blicke.

Oben war es k�hler. Sie atmeten auf.

Adeles Blicke gingen �ber die Stadt hin, in der es mehr bl�hende B�ume als H�user gab. Aus dem Dunst der D�mmerung blinzelten Lichter und auf einem Dache lag ein fahler goldener Ton. Eisenhuts Garten war eine einzige lange Woge von Bl�ten, die gegen die H�he ansch�umte. Adele sch�ttelte den Kopf und deutete auf Eisenhuts Gartenmauer.

„Die Tafeln,“ sagte sie, „die Tafeln sind verschwunden. Vor den Hunden wird gewarnt, Vorsicht Selbstsch�sse — Sie erinnern sich? Was ist doch mit Herrn Eisenhut vorgegangen? So artig und nett, wie er heute war! Was mu�ten Sie sich doch denken, als ich ihn auf dem Liederkranzball so schlecht behandelte?“

„Es ist wahr, Sie waren grausam gegen ihn.“

„Aber warum doch? Warum qu�lte ich ihn denn? Ich hatte zu viel Sekt getrunken und pl�tzlich kam es �ber mich. So h��lich war ich an jenem Abend. Und Eisenhut qu�lte ich, weil ich mich ihm gegen�ber schuldig f�hlte. Freilich, er erinnerte mich auch zu oft daran. Ich habe einmal schlecht gegen ihn gehandelt und er hat mir doch einen gro�en Dienst erwiesen — er lieh mir zehntausend Mark und wollte nicht einmal einen Schuldschein haben — aber ich will gar nicht davon sprechen. Ich habe auch noch andre h��liche Bemerkungen gemacht.“ Sie sah Grau pr�fend an.

„Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was an jenem Abend gesprochen wurde,“ sagte Grau.

„Das ist gut,“ fuhr Adele fort, sie stockte. „Haben Sie denn Besuch, Herr Grau? Es sitzt jemand auf Ihrer Treppe,“ fragte sie.

Vor dem kleinen Hause Graus sa� eine dunkle Gestalt und rauchte Pfeife. Es war ein kleiner alter Mann. Er erhob sich und machte eine Verbeugung.

„Ich rauche Ihre Pfeife, Herr Grau, mit Ihrer Erlaubnis,“ sagte er.

„Es ist ein alter Handwerksbursche,“ sagte Grau, „der vorl�ufig hier wohnt. Er sa� eines Tages auf meiner Treppe, abends, als ich heim kam, fand ich ihn da. Er war krank und hatte Fieber. Man hatte ihm die Aufnahme in der Herberge verweigert, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich konnte ihm doch nicht gut ein Obdach verweigern, zumal er Fieber hatte, nicht wahr? �brigens st�rt er mich nicht, ich habe ja so viel Raum.“

„Wie lange wohnt er schon hier?“

„Drei Wochen. Warum?“

„Ich meine nur. Ich habe geh�rt, Sie haben Ihr Bett verschenkt und behelfen sich selbst mit einem Strohsack?“

Grau l�chelte. „Eine merkw�rdige Stadt!“ sagte er. Sonst nichts.

„Eine Dame hat es erz�hlt. Das Bett geh�rt ja zum Pfarrhause, es geh�rt nicht Ihnen?“

„Ich werde ein neues Bett kaufen,“ sagte Grau. „Sagen Sie der Dame, sie k�nne ganz unbesorgt sein. Ich habe das Bett hergeliehen, einer armen W�chnerin. Ja, mein Gott, ich kann doch da nicht erst lange fragen, wem das Bett geh�rt? Eine ganz merkw�rdige Stadt!“ — Adele lachte leise.

Sie gingen schweigend an der Parkmauer entlang bis zum Gitter. Adele blickte hinein. Im Hause war ein Fl�gel beleuchtet und man h�rte ein Klavier.

„Wir haben Gesellschaft,“ sagte sie, „die Offiziere von Weinberg.“ Sie sah zu den hellen Fenstern hinauf und lauschte. „Es ist Mama, die spielt.“ Sie blickte in den weiten Park hinein, dahin wo er ganz dunkel lag, und sch�ttelte den Kopf. Sie fr�stelte. Sie blickte Grau lange an. Dann sagte sie mit einem Blick auf die hellen Fenster: „Ich habe keine Lust. Kommen Sie!“

Sie gingen weiter, den Weg entlang, der in den Wald f�hrte. Es war ein Kiesweg und man sah ihn weit hinein in den Wald flie�en, obgleich es hier ganz dunkel war. Zu ihren H�upten schl�ngelte sich eine schmale blaue Stra�e des Himmels und ein fr�her Stern wanderte darauf. Bald versank jeder Laut hinter ihnen und sie waren allein.

Zuerst h�rten sie ihre Schritte auf dem Kies, aber das Ohr gew�hnte sich daran und lauschte auf die tiefe Ruhe des Waldes.

„Welcher Friede, f�hlen Sie!“ sagte Grau leise.

„Ja, hier ist Friede!“ sagte Adele, deren Gesicht in der Dunkelheit zu leuchten anfing. Sie stand still und wandte die Augen auf Grau. Er sah ihre Augen, so hell waren sie. „Horchen Sie! H�ren Sie das Klavier nicht mehr?“

„Nein.“

„Es ist Mama, die spielt. Ich h�re es jetzt auch nicht mehr. Da sitzt sie nun, meine kleine Mama und spielt und wartet auf mich. Denn sie tut ja nichts andres. Sie wartet und die Herren lachen und plaudern. Sie sagt zu Konrad: Konrad, wenn meine Tochter kommt, melden Sie es mir sofort. Sie wartet und wird immer nerv�ser. Ich aber komme nicht.“

„Sollten Sie nicht umkehren?“ fragte Grau.

Adele sch�ttelte den Kopf. „Nein,“ sagte sie, „ich habe keine Lust. Ja, f�hlen Sie doch den Frieden hier, Sie haben recht, wir wollen den Frieden hier f�hlen. Wie es riecht! Als ob Sie Rinde absch�lten. Haben Sie viel Frieden in sich? Ich nicht, nein, ich w�rde l�gen, w�rde ich es behaupten. — Das hei�t, es ist ja nicht so schlimm,“ fuhr sie mit freierer Stimme fort, „es ist nur der Fr�hling, weil alles so sch�n ist und die jungen M�dchen heute lachten so viel.“

Der Kiesweg war zu Ende. Sie gingen in einem Walde hoher Fichten. Der Boden war glatt von Nadeln und Moos und es roch hier nach Harz und Wurzeln.

Grau l�chelte, und als ob Adele sein L�cheln gef�hlt habe, blickte sie zu ihm her. Er sagte: „Wir gehen wie im Werke einer gro�en Orgel, zwischen all den schlanken Pfeifen. Als der Geist der Orgel gehen wir hier.“

Er sah, da� Adele l�chelte; ihre hellen Augen gl�nzten.

„Warum sprechen Sie so eigent�mlich?“ fragte sie.

„Sprach ich denn eigent�mlich?“

„Ja, Ihre Stimme klang ganz ver�ndert.“

Adele blickte zu den schwarzen phantastischen Wipfeln empor, die regungslos dastanden, wie aus Erz gegossen, und einen fahlen grauen Himmel sehen lie�en, als beginne es zu tagen. Sie l�chelte und sagte: „Aus unseren Orgelstunden ist leider nichts geworden. Sie erinnern sich, da� ich neulich bei Ihnen anfragte?“

Er stehe jederzeit zur Verf�gung.

„Ich danke Ihnen aufrichtig,“ sagte Adele, „aber der Baron sieht es nicht gerne, mein Br�utigam. Ich wei� nicht warum, aber er hat solche Angst, die Leute k�nnten �ber mich sprechen. Und dann hat er es noch nie geh�rt, da� eine Dame Orgel spielte. W��te er, da� ich mit Ihnen hier gehe, so h�tte er nichts dagegen, nein, aber er h�tte Angst, jemand k�nnte es sehen. Er h�lt viel auf Etikette. Er denkt in jeder Beziehung frei und vornehm, aber er will nicht, da� die Leute �ber mich sprechen. Sie haben ihn doch kennen gelernt? Sind Sie in ein Gespr�ch mit ihm gekommen?“

„Wir haben nur ein paar nichtssagende Worte gewechselt.“

„Schade!“ sagte Adele. „Ich w�nschte, Sie h�tten mit ihm gesprochen, er ist sehr gebildet und klug. Freilich ist er ja meist zu m�de zum Sprechen, er liebt es auch nicht, er ist schweigsam. Sie w�rden vielleicht den Eindruck bekommen, da� er etwas konventionell ist in seinen Anschauungen. Er k�nnte zum Beispiel nie einen Handwerksburschen beherbergen, niemals in seinem Leben — aber er ist —. Vor allem liebt er mich sehr, er liest mir jeden Wunsch von den Augen ab.“

„Sie werden ja nun bald heiraten?“

„Ja.“ Adele blickte auf den Weg. „Er, der Baron, dr�ngt sehr. Auch f�hlt sich Mama jetzt besser. Mir eilt es ja nicht so sehr — obgleich ich den Baron von ganzem Herzen liebe. Er besitzt eine Menge gro�er Eigenschaften, Sie w�rden das bald herausfinden — nun h�rt der Wald auf — lassen Sie uns nicht von diesen Dingen sprechen. Weshalb sehen Sie mich an?

Es ist ja langweilig f�r Sie, nur von meinen Angelegenheiten zu h�ren, Herr Grau. Deshalb. Wollen Sie mir nicht jenen Traum zu Ende erz�hlen, den Sie auf dem Ball begannen?“

„Gerne.“

Sie traten aus dem Walde und der R�cken der H�he lag im D�mmerlichte vor ihnen. Im Tale zogen Nebel und die Stadt war in Dunst geh�llt. Einige Lichter flimmerten, und wo der Bahnhof lag, blinzelte eine Reihe von Laternen wie der Leichenzug eines armen Mannes. Der Himmel war fahl und einige matte Sterne schwebten darin. Sie gingen am Rande des Waldes entlang und kamen an eine Bank. Adele macht Miene sich niederzusetzen, aber sie ging weiter.

„Jene Frau und ich,“ begann Grau, „gingen �ber die Heide, es war graue Nacht und ganz still. Es war fahl wie jetzt, nur da� es dem Morgen zuging, es war aber stiller als jetzt, obgleich hier kein Laut zu h�ren ist. Trotzdem war es stiller. Die Luft war k�hl, so wie sie ist, wenn der Morgen nahe ist, sie war gew�rzt von all den Kr�utern und Blumen, die in der Heide bl�hten. Wir gingen schweigend dahin, jene Frau, mit der Sie eine leichte �hnlichkeit haben, und ich. Alles war wie ein Schatten und wir selbst schienen Schatten zu sein, die in der grauen Nacht dahingingen. Es standen viele Sterne am Himmel, aber sie leuchteten nicht. Pl�tzlich begann es zu sausen �ber unseren H�uptern und ein Heer von Sternschnuppen, ein ungeheurer Regen von Sternschnuppen jagte blitzschnell �ber den Himmel und verschwand hinter dem Horizonte. Es waren Milliarden von Sternschnuppen, der ganze Himmel war fegendes Feuer. Ich erschrak, denn ich hatte niemals so etwas Sch�nes gesehen. Warte, sagte die Frau an meiner Seite — und wieder fegten Milliarden von Sternschnuppen �ber den Himmel. Diesmal dauerte es lange Zeit, endlos schien der goldene Regen zu sein. Endlich h�rte er auf und die letzten Funken verspr�hten am Horizonte. Mein Herz schlug heftig, ja, es schl�gt jetzt sogar bei der Erinnerung an dieses sch�ne Schauspiel, das sch�ner war, als alles was ich im Wachen und im Traum gesehen habe.“

„Es wurde wieder fahl wie zuvor und die Frau sah mich lange an. Wie gefiel es dir? sprach sie. Ich nickte, ich sagte nichts.“

„Und weiter?“ fragte Adele.

„Wir wanderten zusammen,“ fuhr Grau fort, „und es schien als wanderten wir eine endlose Zeit in der grauen Nacht, aber ich wanderte dahin und f�hlte mich gl�cklich an der Seite der sch�nen Frau. Die Frau sprach sehr g�tig zu mir, aber ich wei� nicht mehr, was sie sagte, doch ich erinnere mich, da� sie sehr g�tig zu mir sprach. Ich habe niemals im Leben diese G�te in der Stimme einer Frau geh�rt, aber im Traume h�rte ich sie, niemals hatte ich die sanfte Hand einer Frau auf meinem Arm gef�hlt, aber im Traume, da f�hlte ich es. So sanft war sie! Wir wanderten �ber die Heide und mein Herz war fr�hlich. Wir unterhielten uns in einer fremden Sprache, aber ich hatte keine Schwierigkeiten damit, ich verstand, ich sprach —“

„So ist es im Traume.“

„Ja. Der Boden war sanft unter unsern F��en und wir konnten unsere Schritte nicht h�ren — wie jetzt, da wir �ber die Wiesen gehen. In der Heide bl�hten Blumen. Es war eigent�mlich, ich sah sie erst jetzt, die ganze Heide war voll davon. Sie waren klein und niedrig und hatten Traumfarben. Sie waren Tulpen �hnlich, durchsichtige mattfarbene Kelche hatten sie. Aber in jedem dieser Kelche lebte — so schien es — ein Lichtgeisterchen, die Lichtgeisterchen umschwebten die Blumen, sie sa�en auf dem Bl�tenrande, sie wirbelten hin und her. Pl�tzlich sah ich die ganze Luft von solchen Geisterchen erf�llt, die auf und nieder schwebten. Sieh, sagte ich zur Frau, sieh, und ergriff den Arm der Frau und deutete in die Luft —“ Grau erz�hlte so eifrig, da� er die Hand auf Adeles Arm legte und in die Luft deutete, als sei sie erf�llt von Wesen, Adele sah ihn l�chelnd an — „sieh doch, sagte ich, sieh doch! Sie lachte leise. Ich habe vergessen, da� du ein Mensch bist, sagte sie, ein Blinder und Unwissender. Wei�t du denn nicht, da� jeder Hauch der Luft erf�llt ist von Wesen? — Wir mu�ten einen schmalen Bach �berschreiten und ich war sehr erstaunt zu sehen, da� sich �ber den Wellen des Baches Tausende von Quellengeisterchen tummelten, sie schwebten hin und her in der Bewegung der Wellen und �ber einem kleinen Strudel kreisten sie im Reigen, sie tanzten und lachten leise. Wie merkw�rdig, dachte ich, deshalb ist es so eigent�mlich ber�ckend auf das Rieseln eines Baches zu lauschen? Ich beugte mich herab und beobachtete die Geisterchen, sie sahen mich alle mit kleinen lichtgr�nen Augen an. Sie kamen mir so nahe, da� ich glaubte sie f�hlen zu m�ssen, ein Geisterchen streifte meine Wange, ein anderes sa� einen Augenblick lang auf meiner Lippe.“

„Pl�tzlich erschrak ich. Ein hohler, tiefer Ton, der stark tremulierte, ersch�tterte die Luft. Ich begann zu zittern, denn der Ton klang unheimlich, er klang bald in der Ferne, bald schrecklich nahe und ich zitterte, denn ich f�hlte mich allein inmitten der Nacht und inmitten einer Welt, in der ich ein Fremder war. Warum zitterst du denn? sagte die Frau an meiner Seite, aber sie sprach g�tig. Oh, ihr Menschen seid solch feige zitternde Gespenster, nichts wollt ihr verlieren, nicht einmal euer Leben. Wie l�cherlich erscheint ihr doch den andern Wesen.“

„Wir gingen und sprachen und die Frau an meiner Seite sagte mir, da� ich einen schwachen Kopf habe und nie denken gelernt h�tte, wie alle Menschen s�he ich nur die Oberfl�che der Dinge. Ihr geb�rdet euch alle �beraus klug und wichtig, sagte sie, und euer Gehirn ist doch so schwach, da� es bei jedem kleinen Gedanken explodiert und der Gedanke ist noch dazu falsch. Weshalb lebst du, wei�t du es? — Welche Angst hatte ich doch zu antworten! Ich lebe um meine Seele zur Harmonie und Sch�nheit zu entfalten, sagte ich. Die Frau l�chelte. Wie oberfl�chlich ist das doch! sagte sie. So lebe ich vielleicht, um meine Seele zur G�te, zur Liebe und Wahrheit und Gerechtigkeit zu erziehen? Sie l�chelte und sch�ttelte den Kopf. Das ist ja alles so nebens�chlich, sagte sie. Nun, sagte ich, ich lebe vielleicht um mich zu wundern? — Da fa�te sie meinen Arm und sagte: Verh�lle dein Gesicht! Ich tat es, ich sah wie sie rasch die H�nde auf das Gesicht legte und verging, als sterbe sie. Ein Hauch fuhr �ber die Heide und der leise Gesang der Geisterchen ringsum vereinigte sich zu einem einzigen Ton, der wie ein leises Seufzen klang. Ich versank in eine Art Schlaf und als ich erwachte, ging ich wieder neben der Frau in der grauen Nacht.“

„Ich sah keine Blumen mehr, die Heide war eine gew�hnliche Heide und ich erkannte die K�hle und den Geruch vom Anfange unserer Wanderung wieder. Es ist Zeit, da� ich gehe, sagte die Frau, der Sternschnuppenregen ist vor�ber. Leben Sie wohl. — Sie sprach wie eine Fremde.

Leben Sie wohl! sagte ich und zog den Hut.

Sie sah mich an und l�chelte eigent�mlich, sie stand ganz nahe.

Leben Sie wohl, wiederholte sie, Sie haben mich heute nicht wiedererkannt. Leben Sie wohl.

Leben Sie wohl.

Sie gab mir die Fingerspitzen der beiden H�nde und sah mich an. Leben Sie wohl, fl�sterte sie, bis wir uns wiedersehen!

Leben Sie wohl.

Sie l�chelte und sch�ttelte den Kopf. Sie wissen nicht, was ich denke? Nein? Leben Sie wohl. — Sie ging und wandte sich noch einmal zu mir um und bewegte die Lippen. Sie verschwand, ich wei� nicht wohin. Ich stand in der Heide und blickte ringsum. — Das ist der ganze Traum,“ schlo� Grau.

Adele blickte auf den Boden und l�chelte. Wie seltsam! Welch ein sch�ner Traum! „Vielleicht haben Sie im Traume viele wahre Dinge erblickt, die wir in Wirklichkeit nicht sehen k�nnen? Wie seltsam!“ Sie standen am Gitter des Parkes.

Nach einer Weile sagte sie: „Was hat jene Frau doch gemeint, als sie sagte: Sie wissen nicht, was ich denke?“

Grau l�chelte. „Wie kann ich es wissen?“

Adele sch�ttelte den Kopf und �ffnete das Gitter, indem sie r�ckw�rts ging. „Sie wissen es nicht? Vielleicht wollte sie, da� Sie fragen, wer sie sei, ob sie nicht mit Ihnen gehen solle? Irgend etwas. Oder vielleicht wollte sie, da� Sie sie zum Abschied k��ten?“ Adele l�chelte.

„Welch ein Gedanke!“ sagt Grau erstaunt und verwirrt.

Vielleicht habe sie das gedacht, vielleicht, man wisse es ja nicht, aber eine Frau war sie ja doch! Nicht wahr? „Ich mu� jetzt ebenfalls gehen, Herr Grau. Leben Sie wohl!“ Adele nickte.

Grau zog den Hut: „Leben Sie wohl, Fr�ulein von Hennenbach.“

Adele ging immer mehr r�ckw�rts, an das Gitter gelehnt.

„Leben Sie wohl,“ wiederholte sie und sie sahen einander lange an.

Grau schwindelte. „Gute Nacht und Dank f�r den Abend!“ sagte er mechanisch.

Adele wandte sich um und blickte �ber die Schulter zur�ck. „Leben Sie wohl — bis wir uns wiedersehen!“ sagte sie und Grau sah ihre schmalen Z�hne schimmern. Sie ging hinein in den dunkeln Park. — — — —

Grau sah sie gehen und ihr helles Kleid im Dunkel untertauchen. Unter der Lampe des Eingangs leuchtete es wieder auf und verschwand.

Er schlo� langsam das Gitter. Es konnte doch nicht die ganze Nacht hindurch offen stehen. Er blickte auf den Weg, wo sie gegangen war und sch�ttelte den Kopf: Sie wu�te ja nicht alles, ja, beim Himmel, sie wu�te ja nicht alles!

Wu�te sie denn, da� er wach lag und nur an sie dachte? In ihrem Garten stand ein bl�hender Apfelbaum und ihn liebte er am meisten von allen bl�henden B�umen im Lande.

Wu�te sie denn das?

Er sah sich immer wieder um und sah dieses Eisengitter an. Leben Sie wohl — bis wir uns wiedersehen! Hatte sie nicht die gleichen Worte gesprochen wie jene Frau im Traum?

Es rieselte im Laube, das Rieseln ging ringsum im Walde und die Gr�ser fl�sterten. Wie ein Schauer rann es �ber die Erde und dieser Schauer des Fr�hlings durchrieselte auch ihn. Pl�tzlich war alles von fahlem Lichte erf�llt und der Wald zitterte im bleichen Scheine des Mondes, der �ber die H�hen heraufstieg. Grau ging langsam dem Monde entgegen und das Licht durchflutete ihn wie einen Baum. Ist alles Traum, ist alles Wunder? dachte er. Ich selbst ein Traum im Traume der Welt? Etwas wie Bet�ubung befiel ihn, er hatte das Gef�hl, als ob er an einem Abgrund st�nde. Pl�tzlich roch er die Kr�uter wie in jenem Traume, derselbe Geruch war es und vor seinem innern Auge erschien jene seltsame Frau und fragte, wie damals in mildem Vorwurf: Hast du mich heute nicht wiedererkannt! Er schlo� die Augen, da sah er Adeles schmales Gesicht vor sich. Eine Stimme begann in ihm zu fl�stern. Sie fl�sterte Worte, die er nicht verstehen wollte. Lehne deinen Kopf an meine Schulter, fl�sterte sie. K�sse mich, k�sse mich tausendmal.

Grau wandte sich um und blickte auf Adeles Park.

„Ich werde ja schweigen,“ sagte er laut. Aber die Stimme ihn ihm fuhr fort zu fl�stern: K�sse mich, k�sse mich tausendmal —

Er lauschte und l�chelte. „Ja, ja!“ sagte er.

Er stand und wartete bis alle Lichter in Adeles Haus erloschen. Die Luft war feuchtwarm, duftend und so stark, da� ihm die Brust bei jedem Atemzuge weh tat. Er dachte an Adele und der Gedanke an ihre Sch�nheit schmerzte ihn. Das letzte Licht erlosch und er ging weiter. Erst gegen Morgen kam Grau nach Hause. Das Herz war ihm schwer von sch�nen Tr�umen. Als er sich auskleidete fiel jenes Paketchen aus seiner Tasche, das M�tterchen ihm zugesteckt hatte.

Er �ffnete es. Kleine gelbe Kinderschuhe waren darin.

F�nftes Kapitel

Der Himmel wurde h�her und blauer, die Wolken wei�er und schwebender, im Garten schrien die jungen Stare.

Susanna lag geduldig, ohne sich zu regen, denn sie sollte Kr�fte zur Reise sammeln. Ihre Augen gl�nzten in tiefer Schw�rze. Sie wurde sch�ner. Ihre Wangen f�llten sich, die gelbe Farbe ihres Gesichtes verschwand, sie sah bla� aus und niemals erschienen ihre Haare so schwarz und ihre Augen so gro�. Sie wurde sch�ner, alle waren �berrascht, die sie sahen.

Aber ihre Stimme verfiel. Sie konnte nicht mehr in ihrer hohen singenden Stimme sprechen. Sie sprach leise und heiser und war kaum zu verstehen.

Sie lag ruhig da und horchte auf das Gezwitscher und Pfeifen der Stare. Sie l�chelte, wenn die Starenmutter geflogen kam, eine Fliege im Schnabel, und all die kleinen gelben Schn�belchen der jungen Stare in dem runden Loch des Kobels erschienen und ein kreischendes ungeduldiges Geschrei erhoben.

„H�rst du?“ sagte sie leise und heiser. „Wie gl�cklich diese V�gelchen sind! H�tte ich es mir denn tr�umen lassen, da� ich noch einmal das Pfeifen der Stare h�ren werde? Ach, oft weine ich vor Freude, am Morgen, wenn das erste Zwitschern irgendwo fern zu h�ren ist. Ich liege hier und denke, wie herrlich, wie r�hrend ist es doch! Die Lerchen trillern, da ist es noch ganz grau auf den Feldern und die Stare kreischen und pfeifen. Dann f�rbt sich der Himmel und ich rieche das Gras und die B�che. Und ich kann es kaum erwarten bis es licht wird und ich das Gras sehen kann. Hast du die Knospen gesehen an meinen Rosenst�cken, ja? In ein paar Wochen, da wird alles bl�hen. Auch der Flieder. Wie ist doch sein Duft? Wie eine s��e und traurige Geschichte. K�nnte ich doch noch den Flieder bl�hen sehen und diese Luft einatmen, die dann sein wird! Diese Luft, die so schwer von Duft ist, da� sie sich kaum bewegen kann!“

Ihre Augen leuchteten und sie l�chelte.

Geduld, Geduld! s��e Susanna.

Es kamen Regentage und Susanna lag still. Sie hatte die Augen halb ge�ffnet, aber es schien als ob sie schlafe. Sie regte sich nicht, sie sprach kein Wort, lautlos und hastig arbeitete ihre kleine schmale Brust. Sie fieberte leicht und das Fieber legte einen Schleier um ihren Geist.

Aber sobald die Sonne die Wolken zerteilte, erwachte sie, sie �ffnete die Augen und ihr Geist war frei. Verdunkelte sich der Himmel wieder, so verdunkelte sich auch ihr Antlitz, ihre Augen erloschen, sie lag ohne Bewegung und ohne Wunsch.

Grau sa� immerfort an ihrem Bette. In der K�che sprach Lenz, fast ohne Pause. Es war ihm ganz einerlei mit wem er sprach und wovon, wenn er nur sprechen konnte. War er allein, so sprach er mit sich selbst: Da w�ren wir gl�cklich, alter Knabe, da w�ren wir gl�cklich, um Kohlen einzunehmen und den alten Kutter frisch zu lackieren. Noch ein paar Tage und wir stechen in das hohe Meer des Lebens hinaus — prosit! Ein schwarzer Panther in einer K�che — haha — bei H�hnern — hole mich der Teufel! Er erz�hlte sich selbst Geschichten, schmiedete Pl�ne und baute Luftschl�sser. Er kam selten ins Zimmer und immer nur auf einige Minuten, lachte, plauderte und streifte Susanna mit scheuen Blicken. H�ufig besuchte ihn Eisenhut, der gegenw�rtig einen kleinen R�ckfall hatte und schrecklich trank. Neulich waren ihm schon wieder die Kinder nachgelaufen. Er wich Grau aus.

Eines Tages verlangte Susanna Eisenhut zu sprechen. Eisenhut kam aus der K�che, mit ger�tetem unrasierten Gesichte, blinzelnd und in guter Laune, ein wenig unsicher in seinen Bewegungen. „Nun, wie geht es? Vorz�glich, nat�rlich, h�h� — wie zwei Turtelt�ubchen, ja —“

„Nein,“ sagte Susanna leise und heiser, „es geht nicht gut.“ Sie gab sich alle M�he zu sprechen, aber man h�rte kaum was sie sagte. „Setzen Sie sich hierher ans Bett, Herr Eisenhut. Ich m�chte mit Ihnen sprechen. Ganz nahe, ganz nahe. So, nun sind Sie nahe. Ach, Richard, mein Freund, du sollst dich einstweilen auf den Stuhl neben mich setzen. So, nun ist es gut. Ich wollte Ihnen danken, Herr Eisenhut!“

Eisenhut ertrug ihren Blick nicht. Er blinzelte, stammelte etwas; es sei doch nicht der Rede wert.

„Nein, viel, viel haben Sie getan, Herr Eisenhut!“ sagte Susanna und fa�te Eisenhuts Hand. „Viel Gutes haben Sie M�tterchen und mir erwiesen. Was w�re wohl aus uns geworden, wenn Sie nicht gewesen w�ren?“

Eisenhut legte das Gesicht in Falten, so da� es aussah, als beginne er zu weinen, aber er l�chelte. „Was habe ich denn getan? Alles in allem, nichts, gleich Null, das ist es, was ich getan habe. Also bitte recht sehr, behalten Sie den Dank f�r sich. Nein, lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe gedacht, dieses M�tterchen kann ich gut brauchen. Diese arme Frau hat nichts zu nagen und zu bei�en und wird alles f�r billiges Geld tun. So habe ich gerechnet, genau so. Ich habe M�tterchen drei�ig Mark gegeben und daf�r sollte sie meine Mutter pflegen und ern�hren. Das ist alles, was ich getan habe. Und dann habe ich zuletzt monatlich f�nfunddrei�ig Mark gegeben. Hier haben sie alles zusammen, fertig!“

Susanna l�chelte. „Aber die Wohnung? Sie vergessen ja ganz die Wohnung. Nun? Nein, Herr Eisenhut, Sie waren ja stets so g�tig. Es ist wahr, M�tterchen reichte nicht immer, dann mu�te sie Schulden machen, beim Kr�mer, beim Fleischer und beim B�cker. Und die Schulden wuchsen und wuchsen und M�tterchen verging vor Angst. Sagte ich zu M�tterchen: Sprich doch mit Herrn Eisenhut, er ist ja so gut. Ja, er ist so gut, das ist wahr, sagte M�tterchen und nahm all ihren Mut zusammen und sprach mit Ihnen. Ja, Sie wetterten und donnerten, aber eines Tages da lagen eben doch die zwanzig Mark auf dem K�chentisch und Sie haben kein Wort weiter gesagt, so sind Sie! So unendlich viel Gutes haben Sie uns erwiesen, Sie lieber Freund — ja, so nenne ich Sie — und M�tterchen spricht so oft von Ihnen und dankt Ihnen jeden Tag. Sie spricht nichts zu Ihnen, nein, das tut sie nicht, aber ihr ganzes Herz ist voll von Dank und sie geht hinaus um die T�rklinke abzureiben, wenn Sie kommen, damit Sie sich nicht die H�nde staubig machen.“

„Eisenhut!“ sagte die Ba�stimme des Lehrers an der K�chent�re; er klopfte ungeduldig und schob den b�rtigen Kopf herein. Die Gl�ser seien gew�rmt. Alles sei bereit, um das Fest zu feiern. Eben sei ihm auch ein Gedanke wie ein Blitz durch den Hirnsch�del gefahren, eine geniale Idee, die das Weltenbild total umforme —

„Sofort,“ sagte Eisenhut, „ich habe einige Worte mit Susanna zu sprechen.“

„Ja, wenn du mit Susanna sprichst, so kann ich warten, drei Tage und drei N�chte, ohne zu murren,“ sagte Lenz und zog sich zur�ck. Er begann einstweilen ein Lied zu brummen.

„Haben Sie mir alles gesagt, Susanna?“

Nein, es sei erst die Einleitung. „Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges. Das Allerwichtigste, das es f�r mich gibt, Herr Eisenhut. Sie k�nnen es nicht erraten?“

Eisenhut versank in tiefes Nachdenken und lauschte auf das Lied, das der Lehrer in der K�che brummte: Es war einmal ein K�nig, der hatt’ einen gro�en Floh —

„Ich habe in meinem ganzen Leben nichts erraten k�nnen,“ antwortete Eisenhut, der m�hsam seine Ungeduld verbarg.

„Es ist so schwer, es zu sagen!“ fl�sterte Susanna und streichelte Eisenhuts Hand. Sie streichelte die ganze Hand und dann jeden einzelnen Finger. „Nun?“ fragte sie und blickte ihn mit feuchten, pechschwarzen Augen an.

Nein, niemals k�nne er es erraten.

„Wir knicken und ersticken — doch gleich, wenn einer sticht —“ brummte Lenz in der K�che. „Bravo, bravo, das war sch�n! — So soll es jedem Floh ergehn!“

Susanna nahm Eisenhuts Hand in beide H�nde und liebkoste sie auf beiden Seiten. Es handele sich um M�tterchen. „Seien Sie gut zu M�tterchen,“ fl�sterte sie.

Eisenhut nickte.

Und Susanna fuhr fl�sternd fort: „M�tterchen darf es nie erfahren, da� ich Sie darum gebeten habe, und auch Sie m�ssen verzeihen, da� ich es tat, lieber, guter Herr Eisenhut. Aber Sie wissen ja, M�tterchen kann nicht sprechen, sie kann nicht bitten. Sie kann nur hungern, leiden und in ihre Sch�rze weinen. Und Sie, ach, auch Sie, Herr Eisenhut, Sie sind ja gut, aber Sie wissen gar nie, wo es einem fehlt und wie Sie ihm helfen k�nnten. Was soll aus M�tterchen werden, wenn Sie ihr nicht etwas helfen?“

Grau sagte leise: „M�tterchen soll es gut haben. Daf�r werden wir beide sorgen. Und du, sobald es besser geht —“

Das wisse sie, das beruhige sie. „Aber nun, wenn Herrn Eisenhuts Mutter stirbt — wir setzen den Fall, wolle sie noch recht lange leben, — ja — aber wir setzen den Fall — was dann?“ Sie habe nun gedacht, Herr Eisenhut habe ja doch ihre Reise nach dem S�den bezahlen wollen — das sei ja so fraglich, ob sie reise — ob er nicht das Geld vielleicht —

In der K�che brummte der Lehrer — ha! sie pfeift auf dem letzten Loch, als h�tte sie Lieb’ im Leibe. — Als h�tte sie Lieb’ im Leibe, wiederholte er im tiefsten Ba�.

Eisenhut versprach, M�tterchen eine Rente f�rs ganze Leben auszusetzen. „Hier, er ist Zeuge, Grau, ich habe es gesagt, morgen gehen wir zum Notar.“

Susanna nickte, sie zog Eisenhuts Hand an die Lippen und k��te sie inbr�nstig, wobei sie die Augen schlo�.

„Ja, nun ist alles gut!“ sagte sie und nickte und l�chelte. —

Die Freundinnen kamen und brachten gro�e Str�u�e von Blumen mit, s��e Weine und Kuchen. Sie kamen herein, jung und frisch und duftend, mit roten Lippen und den Schein der Sonne in den Augen. Sie l�chelten, sprachen mit ged�mpfter Stimme, aber sobald sie ein paar Minuten da waren, sprachen sie laut und lachten und erz�hlten wie sch�n es heute sei, Spazierg�nge, Tennis, Radpartien, eine Leiterwagenpartie sollte gemacht werden —

„Ja?“ Susanna lachte und hustete. „Viel Vergn�gen,“ sagte sie und lachte wieder und hustete mehr. „Recht viel Vergn�gen!“

„Oh, ich liebe euch, viel Vergn�gen, ja!“

Adele und Grau sahen einander an und sie err�teten beide.

„Komme zu mir, Adele,“ sagte Susanna. „La� mich dein Kleid bef�hlen. Wie fein ist der Stoff, so zart und d�nn. La� mich deine Haut bef�hlen. Wie fein ist deine Hand, Adele. Aber wenn ich in deine Hand blicke — siehst du, Adele, warum ist Unfriede in deiner Hand? Ich blicke in Richards Hand. So viel Friede ist darin. Nun, was bedeutet es schlie�lich und was schadet es? Nicht wahr? Gro�er Unfriede, das ist das Leben und gro�er Friede, das ist das Leben. Aber was dazwischen liegt, das ist nicht des Lebens wert. Aber vielleicht — wer wei� es denn! — vielleicht ist es auch sch�n, im Grase zu liegen, zufrieden zu sein und nur eine Kuh zu sein, etwa. Oder es ist auch sch�n, in einem Gef�ngnis zu sitzen und zu leben. Nur zu leben. Oh, wie du duftest! Oh, wie du duftest! Es ist die Luft, es ist der Fr�hling und so jung bist du, das ist es auch!“

„Liebe Freundinnen, meine lieben Freundinnen, ihr guten Herzen! Wi�t ihr was sch�n ist? Es ist sch�n euch anzusehen. Es w�re sch�n, mit euch Arm in Arm zu gehen. Nun kommt der Sommer, dann der Herbst, und sie singen in den Weinbergen, dann kommt der Winter und sie spielen in hellen Zimmern und tanzen, dann kommt wieder der Fr�hling, der Sommer, der Herbst, der Winter, der Fr�hling wieder, und wieder singen sie in den Weinbergen: Und ihr werdet leben! Euer Leben wird sch�n sein, deines Maria und deines Klara und deines Adele! Ach, Adele, wenn ich dich so ansehe, dir wird es ja nicht so leicht werden, ich f�hle es, aber euch allen wird es ja nicht so leicht werden, vielleicht wird euch einmal ein Kind sterben und ihr werdet euch in Schwarz kleiden und man wird nichts von euerm Kopfe sehen als schwarze Schleier. Schmerzen werdet ihr haben, ja, aber auch das ist ja das Leben, nicht? Nur wenn nichts geschieht, auch kein Schmerz mehr — das ist der Tod. Ja, euer Leben wird sch�n sein und ich w�nsche es so. Und wenn ich es verhindern kann, da� euer Kindchen stirbt — wenn ich da etwas vermag — nichts soll mir zuviel sein — oh, ihr Guten — so sch�n wird es sein, wenn ein Mann euch liebt — ich wei� es ja wohl und auch Adele wei� es — seht, sie wird rot, seht es, nein sei nicht b�se. Adele — sch�n wird es sein, all die Geheimnisse, wie sch�n — und euere Kinder! Denn sicher werdet ihr Kinder haben, werdet sie waschen, baden, k�ssen, werdet sie kleiden und schlafen legen, all das. Es wird regnen und das wird euch gefallen, die Sonne wird scheinen und ihr werdet froh sein im Herzen. Ihr werdet fortgehen, hinaus und viele neue Menschen sehen und neue L�nder, Blumen und Sitten, Tiere. Ich h�tte so gerne einmal einen L�wen gesehen, hatte nie Gelegenheit, einen L�wen! Alles werdet ihr sehen. Da wird ein gro�er, heller Saal sein und alle kommen in Festtagskleidern, auch ihr seid dabei. Ich w�nsche es. Konzerte werdet ihr h�ren und Theaterst�cke werdet ihr sehen, B�cher werdet ihr lesen, sch�ne und kluge B�cher — ja, m�ge es so sein, m�ge es so sein. Es geschehen so viele herrliche Dinge in der Welt, heldenhafte und poetische Dinge, ihr werdet davon h�ren. Ich w�nsche es! Ich w�nsche es! M�ge es so sein!“

„Nun Susanna, bald wirst du reisen und ebenfalls viel Sch�nes erleben.“

Susanna l�chelte und sah mit eigent�mlichen Augen auf die Freundinnen.

„Ja,“ sagte sie, „wie recht sie doch hat! Bald werde ich reisen, aber ich wei� nicht wohin. Du nimmst ein Billet nach Genf, du setzt dich in den Zug und steigst aus und bist in Genf. Aber ich werde nicht wissen, wo ich aussteige.“

Niemand wagte zu sprechen, so eigent�mlich klang das, was Susanna sagte.

„Drum adieu!“ fuhr Susanna fort und im Augenblick hatte sie sich im Bette aufgerichtet. „Drum adieu, adieu!“

Sie winkte mit beiden H�nden den Freundinnen zu, die H�nde bewegten sich matt in den Gelenken.

„Drum adieu, adieu!“ sagte Susanna und l�chelte und ihre Stimme klang, als s�nge sie. „Drum adieu, adieu?“ wiederholte sie und winkte hinaus zum Fenster und hinauf zum blauen Himmel.

„Sagt allen Leuten, die ich kenne, adieu!“

Klara und Maria hatten Tr�nen in den Augen, Adele zog die Brauen zusammen und l�chelte voller Pein.

„Aber Susanna —“ begann Klara.

Susanna l�chelte und winkte mit der Hand ab.

„Ich wei� es nun,“ sagte sie und l�chelte, „ich wei� es nun ganz bestimmt. Mit der Reise nach dem S�den ist es nichts, ich habe auch nie recht daran geglaubt, es ist zu sp�t. Seit heute nacht wei� ich es. Ja, da erwachte ich und siehe da, wie sch�n waren doch die Sterne! Wie sch�n und ich mu�te weinen, denn ich sah drei Sterne, die mir besonders gefielen, weil sie so friedlich zusammen da droben wandelten. Ich �ffnete das Fenster und sah ein Kind im Garten stehen. Wie kommt das Kind hierher? dachte ich und wunderte mich nur, denn vor Kindern f�rchtet man sich ja nie. Das Kind hatte lange Beine, d�nne h�bsche Beine, es war ein M�dchen von acht, neun Jahren. Das Kind hatte gekr�useltes Haar, lauter winzige L�ckchen, silberblond. Es stand bei dem Rosenstock dort und hauchte auf die Knospen. Ich sah ihm zu und dachte, was tut es? Ich sog die Luft ein, da roch ich Erde, Tau, Pfefferminzkraut und den Flieder. Denkt euch, ich roch ihn so deutlich und freute mich so sehr, bald wird er bl�hen. Nun, das Kind stand und hauchte auf die Rosenknospe, auf die oberste des Stockes in der Ecke, dann kam es auf mich zu und ich sah, da� es wirklich silberblonde L�ckchen hatte. Es sah mich an mit hellen Augen, l�chelte und gr��te mich, indem es den Kopf neigte, so langsam und stolz wie ein M�dchen von acht Jahren es tut. Dann verschwand es und ich blickte hinauf zu den drei Sternen. Heute morgen sagte mir M�tterchen, da� eine Rose aufgebl�ht sei. Ja, sagte ich, ohne hinzusehen, die oberste Rose des Stocks in der Ecke. Ja, sagte M�tterchen und sie wunderte sich gar nicht, woher ich es wu�te.“

Susanna schwieg und l�chelte.

„Wie sonderbar der Traum ist!“ sagte Maria zu Adele.

Susanna sch�ttelte den Kopf. „Es ist ja gar kein Traum, es ist ja Wirklichkeit,“ sagte sie, sonst nichts.

„Wir m�ssen jetzt gehen.“

„Adieu, adieu! lebt wohl, alles Herrliche w�nsche ich euch, ihr lieben Menschen. Ja, so viel Gl�ck sollt ihr haben! Und vergebt mir, wenn ich ungerecht und launisch war und gelogen habe. Vergib besonders du mir, Adele!“

„Ach, Susanna —“

„Doch, doch, ich beneidete euch, besonders Adele beneidete ich, weil sie reich und vornehm und sch�n ist. Ich w�nschte in meinem Herzen, es m�ge euch recht schlecht gehen, eine Woche nur, einen Tag nur, damit ihr f�hlt wie es ist. Oft, oft! Aber nun w�nsche ich euch ja Gl�ck! H�rt ihr es denn nicht?“

Sie sah Adele tief an. „Du bist mir so fremd!“ sagte sie z�gernd. „Und erst seit einigen Tagen verstehe ich dich besser, ich f�hle es, du bist nicht gl�cklich. Du bist zu stolz, um gl�cklich zu sein. Dein Leben freut dich nicht, nein. Du gehst wie bet�ubt und mit geschlossenen Augen deiner Zukunft entgegen. Gl�ck, Gl�ck sollst du haben! Ich danke dir, da� du nicht zu stolz warst, zu mir armem kranken M�dchen zu kommen. Gl�ck! Gl�ck!“

Adele k��te Susannas H�nde.

„O, wie gut du bist!“ seufzte Susanna. „Ja, denkt alle nicht mehr an das B�se, das ich euch zuf�gte.“

Niemals habe sie ihnen B�ses zugef�gt.

„In Gedanken! In Gedanken f�gen wir einander ja alle B�ses zu. Und auch ich tat es. Gerade in den letzten Tagen habe ich einen b�sen Gedanken gehabt. Ich habe gedacht, ja, auch sie werden einmal sterben m�ssen, auch sie. Nun sind sie jung und sch�n, aber einmal wird es auch an sie kommen. Das habe ich gedacht und es tat so gut das zu denken. Ich freute mich dar�ber — haha — ich habe gelacht dabei — auch sie, auch sie, alle, alle, alle werden sterben m�ssen! Vergebt mir! Lebt wohl, Lebt wohl!“

Die Freundinnen k��ten ihr die Hand, Maria weinte in das Taschentuch.

„Wie lieb sie mich haben, die guten Gesch�pfe, sieh nur!“ sagte Susanna zu M�tterchen, die mit einem Glase aus der K�che kam. Und sie dr�ckte die Fingerspitzen in die Wangen und ihre Augen wurden noch gr��er und strahlender.

„Da gehen sie dahin!“ sagte sie und blickte den Freundinnen nach, die in hellen Kleidern durch die sonnige Wiese gingen.

„Lebt wohl!“

Sechstes Kapitel

Lebe wohl, mein Geliebter!

Lebe wohl, M�tterchen, kleines, hilfloses M�tterchen, lebe wohl! Die Bl�tter, die Halme, die Blumen, lebet wohl. Lebe wohl, Himmelsblau, ihr Wolken am Himmel, lebet wohl!

Susanna lag in den Kissen und ihre Augen wanderten hin und her, sie konnte nicht mehr sprechen, ihre Stimme war erloschen, aber ihre Augen sprachen.

So sommerlich still war es. M�tterchen schlich herum und selbst Lenz d�mpfte die Stimme. Die V�gel zwitscherten und in der Ferne schlug ein Fink, immerzu, vom Morgen bis zum Abend. Nachts herrschte tiefes Schweigen, oft war es als sch�ttele sich ein Busch im Garten oder als zittere eine Wand, das war alles. Die G�terz�ge schleppten sich in der Ferne vorbei und ein hohles dumpfes Echo rollte lange im Tal.

Grau sa� am Bette. Er sah krank und �bern�chtig aus, in den letzten Wochen hatte er nicht mehr regelm��ig geschlafen. Seine Wangen waren hohl und sein Blick fieberte wie Susannas Augen, aber seine Lippen waren rot.

Susanna konnte nicht mehr sprechen, aber wenn man das Ohr an ihren Mund hielt, verstand man m�hsam, was sie sagte. Sie hatte nur selten etwas zu sagen.

Sie sagte: „Heute nacht habe ich getr�umt, ich ging im Walde, wie herrlich dunkel war es da! Gr�ne D�mmerung! Und alle B�ume waren so alt und standen regungslos da. Ich mu�te denken, wie regungslos sie dastehen und ich f�hlte, wie ich selbst steif wurde und anwurzelte am Boden wie ein Baum. Ich konnte kaum mehr atmen. Es war sch�n!“

Das war alles was sie an einem Tage sagte.

Sie sagte: „Wenn ich auf der Bank auf der H�he sa� und von dem Gro�en und Seltenen tr�umte, das kommen sollte, so dachte ich, es wird wohl ein Mann sein, der dich liebt. Wie du das erraten hast? Du sagtest: Haben Sie nicht auch von Liebe getr�umt? Aber wie h�tte ich denn das sagen k�nnen! Nicht? Und ich habe gedacht, er wird sagen, da� meine H�nde sch�n sind — denn sie sind ja sch�n, nicht wahr? Du hast es gesagt und zu Adele sagtest du, ich habe H�nde wie eine Japanerin. Das hat mich so gl�cklich gemacht!“ Sie l�chelte, aber es schien, als ob ein allzu gro�er Schmerz sie �berw�ltige, denn ihre Lippen zuckten und ihre Schl�fen begannen zu zittern. Sie fuhr fort: „Denn was ein Mensch Sch�nes an sich hat, das m�chte er entdeckt und bewundert haben von dem, den er liebt, und selbst das, was nicht sch�n und gut an ihm ist, das m�chte er doch ein wenig sch�n und gut gefunden haben. Ist es nicht so? Das w�rde ihn gl�cklich machen. Und gewi�, er w�rde sich M�he geben, da� es sch�n und gut werde. Wie wunderlich ist doch der Mensch! Je mehr ich �ber des Menschen Herz nachdenke, desto wunderlicher erscheint es mir. Wer k�nnte es je verstehen? Es ist wie ein Zauber, wenn man es betrachtet, ver�ndert es sich und betrachtet man es nun, so hat es sich schon wieder ver�ndert. Es lebt in uns wie ein fremder Gast in einem Hause, den man nie zu sehen bekommt.“

Sie lag still und lauschte. „Vater spricht!“ sagte sie mit den Lippen ohne Laut.

„So empfindlich bist du geworden, Eisenhut!“ sagte Lenz mit ged�mpftem Ba� in der K�che drau�en. „Wie du aussiehst! Wie ein Fex. Er kann nicht in Heuschobern und im Walde schlafen, hast du es geh�rt, kleines M�tterchen — haha! Wie eine Prinzessin ist er. Aber wir k�nnen ja auch in Gasth�usern schlafen, in seidenen Betten. Trinke, sage ich dir, trinke. Ob du trinkst oder nicht, das hindert ja nichts an der Welt, die Welt bewegt sich so und so — aber wenn du trinkst, hast du vielleicht einen guten Einfall, einen Gedanken, der dich erleuchtet, deshalb trinke. Morgen lichten wir die Anker, Eisenhut, mitzunehmen brauchst du nichts, nur kein Gep�ck schleppen. Heute da, morgen dort. So ist es angenehm zu leben. Die Menschen sind sch�n f�r einen Tag, zwei Tage, deshalb immerzu vorw�rts, am dritten Tage werden sie ja doch schon h��lich. Habe ich etwa den B�rgermeisterposten angenommen, obgleich sie eine Deputation in die Scheune schickten, wo ich schlief, wie? Nicht um eine Million Jahresgehalt, mein Freund!“

„H�h� — f�r tausend Mark, f�r f�nfhundert, f�r zweihundert,“ sagte Eisenhut kichernd.

„Nicht f�r eine Milliarde!“ entgegnete Lenz und schlug auf den Tisch.

„Pst, pst —“ sagte M�tterchen.

„Piepse ich nicht wie eine Maus? Nun — die Gegend war ja sch�n — Wein, Obst, sch�ne M�dchen — aber nicht f�r eine Milliarde —“

Susanna begann am ganzen K�rper zu zittern und ihre Augen f�llten sich mit Angst.

„Sieh mich an,“ sagte Grau und sie wandte ihm den Blick zu.

Grau l�chelte. „Du hast recht, Susanna, wunderlich ist des Menschen Herz, ich will dir eine Geschichte erz�hlen — la� mich nur besinnen auf den Anfang und sieh mich nur an, es ist sch�n in deine tiefen schwarzen Augen zu sehen, s��e Susanna, und zu plaudern — ja, eine Geschichte von einer alten Frau, ein Mann hat sie mir erz�hlt, der viel auf Reisen war. Aber sieh mich doch an und gib mir auch die Hand, so — es ist die Geschichte von einer Frau, einer Mutter von zweiundzwanzig Kindern. Haha, du l�chelst, Susanna! Es ist aber so. Eine Frau in Persien, ich wei� nicht wo. Der Mann, der mir die Geschichte erz�hlte, wohnte bei dieser Frau, da sie siebzig Jahre alt war, er kannte die Schicksale von all den zweiundzwanzig Kindern. Es waren recht wunderliche und romanhafte Schicksale, das mu� man sagen; und der Mann kannte sie alle, denn diese alte Frau sprach immerzu, vom Morgen bis zum Abend von ihren zweiundzwanzig Kindern. Am meisten aber sprach die Frau von ihrem Sohne — wie hie� er doch — Haffis, es ist ja nebens�chlich, also Haffis — denn Haffis war ihr Lieblingssohn. Sie erz�hlte von Haffis und es war anzuh�ren wie ein Gesang. Was f�r ein Knabe dieser Haffis doch war! — Wie sch�n, wie stark, wie kr�ftig und k�hn er doch war! Doch all das, diese Sch�nheit, K�hnheit, St�rke des Knaben, wer h�tte annehmen k�nnen, da� sich das verhundertfachen w�rde als der Knabe zum J�ngling heranwuchs? Seine Mutter, jene siebzigj�hrige Greisin, sprach mit Feuer in den Augen von ihm, sie sprach von ihm wie von einem Gott, der auf die Erde herabgestiegen war. Man konnte mit einem schnellen Pferde drei Menschenleben lang in der Welt herumreiten, ohne wieder solch einen J�ngling wie Haffis zu finden. So sch�n, so stark, so k�hn! Sie, die Mutter, h�rte es mit eigenen Ohren, wie die M�dchen, die aus den D�rfern ringsum herbei kamen, vor dem Fenster Haffis wehklagten und seufzten vor unsinniger Liebe.“

„Es gab nur einen Haffis! Wie er ging, wie er zu Pferde sa�!“

„Nun, wie ging er denn?“ fragte der Fremde, dem die Greisin von ihrem Sohne vorschw�rmte, „ging er so, ging er so?“ Und der Fremde ging so stolz und herrisch wie nur m�glich.

„Aber die Mutter lachte und sch�ttelte den wei�en Kopf.“

„Niemals wirst du es fertig bringen zu gehen wie Haffis ging. Haffis ging wie der Hengst des Scheichs.“

„Nun, er, der Fremde, versuchte zu gehen wie der Hengst des Scheichs, aber es war doch nicht das richtige. Die Mutter lachte ganz einfach. Dem Hengst fehlen ja Nacken und M�hne! Niemals konnte der Fremde so gehen wie Haffis ging, das war ja selbstverst�ndlich.“

„Es ist ganz nat�rlich, da� sich das Leben eines solchen J�nglings besonders gl�nzend gestaltete, nicht wahr? Haffis Leben gestaltete sich ganz wunderbar. N�mlich, das Auge des Scheichs fiel auf Haffis und er nahm ihn an den Hof. Haffis schlug Schlachten und warf die Feinde nieder. In der Heimat aber weinten sich die M�dchen die Augen blind und viele — das ist Tatsache, Susanna — viele sind aus Kummer und Sehnsucht gestorben. Die Mutter h�rte in Ges�ngen die Taten des Sohnes preisen. Einmal sprengte ein Bote vor ihre H�tte, brachte Gr��e und Geschenke und jagte wieder von dannen. Er durfte ja keine Minute vers�umen, wenn er nicht seinen Kopf verlieren wollte. Am vierten Vollmond zieht dein Sohn hier vorbei, sagte der Bote, und am vierten Vollmond zog Haffis, der Gef�rchtete, der Herrliche, der G�ttliche, vor�ber. Endlos war die Zahl seiner Kamele und Pferde und Frauen und Diener und seiner Lasten von Seide und Gold und Geschmeide. Das kann ich ja gar nicht schildern, Susanna, kein Mensch kann es, du mu�t dir das selbst ausmalen. Der Zug reichte gerade von dem Punkte, wo die Sonne aus der Steppe steigt, bis zu dem Punkte, wo die Sonne in die Erde sinkt. An der Spitze ritt Haffis in Seide und Edelsteinen, er funkelte wie die Sonne. Haffis war ein dankbarer Sohn. Er sprang vom Pferde, k��te den Boden vor den F��en der Mutter und sprang wieder in den Sattel und schon war er verschwunden.“

„Die greise Mutter konnte tagelang erz�hlen von der Pracht der Tiere und Geschmeide und Waffen, von der Sch�nheit der Frauen, die sich auf den Kamelen schaukelten. Sie berauschte sich noch in der Erinnerung an dem Anblick der Karawane.“

„Nun sollte man glauben, da� das genug sei? Aber nein. Haffis wuchs und wuchs und der Scheich gab ihm zuletzt die Tochter zur Frau. S�nger zogen umher und feierten ihn in Liedern. Er w�rde Scheich werden.“

„Wochen und Monate hindurch hat die Mutter dem Fremden von Haffis erz�hlt und die Zahl seiner Frauen und Diener wuchs ins Unglaubliche.“

„Aber nun ist die Geschichte bald zu Ende. Denn die alte Mutter sollte sterben.“

„Sie lag da und der Fremde wu�te, da� es f�r sie keine Rettung mehr gab. Wie merkw�rdig aber war es doch: Die alte Mutter, die sterbende alte Mutter, sie sprach mit keiner Silbe mehr von all den andern einundzwanzig Kindern — wieder l�chelst du, Susanna! — sie sprach nur noch von Haffis, dem Lieblingssohne, seiner Sch�nheit, seiner Kraft, seinem Reichtum und seinem Ruhme. Wieder und wieder!“

„Dann kam der Tod und machte die Mutter fahl. Aber sie hatte noch etwas zu sagen, bevor sie starb. Der Fremde beugte das Ohr herab und sie fl�sterte: Haffis war acht Jahre alt, da ertrank er im Flu�. — Und sie verfluchte den Flu� und starb.“

„So wunderlich ist des Menschen Herz, Susanna!“

Susanna lag still und blickte auf ein St�ckchen Sonne, das auf dem Fensterbrett lag. Die jungen Stare schrien und sie erschrak. Wieder begann sie am ganzen K�rper zu zittern und die Angst erf�llte wiederum ihre Augen.

Grau l�chelte und nahm ihre Hand. „Willst du mich nicht anblicken, Susanna? Nun geht die Sonne unter und deine Augen bekommen einen kupfernen Glanz. Ja, wie wunderlich ist des Menschen Herz, Susanna. Unerkl�rlich tief und wundersam ist es in uns verborgen. Schlummern nicht unendliche Sch�nheiten darin? Tr�ume, Gef�hle, Liebe, Ergriffenheit, Schauer, deren Ursache wir nicht kennen, Ahnungen, deren Ziel uns unbekannt ist? Zuweilen ist das Menschenherz wie eine Orgel, es braust und singt in uns, zuweilen wie ein Dichter, es dichtet in uns, zuweilen wie ein erz�rnter g�tiger Prediger, es ruft, ruft. So tief und wundervoll ist es. — Nun will ich dir die Geschichte von einem Trinker erz�hlen, er trank schrecklich und machte alle ungl�cklich, seine Familie, aber was f�r ein Herz hatte er doch! Du sollst es h�ren!“

Eisenhut klopfte drau�en auf den Tisch und fand irgend etwas ganz unm�glich, unfa�bar und unbegreiflich!

„Wir schneiden mit dieser Maschine deine Steine wie Butter!“ sagte Lenz und lachte. „Wie Butter! Ich habe diese Maschine extra f�r dich erfunden, Eisenhut. Ja, es war mir eine Freude, sie f�r dich zu erfinden. Ich tue das gern. Der Frau eines G�rtners — eines Freundes von mir, ich habe Freunde in allen Berufsklassen — habe ich einen Kinderwagen erfunden, der eine Gummibadewanne enth�lt — Kinderwagen, Badewanne, fahrbare Badewanne in einem St�ck also. Ich liebe das und bin auch meinen Freunden gerne n�tzlich. F�r dich habe ich diese Maschine erfunden, Eisenhut, wir stecken die H�nde in die Hosentaschen und unsere Maschine arbeitet. Deine Arbeiter k�nnen Karten spielen oder sich die Sch�del einschlagen zur Unterhaltung —“

„Ja, zum Teufel — eine Maschine — wer sollte das verstehen — unbegreiflich ist das!“ Eisenhut meckerte belustigt.

„Verstehen. Gut. Hier. Das ist eine eiserne Br�cke. Hier hast du eine Kreiss�ge — Hebel auf! — Der Dampf f�hrt hinein und die Kreiss�ge — vier Meter Durchmesser — schneidet den Stein. Die Br�cke steigt in die H�he, sie schneidet Streifen, wir stellen die Kreiss�ge wagerecht — auf diese Weise schneiden wir deine zw�lf Steinbr�che wie Butter — wie Butter —“

„Ausgezeichnet — unglaublich, aber ausgezeichnet!“

Eisenhut meckerte und Lenz lachte entz�ckt �ber seine Maschine.

„Wie sch�n!“ sagte Susanna, als Grau die Geschichte von dem Trinker erz�hlt hatte.

Sie l�chelte und dr�ckte Grau die Hand.

„Beuge dein Ohr — so — sage mir und verzeihe die Frage, ich wei� ja nicht, ob ich alles fragen darf?“

„Alles, alles, Susanna!“

„Wirklich alles, alles?“

„Ja!“

Susanna blickte Grau lange an. Sie sch�ttelte den Kopf. „Nein, ich sage es nicht — doch ich frage es — ich frage nur — du sollst nicht antworten, h�rst du! W�rdest du mir versprechen — du sollst es ja nicht tun — ich frage blo� — w�rdest du mir versprechen, kein M�dchen nach mir zu k�ssen? W�rdest du? Ich frage blo�, du versprichst ja nichts.“

„Ich w�rde es dir versprechen, Susanna, meine Freundin!“

„Wenn ich — es nun sagte?“

„Sage es, meine Geliebte!“

„Willst du mir versprechen — nein, nein, nein, la� es mich nicht sagen — nein, es macht mich gl�cklich, zu denken — nein. Vielleicht werde ich es ja doch tun? Aber nein, nicht dies. Ich wollte ja gar nicht dies fragen. Ich darf doch fragen was ich will, du hast es gesagt. Hast du?“

„Ja, Susanna!“

„So sage mir — wieviele M�dchen hast du schon gek��t? Nun?“

Grau l�chelte.

Susanna l�chelte und k��te fl�chtig seine Hand. „Auf den Mund, wieviele? F�nf, sechs?“

Grau sch�ttelte den Kopf. Mehr? „Nein,“ sagte Grau l�chelnd.

„Dann waren es wohl vier? Nicht? Dann waren es wohl drei? Ist auch das noch zuviel?“

Grau l�chelte und Susanna wartete lange.

„Zwei?“

Grau sch�ttelte den Kopf.

„Eine!“

„Du h�ttest nicht fragen sollen,“ sagte Grau.

„Au�er mir noch eine?“

Grau sch�ttelte den Kopf. Er err�tete. „Warum hast du doch gefragt? Ich habe ja nie Gelegenheit gehabt, ein M�dchen n�her kennen zu lernen. Ich sage ja nicht, da� ich nicht gew�nscht habe, das oder jenes M�dchen zu k�ssen. Aber ich bin ihnen ja nicht n�her gekommen — warum hast du doch nur gefragt!“ Susanna blickte ihn mit strahlenden und erstaunten Augen an. Ihr Blick ver�nderte sich seitdem nicht mehr, so oft sie ihn ansah. H�ufiger als sonst zog sie Graus Hand an die Lippen.

Und pl�tzlich richtete sich Susanna auf und sagte: „Ich liebe dich. Du bist mein, bist du?“

„Ja,“ antwortete Grau.

Susanna hustete ein wenig, sie err�tete und ihre Augen flammten.

„So versprich mir, zu keiner Frau mehr von Liebe zu reden!“

Grau z�gerte nicht. Er versprach.

„Oh, oh!“ rief Susanna aus und warf sich in die Kissen und weinte.

Grau verstand sie nicht.

Lenz und Eisenhut lachten drau�en in der K�che.

M�tterchen kam ins Zimmer und sagte: „H�re, wie sie lachen! Nun will er Klatschbase schlachten, f�r heute abend!“

Lenz wurde in den n�chsten Tagen schweigsam. Er streckte sich, trieb sich herum, er blickte den ziehenden Wolken nach. Er reiste ab. M�tterchen hatte ihm den Rock zurecht geflickt und ein kleines R�nzchen gepackt.

„Nun denn, adieu!“ sagte Lenz laut und fr�hlich zu Susanna. „Adieu, meine pr�chtige Susanna, meine Freunde erwarten mich! Ich bin diesmal lange dageblieben. Adieu und sieh, da� du bald ganz gesund wirst, mein sch�nes, herrliches M�dchen!“

Er ging. M�tterchen weinte den ganzen Tag. —

Grau hatte eine Unterredung mit Adele. Sie sa� in der Laube an der Mauer und stickte. Sie sprachen von Susanna. Ja, es gehe zu Ende jetzt.

Adele sagte: „Ich gehe zuweilen des Abends oben auf der H�he, die Abende sind so sch�n.“

„Ja,“ sagte Grau.

„Sie sind ja gegenw�rtig so sehr in Anspruch genommen, nicht wahr. Aber ich w�rde gerne wieder mit Ihnen sprechen. Heute abend?“

Sie gingen zusammen auf der H�he, bis der Mond aufging. Sie sprachen fast nichts. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Aber als sie sich trennten, sahen sie einander in die Augen.

Pl�tzlich fiel Grau das Versprechen ein, das er Susanna gegeben hatte, und er erbleichte so sehr, da� Adele es gewahrte.

„Weshalb sind Sie pl�tzlich so bleich geworden?“ fragte sie.

„Es ist nichts. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Herr Grau.“ —

Am andern Tage starb Susanna.

Siebentes Kapitel

Grau schlief, da kam ein kleines M�dchen zu ihm ins Zimmer, es blieb an der T�re stehen und winkte sch�chtern mit dem Zeigefinger. Aber er regte sich nicht, er war todm�de. Das M�dchen hatte hohe, schlanke Beine und einen silberblonden Lockenkopf. Es n�herte sich und ber�hrte mit geheimnisvoller wichtiger Geb�rde seinen Arm: Grau erwachte.

Seine Brust war beklommen, er vermochte kaum zu atmen und konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Im Zimmer war es dunkel, aber durch den Spalt der Fensterladen konnte er hinaus in den Mittag blicken. Alles schlief in der roten Sonne, kein Zweig schwankte. Der Garten sah ver�ndert aus und auch er schien ein Geheimnis zu wissen. Graus Beklommenheit wuchs zur Angst. Susanna! dachte er und verlie� rasch das Haus.

Er ging so rasch, da� die Leute ihm erstaunt nachblickten. Die Kinder spielten vor den H�usern, sie schrien und lachten und eilten auf Grau zu. Aber er hatte heute keine Zeit. Er l�chelte und winkte ihnen ab. Nun liefen sie rasch neben ihm her, tanzten vor seinen F��en, lachten; es wurden ihrer immer mehr. �berall �ffnete man die Fenster, um zu sehen, was es eigentlich g�be. Aus allen H�usern kamen die Kinder heraus und aus allen Gassen.

Grau ging sehr schnell, aber die Kinder tanzten um ihn herum, es war ihnen ein leichtes zu tanzen und doch mit zu kommen. Sie schrien ihm zu, was sie spielten, was sie gegessen hatten, wohin sie gehen wollten und eine Menge Neuigkeiten.

Erst beim Tore blieben sie zur�ck und nur einzelne folgten ihm noch. Grau beschleunigte den Schritt noch mehr, der Schwei� stand ihm auf der Stirne. So oft ihn der Gedanke durchfuhr, da� er Susanna nicht mehr lebend antr�fe, lief er ein St�ck des Weges.

Von der Br�cke aus sah man Susannas Haus in der Sonne liegen. Je weiter der Sommer fortschritt, desto tiefer schien das H�uschen in die Wiese zu sinken. Es war von Sonnendunst eingeh�llt. Wer aber war das, der im Garten stand und mit einem leuchtenden Tuche winkte? Grau erschrak. Es war Susanna, so unm�glich es ihm auch schien.

Sie stand im Garten, wei� gekleidet, Eisenhut war bei ihr und M�tterchen mit der Brille lehnte am Pfosten der T�re. Susanna winkte und �ffnete das Gartent�rchen.

„Nun?“ rief sie mit hoher, feiner Stimme. „Was sagst du dazu? Ich habe so sehr gew�nscht, da� du k�mest, und nun bist du da!“

Sie war klein und niemals h�tte er sich denken k�nnen, da� sie so klein war. Ihre schmalen Wangen waren von einer gleichm��igen Fieberr�te �berzogen und ihre gro�en Augen leuchteten gespenstisch.

Eisenhut lachte. „Ich h�tte gestern keinen Pfennig mehr f�r sie gegeben!“ rief er. „Sie sah aus als ob man sie sofort in den Sarg legen k�nnte, heute steht sie auf, zieht das wei�e Kleid an und geht herum. So verr�ckt, wie?“

„Ich kann auch wieder sprechen!“ sagte Susanna und atmete tief. „Ich habe die ganze Nacht hindurch geschlafen und in meiner Brust ist etwas vor sich gegangen. So leicht und frei. Wie ich atmen kann, so tief! Oh, wie sch�n ist es doch zu gehen. Ich bin so m�de in den Knien und das ist so sch�n!“

Grau dr�ckte sie an die Brust. „Ja,“ hauchte er. Er fand keine Worte.

Susanna ging langsam in ihrem G�rtchen umher, besah die Rosen, den Mohn, die Nelken, die Halme und liebkoste die Bl�tter. Sie legte die H�nde in das Gras und sagte, wie k�hl doch das Gras sei. W�rme und Duft standen wie eine Mauer im Garten. Sie ging zu dem kleinen Fliederbusch, steckte das Gesicht hinein und lie� sich die Wangen von den Bl�tentrauben liebkosen.

Am Himmel t�rmten sich m�chtige Wolken gleich phantastischen Ballen von feuerfarbener Seide, die an der Oberfl�che rote Glut versengt hatte. Der Wind erwachte.

„Sieh, wie der Wind l�uft!“ rief Susanna und deutete �ber die Felder. „Wie hurtig!“

Man sah ihn laufen. Er kam �ber den H�gel herab, strich �ber die Felder, w�hlte sich ins Korn und schmiegte sich auf den Wiesen ins Gras wie ein Hund. Er kam rasch n�her, die Bl�tter eines Haselstrauches begr��ten ihn, die Blumen am Wege verneigten sich: Er war da, warm, duftend, schw�l und Susanna hustete als er zu ihr kam und ihr goldenes Brusttuch in die H�he hob, gleichsam um zu f�hlen, wie fein es war. Einen Augenblick und schon war er verschwunden.

Dann kam er von neuem �ber die Wiesen.

„Sieh doch, wie rasch er l�uft! Vielleicht kommt ein Gewitter.“

Ein Zitronenfalter segelte �ber die Wiese und Susanna lie� ihn nicht aus den Augen, fieberhaft r�ckte sie den Blick hin und her. „Pst?“ sagte sie. „Sicherlich wird er den Flieder riechen und hierher kommen. Locke, locke!“ sagte sie zum Fliederbusch mit beschw�renden Blicken. Der Zitronenfalter gaukelte zuerst um eine Kleebl�te, dann kam er in den Garten herein und Susanna, ganz atemlos, streckte behutsam die Hand aus. Sie zitterte am ganzen K�rper vor Erregung. Ihre Lippen zitterten, ihre Blicke sogar. Es war, als wolle sie die Natur fragen, ob sie ihre Liebe erwidere. Da setzte sich der Falter auf ihren Finger.

Ohne Regung stand Susanna und blickte l�chelnd auf den Schmetterling, der seinen R�ssel auf ihren Finger setzte und mit den gelben Fl�geln wippte. Sie streifte Grau mit einem triumphierenden Blick.

„Er sieht mich an!“ sagte sie leise. Der Falter flatterte in die H�he und flog �ber das Dach, Susanna sah ihm nach bis er verschwand. Dann atmete sie tief auf.

„Das war sch�n!“ sagte sie leise. „Das war sch�n!“ Sie blickte mit einem langen Blick in die Weite. Die phantastischen Ballen feuerfarbener Seide wurden dunkel und da wo die Glut sie versengt hatte flatterten aschgraue unheimliche Schleier. Susanna l�chelte und seufzte und ging ganz von selbst hinein ins Haus.

M�tterchen war verwirrt vor Freude. Ja, nun k�nne Susanna wieder aufstehen, oh, du guter Gott!

Grau sagte: „Es ist kein gutes Zeichen, M�tterchen!“ und legte ihr die Hand auf den Scheitel und sah sie an. M�tterchen erbla�te und zitterte.

Grau gab Eisenhut ein Zeichen mit den Augen und ging hinein zu Susanna.

Susanna lag mit geschlossenen Augen. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie schlug sofort die schwarzen Augen auf, in denen der Glanz vergl�hte. Sie l�chelte m�de. „Ach, so m�de, so k�stlich m�de, aber meine Brust ist so leicht und frei. Das ist der Fr�hling, ja. Du hast es gesagt. Du und der Fr�hling, ihr zwei habt mich gesund gemacht. Wende deinen Kopf und sieh ins Licht! Ja, sie sind golden, deine Augen sind golden! Bald werde ich in den Wald gehen k�nnen. Ich h�re Gesang, Lieder h�re ich, wie ist das doch?“ Ihre Stimme klang fein und ferne; die Kr�fte erloschen rasch.

„Wir werden zusammen in den Wald gehen, Susanna, du und ich!“ sagte Grau. Er sprach nun unausgesetzt. Davon wie es im Walde sein werde, wie alles sein werde, alles. Denn bald w�rden sie ja zusammenleben.

„Ja!“ Und Susannas Augen leuchteten nochmals auf, w�hrend ihre Wangen erbla�ten, mehr und mehr. „Wie wird es sein?“

„Nun h�re zu,“ fuhr Grau fort, „h�re zu und sieh mich an. Ich will dir sagen wie es sein wird. Du wirst die Herrin im Hause sein und ich werde warten bis du mich rufst. Sage nichts und h�re zu. Wenn wir drei Zimmer haben, so werden zwei davon dir geh�ren. Da wirst du wohnen. Du wirst eine Bibliothek haben, ganze Regale voll der sch�nsten und neuesten B�cher. Du wirst auch einen Schreibtisch am Fenster haben mit einem Sto� von wei�em Papier darauf, damit du all deine klugen Gedanken aufschreiben kannst, wenn du Lust dazu hast. Ich werde an der T�re lauschen, wenn du schl�fst, ich werde stehen und auf deine Atemz�ge lauschen, und ich werde denken: Susanna schl�ft da drinnen. Ich werde h�ren, wenn du dich r�hrst. Ich werde nicht schlafen. Ich werde denken, es ist nicht die Zeit zu schlafen, ich mu� h�ren, wie Susanna schl�ft, ich mu� ihrem Atmen lauschen.“

„Oh! sprich, wie wird es sein!“ Tr�nen traten in ihre Augen.

„Dann werde ich hinausgehen und gro�e Str�u�e f�r dich pfl�cken, Susanna, aus all den Blumen, die du besonders liebst. Der Tau soll an den Blumen sein und ich werde die Str�u�e auf deine Schwelle legen und der Tau wird daran sein. Dann werde ich warten und endlich werde ich dich sehen. Ich werde dir in die Augen blicken — wie ich es jetzt tue — und ich werde fragen, ob du gut geschlafen hast.“

„Sprich, sprich! Aber in den N�chten, wie wird es in den N�chten sein? Hast du daran gedacht?“ In Susannas Augen kam ein fremder Glanz und ihre Wangen wurden fahler und fahler.

„Ja, auch daran habe ich nat�rlich gedacht, Susanna. La� uns das nicht sagen, die N�chte werden kommen. Es wird sehr stille sein in unserem Hause und im Garten wird ein Vogel singen und du und ich und ich und du und niemand sonst wird da sein.“

„Ja, wie oft, du Geliebter, habe ich daran gedacht, wie die N�chte sein werden! Hast du schon an Leidenschaft gedacht und die K�sse in stiller Nacht?“ fl�sterte sie und die Tr�nen liefen �ber ihre Wangen.

„Ja, Susanna, meine s��e Freundin. Oft habe ich an Leidenschaft gedacht und viele lange N�chte lag ich wach.“

„Wie ich, wie ich! Oft hat mein Blut getobt in den Adern und ich habe getr�umt und getr�umt — keine verr�t es, aber alle, alle graben sie die N�gel in die Brust —.“

Grau blickte Susanna an und hielt sie in den Armen. Ihr Kopf lag an seiner Brust. Und er erz�hlte wie es sein werde. Pl�tzlich wurde es dunkel im Zimmer, der Wind pfiff und es donnerte in der Ferne. Es regnete, dann kieselte und schneite es. Im Nu waren die Felder wei� und das G�rtchen eingeschneit. Aber Susanna sah und h�rte nichts, sie lauschte und Grau gab ihren Blick nicht mehr frei.

„— die H�nde werde ich dir k�ssen, die werden so k�hl und frisch wie der Morgen sein. Ich werde dir die Lippen k�ssen, die noch hei� vom Schlafe sind, die Rosen auf deinen Wangen werde ich k�ssen, die noch aus den Tr�umen darauf bl�hen. Susanna, Susanna! Ja, du h�rst wohl, was ich sage? So wird es sein. Dann werde ich die T�re �ffnen und sagen, siehe, Susanna, die Sonne will dich begr��en. Und ich werde dich in den Garten f�hren: Siehe, Susanna, die Blumen wollen ihre Herrin gr��en. Alle Blumen werden sich verneigen und die B�ume werden rauschen. Ich aber werde nur dich ansehen, so wie ich es jetzt tue, Susanna, Susanna, nur dich! Ich werde deinen Namen nennen auch wenn du nicht bei mir bist. Vielleicht hast du einen kleinen Hund, den du liebst, und mit ihm werde ich mich unterhalten, solange du fort bist.“

Grau k��te Susannas Stirn.

„Ich liebe dich, werde ich sagen,“ fuhr er fort, „so wie ich es jetzt sage. Susanna, Susanna! Die Sonne wird aufgehen und ich werde es sagen, die Sonne wird sinken und ich werde es sagen. Der Fr�hling wird kommen — ich liebe dich, Susanna — der Sommer wird kommen ich liebe dich, Susanna — der Herbst, der Winter wird kommen: Ich liebe dich Susanna!“

Susanna seufzte gl�cklich und l�chelte und schlo� halb die Augen.

„Ich werde niederknien und sagen, ich liebe dich Susanna!“ fl�sterte Grau. „Ich werde dich ansehen, mein Blick, mein Schritt, alles wird dir dasselbe sagen. Ich werde alt werden und meine Haare werden wei� werden — ich liebe dich Susanna, werde ich sagen — ich liebe dich, du S��este von allen —“

Susannas L�cheln erstarrte. Sie �ffnete den Mund und ihr Kopf sank in den Nacken zur�ck. Sie regte sich nicht mehr. Grau blieb lange ruhig, dann lie� er Susanna langsam in die Kissen nieder. Sie lag und l�chelte friedlich und sch�n. Sie schlief. Die Tr�nen trockneten auf ihren fahlen Wangen.

Grau sa� lange Zeit regungslos und sah sie an. Seine H�nde zitterten von der Erregung der letzten Stunde, es war �ber seine Kr�fte gegangen. Dann wuchs die Trauer in seinem Herzen, eine schwere dumpfe Traurigkeit, die ihn niederbeugte. Er k��te Susannas kleine H�nde.

Er hatte sie ja so sehr geliebt.

Es wurde blendend hell im Zimmer. Das Wetter war vor�bergegangen und die Sonne schmolz rasch den Schnee, die ganze Welt gl�nzte und die kleine stolze Rose in Susannas Garten glitzerte im Tau, als ob sie vor Freude geweint h�tte.

M�tterchen war ruhig, ja f�rmlich gleichg�ltig. Die Natur ist g�tig und versenkt ein Herz, das der pl�tzliche Schmerz vernichten w�rde, in eine Art von Bet�ubung. Sie schien allein durch den Gedanken vollkommen beruhigt zu sein, da� Susanna gestorben war ohne es selbst zu f�hlen.

Aber als die D�mmerung kam und Susanna noch immer so still und gleichm��ig l�chelnd lag, begann sie leise zu weinen. Sie nahm Graus Hand, sah ihn bittend an und sagte: „Mache sie mir wieder lebendig!“

Grau sch�ttelte den Kopf. „La� sie ruhen, M�tterchen, sie ist ja lebendiger und gl�cklicher als wir.“

M�tterchen war wieder ganz ruhig.

Achtes Kapitel

An einem sch�nen wolkenlosen Sonntage wurde Susanna begraben. Die Sonne funkelte, die Luft zitterte vom L�rm der spielenden Kinder, alles trug Festtagskleider und die jungen M�dchen gingen alle in Wei� und wiegten sich und kicherten. Vor dem „wei�en Elefanten“ konzertierte die Stadtkapelle.

Grau hielt eine schlichte Rede, er machte nicht im entferntesten solch sch�ne Worte wie seinerzeit bei der Beerdigung der Margarete Sammet. Die Freundinnen waren zur Bestattung gekommen, Adele und die Schwestern Sinding und einzelne von den M�dchen, die das Fest mitgemacht hatten. Auch Lenz kam. Er war bestaubt und erhitzt und kam gerade, als sie den Sarg hinablie�en. Er trug einen hellen alten Sommerrock, war ohne Kragen und Binde, und hatte einen knotigen Stock in der Hand. Als ihn die Leute ansahen, r�usperte er sich herausfordernd.

Er ging mit Grau ins Haus und dr�ckte ihm die Hand. „Sch�n,“ sagte er, „sch�n hast du deine Sache gemacht, einfach. Kein Wort zu viel. Bei einer Susanna Lenz, der Tochter eines freien Mannes, braucht es keine gro�en Worte.“

„Wie hast du es denn erfahren?“ fragte Grau.

Lenz sah sich im Zimmer um und l�chelte, als er den Heiligen an der Wand sah, jene Reproduktion eines alten Meisters. „Vorbei,“ sagte er, „vorbei ist es mit diesen Heiligen, in Frankreich schleift man die Kirchen. — Hast du ein Glas Wein oder Kognak, ich bin ganz ausgetrocknet? Nein? Es ist ja nicht gerade n�tig. Ich habe es erfahren in Hirschhorn, einem kleinen Nest. Der Wirt sagte, ist deine Tochter gestorben? Nein, sage ich, meine Tochter stirbt nicht so schnell. Es ist eine Lehrerstochter gestorben, Susanna Lenz. Es gibt nur eine Susanna Lenz, also mu�te sie es sein. Ich machte mich auf den Weg und hatte Tag und Nacht zu gehen um zur rechten Zeit einzutreffen. Als ich nachts durch den Wald ging, erschien mir Susanna — nein, es war nat�rlich nur eine Sinnest�uschung. Ich bin nicht traurig, nein, ich bin nur erstaunt, da� sie so schnell starb, an diesem bi�chen Brustleiden. Ja, sie war pr�chtig, meine Tochter, eine Art Heldin, treu wie Gold, voll salomonischer Weisheit! Aber ich bin nicht traurig. Eine Schwalbe fliegt in der Luft, f�llt herab und ist tot. Warum sollte es mit den Menschen anders sein? — Hier lief �brigens eben eine Maus �ber den Boden —“

„Sie lebt hier,“ sagte Grau.

„So?“ Lenz l�chelte und stand auf. Er trat auf Grau zu und fa�te ihn bei der Schulter. „Sieh mir in die Augen!“ sagte er in befehlendem Tone. „Antworte auf meine Fragen! Du hast Susanna immer gut behandelt? Hast ihr nie b�se Worte gegeben?“

„Nein, ich glaube nicht!“ sagte Grau und sah Lenz an.

„Du hast sie nie gekr�nkt? Sprich die Wahrheit! Du hast sie nie beleidigt, bist ihr stets mit schuldigem Respekte entgegengetreten?“

„Ich glaube, ja!“

Der Lehrer dr�ckte ihn an die Brust. „Dank!“ sagte er. „Dank! Ich liebte Susanna sehr!“ Er pfiff durch die Z�hne und nahm Hut und Stock. „Fahre wohl, mein Sohn! Ich ziehe wieder hinaus und immer vorw�rts, da� die Erscheinungen hinter mir zerrinnen. Die Welt ist weit, wir werden uns nicht wiedersehen. Aber was schadet es, wir werden trotzdem inniger verbunden sein, als Leute, die sich jahrelang gegenseitig die Kniescheiben einrennen, denn wir geh�ren ja zum internationalen Orden der Edelleute. Diesmal werde ich eine weite, weite Reise antreten! Zuvor aber will ich einen kleinen Spaziergang in den Stra�en dieses Pfahldorfes machen — siehst du diesen Stock hier? — die Eingeborenen hier hassen mich und f�rchten mich wie einen tollen Hund. Es ist ja Ironie, aber sie haben mich ausgewiesen aus ihrem Negerkral. — Ich werde hin- und hergehen und mich sehen lassen. Weh dem, der es wagt mir in den Weg zu treten, heute! Ich pr�gele ihn durch, wie es sich geh�rt! Dann werden sie sagen: Lenz ist ein Lump, er rauft am Beerdigungstage seiner Tochter! Ha! ha!“

Er lachte, warf den Kopf in den Nacken und ging.

Grau dachte mit Wehmut an Susanna, aber er war nicht traurig: Sie war ja nicht tot, sie war ja lebendiger als er.

Der Mensch ist wie ein Bote, dachte er, der eine Botschaft zu tragen hat; er wei� nicht was in der Botschaft steht, aber er tr�gt sie ans Ziel und sein Zweck ist erf�llt. Die Geburt ist nicht der Anfang der menschlichen Existenz, der Tod nicht ihr Ende. Ein St�ck der unendlichen Bahn, die die Seele zu durchmessen hat, der Bahn der Weltk�rper vergleichbar, ist das irdische Dasein. Ewig wechselt das Leben die Form und das Gegenw�rtige ist nichtig klein im Verh�ltnis zum Unverg�nglichen. Die Blumen von diesem Sommer, wo werden sie sein, die V�lker, deren K�nige sich heute br�sten, wo werden sie sein? Das gro�e Gebirge, Sturm und Wetter werden es zerreiben, wo wird es sein, die Erde, wird sie nicht einst als eine winzige Wolke von Staub durch den Weltenraum ziehen, das Planetensystem, wo wird es sein? Vergangen, verweht, aber irgendwo am gro�en Werke des Lebens t�tig, das ewig saust und braust.

Die n�chsten Tage glitten still dahin und er f�hlte an seiner Ruhe, da� Susanna jetzt gl�cklicher war. Zuweilen kam sie auf unerkl�rliche Weise in all seine Gedanken; nicht nur aus Menschen und Tieren, selbst aus den B�umen, dem Grase, toten Dingen schien ihm etwas von Susannas Wesen entgegen zu dringen.

Sie schien stets um ihn zu sein, und seine Empfindung wurde so lebhaft, da� er sie einmal in der Dunkelheit des Zimmers stehen sah. Sie war sch�n und schlank. Ich bin es, sagte sie, ich bin immer bei dir. — Bist du es denn wirklich? fragte er. Sie antwortete: Weshalb zweifelst du?

Er sah sie lange an, sie verschwand und er blieb allein. Es war als ob er rings in Abgr�nde starrte, er erschauerte und stand auf. Wie lebhaft ich doch empfinde, dachte er und �ffnete das Fenster: Sterne, Sterne und Friede in sanfter Nacht. Das war die Welt, der er angeh�rte.

Er l�chelte und blickte auf Adeles Park. Die B�ume standen im Schlafe, aber sie bebten leise. Ein unbestimmtes Licht rieselte an ihnen herab und die h�chsten Bl�tter wendeten sich langsam hin und her, als ob jede Blattseite dem Lichte der Sterne ausgesetzt werden sollte. Die wei�e schmale Mauer glich einem Streifen von Linnen, das zum Trocknen aufgeh�ngt war und sich im verblichenen Schatten einzelner Zweige leise zu bewegen schien.

Eine unwiderstehliche Macht trieb Grau hinaus. Aber in dem erhabenen Frieden der Nacht kam er sich wie ein Eindringling vor, wie einer, der das Gesetz der Natur, die die Nacht zum Schlafe bestimmt hatte, �bertrat. Er d�mpfte unwillk�rlich seinen Schritt. Er ging bis an das Parktor und hier blieb er lange stehen.

Pl�tzlich erinnerte er sich an das Versprechen, das er Susanna gegeben hatte. Er neigte den Kopf. Ich werde halten, was ich versprochen habe! sagte er und ging langsam nach Hause.

Aber gerade als er einschlafen wollte, begann ein Vogel in Adeles Park zu singen und es klang, als sei es Adeles eigene Seele, die lockte. Er lauschte mit verhaltenem Atem. Schmerz erfa�te ihn. Er pre�te die H�nde auf die Augen und wiegte den Kopf hin und her. Singe nur, du kleiner Vogel! Singe nur! Endlich schwieg der Vogel still, aber Grau h�rte ihn wieder im Traume zwitschern. Er tr�umte, er gehe mit Adele auf der H�he und Adele sah ihn an mit traurigen Augen. Sprich doch! Sprich doch! sagte sie. Er aber sch�ttelte den Kopf. Ich kann nicht, antwortete er. Adele fa�te seine Hand und bot ihm die Lippen. Er aber wandte sich ab und rief: Nein, nein! Und er entfloh in aller Hast, Adele rief hinter ihm. Da erwachte er wieder. Sein Herz brannte vor Sehnsucht, �berall winkte und lockte es, es leuchtete wie Feuer vor seinen Augen.

Er stand auf und machte Licht und schickte sich an zu arbeiten, w�hrend die Stille der Nacht tiefer und tiefer wurde und der Tag langsam graute. Aber w�hrend er arbeitete, hatte er das Gef�hl, da� sein Herz blute und nimmer aufh�rte zu bluten.

Das Versprechen war gegeben, Susanna konnte es nicht mehr l�sen, das Versprechen wird gehalten werden. Niemand hatte je erlebt, da� er ein Versprechen brach.

Aber seine Augen wurden brennend und seine Wangen hohl.

Er bet�ubte sich in rastloser T�tigkeit.

In jeder freien Stunde suchte er M�tterchen auf.

Verlassen lag Susannas H�uschen in der Wiese und obschon es im Dampfe der Sonne lag, so sah es doch elend aus. M�tterchen wohnte darin und eine bl�de alte Frau, Eisenhuts Mutter. Alle Knospen brachen auf und die Blumen wuchsen in Susannas Garten bis zu den Fenstern empor. Aber das kleine Haus sah elend und �de aus. Verlassen war es. Die Luft im Zimmer war eine andere, das Zimmer selbst sah ganz ver�ndert aus. Dieses leere Bett, die verwelkten Str�u�e in den Kr�gen, ein paar bestaubte B�cher auf dem Tisch. Selbst die Farbe der W�nde und M�bel schien sich ver�ndert zu haben, auch der Schritt klang anders, wenn man durch das Zimmer ging.

All die sch�nen Tr�ume Susannas waren aus dem H�uschen ausgewandert, all die freundlichen Wesen, die sie im Leben umgeben hatten, sie hatten das Haus verlassen.

M�tterchen sa� still mit der Hornbrille auf der gro�en Nase in einer d�mmerigen Ecke des Zimmers und besserte Susannas Str�mpfe und W�sche aus. Sie weinte nicht, sie sa� da und stopfte und sprach mit Susanna. „Es wird Zeit sein dein Essen zu richten, Kindchen,“ sagte sie. „Huste nicht so viel, Susanna, es schadet dir ja.“

Zweimal kam sie am Abend zu Grau geschlichen und pickte an seine T�re: Ob er die Schuhe noch habe? Ja, dann sei es gut. Sie kam, setzte sich auf einen Stuhl und weinte. Diesem Schmerze gegen�ber war Grau machtlos. Er war so tief und edel, da� Grau auch nicht den Versuch wagte, M�tterchen zu tr�sten, die durch die Nacht geschlichen kam, nur um bei ihm zu weinen. Erst jetzt schien es ihr bewu�t zu werden, da� Susanna tot war.

Grau erf�llte seine Pflichten wie ehedem, abends kam Eisenhut zu ihm zur Stunde. Nach der Stunde plauderten sie eine Weile; sie stellten die Reiseroute zusammen, denn Eisenhut sollte nun bald reisen. Er hatte sich schon sechs gro�e Lederkoffer angeschafft.

Zwischen den beiden hatte sich ein aufrichtiges Freundschaftsverh�ltnis gebildet. Das lange Krankenlager Graus hatte einen ganz ungezwungenen Verkehr zwischen ihnen herbeigef�hrt und Grau brauchte nicht mehr zu bef�rchten, Eisenhut scheu oder argw�hnisch zu machen oder ihn durch seine Bevormundung zu besch�men.

Er hatte Eisenhut vollst�ndig in seine Macht bekommen und war imstande ihn mit einem einzigen Blicke zu beherrschen. Bis auf unscheinbare Dinge selbst dehnte er seinen Einflu� aus. Eisenhut mu�te anders gehen, anders sprechen, den Leuten ins Gesicht sehen, er durfte nie M�digkeit verraten oder unordentlich gekleidet sein.

Eisenhut gab sich alle M�he. Die Arbeit in den Steinbr�chen hatte seine Gesundheit gest�rkt und schon das Bewu�tsein k�rperlicher Kraft machte ihn den Menschen gegen�ber k�hner und sicherer. Er kleidete sich ganz neu und selbst sein Haus war frisch gestrichen, die Wohnung eingerichtet. Er bekam Freude an T�tigkeit und zeigte den Eifer eines Schulknaben f�r alle Zweige des menschlichen Wissens. Er lachte fr�hlich und fast kindisch, wenn sie in den Bildwerken bl�tterten und Grau erkl�rte.

An jedem Ersten erhielt Grau zwanzig Mark von ihm, die er f�r wohlt�tige Zwecke nach Gutd�nken verwenden konnte. Daf�r war ihm Grau sehr dankbar. Denn mit zwanzig Mark — wieviel konnte er doch damit ausrichten! Wenn er in eine Familie kam, wo es am N�tigsten fehlte und sprach und sprach und f�nf Mark auf dem Tischrande liegen lie�!

Bald hoffte er Eisenhut f�r eine gro�e Lebensaufgabe erzogen zu haben.

Wie? Ja, nat�rlich. Eisenhut wandelte sich nur allm�hlich um. Es war noch der alte Eisenhut mit dem gelben Gesicht, dem Spitzbart, den kleinen neugierigen Mausaugen, dem Geiz, dem Argwohn und kleinlichen Gedanken. Zuweilen hatte er auch R�ckf�lle. Er trank, verwahrloste und mied Grau. Aber immer kam er nach einigen Tagen zu Grau zur�ck und Grau f�hlte zu seiner Freude, da� er ihn mehr und mehr in seine Gewalt bekam. —

Einmal hatte Grau in diesen Tagen auch eine Begegnung mit dem jungen Herrn von Hennenbach.

Es war in der D�mmerung und sie begegneten einander auf den Stufen, die zum Marktplatz hinabf�hrten. Herr von Hennenbach gr��te h�flich, auch Grau gr��te. Er blieb stehen und sah den jungen Mann an. Eine Weile standen sie so.

„Bitte?“ sagte Herr von Hennenbach und l�chelte.

Grau sah ihn an.

„Sie verstehen mich nicht?“ fl�sterte er.

Der Freiherr l�chelte und zuckte die Achseln.

„Nein, Pardon — ich verstehe nicht, wirklich —“

Grau sah ihn an und n�herte sich ihm noch mehr. „Ich will Ihnen noch einige Tage Zeit lassen!“ fl�sterte er. „Aber nicht mehr viele!“

„Bitte? Ich kann nicht verstehen?“ stammelte Herr von Hennenbach — aber Grau war schon gegangen. —

Der Sommer war auffallend warm und Grau liebte es, seine freien Stunden in seinem G�rtchen zuzubringen, das eingekeilt zwischen den Nachbarsg�rten mit den hohen schattigen B�umen besonders sonnig aussah. Er pflegte ihn mit aller Sorgfalt. Er kannte hier jede einzelne Blume, ja fast jeden einzelnen Halm. Da konnte er stehen und stehen und sich umsehen und es kam ihm vor, als ob er im Kreise von Geschwistern weile.

Dieses kleine St�ck Land erf�llte ihn mit Andacht.

Das waren ja seine Blumen und Halme, des gro�en Gottes Blumen und Halme, ersonnen von ihm, geliebt von ihm und auf dem kleinsten ruhte der Blick seiner tausend funkelnden Augen. F�r ihn, den Unfa�baren, war dieser Garten so viel wie der Lustpark einer K�nigin und sein g�tiges L�cheln hatte auch ihn gesegnet, da� er ein einziges Wunder war. Es wimmelte von Leben, jeder Zoll des Bodens war bewohnt, belebt, lebendig, jede Scholle eine wimmelnde Stadt, jedes Kr�mchen ein Haus, jede Furche eine Stra�e.

Grau stand und sch�ttelte den Kopf. Er begriff es nicht. Nicht die kleinste Fliege konnte er verstehen. Seht sie an, sie hat Augen, Organe, Fl�gel, sie wei� sich zu bewegen, sie fliegt. Seht den kleinen K�fer an, er hat es eilig, geht seinen Bed�rfnissen nach, er hat zu tun, Tag und Nacht, W�nsche, Verlangen, Gesch�fte, so klein er auch ist — er ist ein Kind des gro�en Gottes und der Unbegreifliche hat nicht vergessen, da� er lebt.

Grau stand und blickte in den Sommerhimmel empor. Er betete. Er betete ohne Worte und ohne Gedanken. Er sandte seine Seele der Heimat zu.

Diese Stunden in seinem Garten waren herrlich und reich. Die Luft schien erf�llt mit Geheimnissen und Liebe und er atmete Geheimnisse und Liebe mit jedem Atemzuge ein. Alle Dinge ringsumher sahen ihn an und sein Gedanke fl�sterte immerzu. Er selbst dachte ja nicht, der Gedanke in ihm fl�sterte und ruhte nicht. Siehst du den Baum? fl�sterte der Gedanke: �ste, Ver�stelungen, Nerven, ganz wie du. Siehst du den Vogel fliegen? wisperte der Gedanke: Bist du nicht selbst ein Vogel? Hast du gesehen, wie junge M�dchen einen Abhang hinablaufen und die Arme bewegen gleich Fl�geln, die Lebenslust auszudr�cken? Wie ein Mensch dem andern Willkommen winkt? Siehst du die Katze? sprach leise der Gedanke: Was zieht dich zu ihr? Was zieht sie zu dir? Ihr seid ja alle das Gleiche, du und die Katze und der Baum — eine verschieden gestaltete, verschieden gef�rbte Blume auf Gottes Acker nur ist der Mensch. F�hlst du die Lebenswelle? fl�sterte der Gedanke: Sie kommt aus dem Unendlichen, da wo die Gestirne funkeln, sie umsp�lt in jeder Sekunde die Erde, Millionen Leben erzittern, erbl�hen, sie jagt dahin, durch dich hindurch, durch die W�lder, das Meer, zur Sonne, zu den Sternen, zum fernsten Sterne, und ist hier und dort, jagt, jagt und hat keine Eile.

Und der Gedanke fl�stert in ihm, fl�sterte, lachte, sang —

Die Sonne ging unter und Grau ging hinein ins Haus und arbeitete. Die Arbeit ging vorw�rts, Ungeduld und Jubel erf�llten ihn. Diese ‚Reden‘! Denn bald wollte er ja hinausziehen und zu den Menschen sprechen, zu den Tausenden, Tausenden!

Neuntes Kapitel

An einem Nachmittage kam Adele zu ihm. Er schrieb gerade, als er ihren Schritt h�rte und hielt die Feder an und erblich.

Sie war ohne Hut und ihre schwarzen Haare rahmten scharf das schmale Gesicht ein. Ihre Wangen waren von der W�rme ger�tet, so erschienen ihre Augen noch heller und lebendiger. Ihre Lippen gl�nzten. Im Winter waren sie schmal und bla�, im Sommer geschwungen und rot, wie merkw�rdig war doch das. Sie trug ein d�nnes Kleid von der Farbe verbla�ter Veilchen, eine gro�e hellrote Koralle hielt es an der Brust zusammen. K�hle und Duft gingen von ihrem leichten Kleide aus.

Sie blieb l�chelnd an der T�re stehen.

„Ich habe Sie wohl in der Arbeit gest�rt?“ sagte sie. „Sie schrieben gerade.“ Sie sah ihn mit klaren Augen an.

„Bitte, es ist eine h�chst nebens�chliche Sache, ich bitte Sie Platz zu nehmen. Sie befinden sich wohl?“

„Wie immer, danke!“ Sie sah sich um und �ffnete halb den Mund, w�hrend sie Graus Zimmer betrachtete. Dann duckte sie den Kopf ein wenig und sah zum Fenster hinaus. „Wie eigent�mlich ist es doch, den Park von hier aus zu sehen!“ sagte sie, ein wenig verlegen, da sie Graus Blick f�hlte.

Sie schwieg und blickte Grau an, der totenbla� aussah.

Da sa� sie und das Licht spr�hte aus ihren Augen, das ewige Licht, das um Gottes Haupt wogt.

Ob eine besondere Angelegenheit sie zu ihm f�hre?

Adele l�chelte fein. „Mu� es denn eine besondere Angelegenheit sein, die mich zu Ihnen f�hrt? Ich denke mir, da� Sie jetzt recht einsam sein m�ssen. Man sieht Sie ja gar nicht mehr. Sind Sie denn immer zu Hause?“

„Im Gegenteil, ich bin viel unterwegs.“

Pause. Adele sah ihn an. „Sie kommen mir ver�ndert vor,“ sagte sie und sch�ttelte den Kopf. „Sind Sie krank? So entsetzlich bleich sehen Sie aus!“

„Nein, ich f�hle mich wohl,“ antwortete Grau und dankte.

Adele blickte ihn pr�fend an. „Sie sehen leidend aus,“ setzte sie hinzu, dann sprach sie von andern Dingen.

Grau war schweigsam. Er sah sie nur und l�chelte. Aber er fand nicht den kleinsten Gedanken in seinem Kopfe.

„Wie wunderbar sind doch die N�chte jetzt!“ sagte Adele, aber sie brach pl�tzlich ab und lachte leise. „Aber sehen Sie doch, da sitzt ja eine Maus!“ rief sie aus.

„Es ist eine zahme Maus,“ sagte Grau und raffte sich auf. „Das hei�t alle M�use sind ja zahm, aber diese Maus hier ist an mich gew�hnt. Sie hei�t Mirza und lebt hier. Sie ist sehr klug und sch�n. Sie ist sehr zutraulich und oft wenn ich ruhig dasitze, knappert sie an meinen Schuhen.“

Adele lachte und sah Grau erstaunt an. „Mit einer Maus leben Sie?“ sagte sie.

„Es ist ja wohl nichts Wunderliches dabei?“ fragte er l�chelnd.

Adele l�chelte leicht. „Sie haben ja auch einen Hund, nicht wahr?“ forschte sie. „Man sieht zuweilen einen gelben zottigen Hund in Ihrem Garten.“

„Ja,“ erwiderte Grau, „aber er ist sehr untreu. Er l��t sich oft wochenlang nicht blicken. Es ist ein verwilderter Hund, dessen Herr gestorben ist, ein Waldh�ter. Ich stelle ihm manchmal etwas Fressen hin. Wollen Sie sehen, wie klug diese Maus ist?“

„Ja!“

„Nun, sofort!“ Grau legte ein St�ckchen Speck auf den Boden in die N�he des Schrankes, unter dem die Maus sich aufhielt. Er stie� einen zirpenden Laut aus. „Vielleicht kommt sie nicht, weil Sie da sind.“

Die Maus hatte das St�ckchen Speck bemerkt, sie streckte die spitzige Schnauze unter dem Schranke vor und lugte mit den runden, gl�nzenden Augen, die wie pechschwarze Perlen aussahen, auf den Speck und auf Adele zu gleicher Zeit. Dann kam sie n�her, lief in einem Bogen um den Speck herum und huschte wieder unter den Schrank. Sie mu�te sich blitzschnell umdrehen k�nnen, denn die spitzige Schnauze wurde zur selben Sekunde wieder sichtbar als der Schwanz verschwand.

„Sie hat einen Versuch gemacht,“ sagte Grau, „ob sie sicher sein k�nne. Nun aber werden Sie sehen, auf welche Weise sie den Speck fortschleppt!“ Er war pl�tzlich gespr�chig geworden.

Die Maus kam wieder unter dem Schranke vor. Sie sa� eine Weile vor dem Speck, dann beschrieb sie einen Bogen und sa� nun so, da� der Speck zwischen ihr und dem Schranke lag. Sie wartete noch ein Weilchen, dann lief sie blitzschnell auf den Speck zu und verschwand mit ihm.

„Es w�re ihr zu gef�hrlich, mit dem Speck im Maule umzuwenden, haben Sie das beobachtet?“ erkl�rte Grau. „So klug ist sie.“ Er erz�hlte noch einige Geschichten von der Maus, dann war er wieder still.

Grau k�mpfte mit dem Gedanken aufzustehen und zu sprechen: —! Aber er tat es nicht.

Pl�tzlich hatte Adele einen Brief in der Hand.

„Ich habe einen Brief f�r Sie,“ sagte sie leise, „er ist von Susanna.“

„Von Susanna?“ Er begriff es nicht. Er starrte Adele an.

„Ja, sie hat mir diesen Brief �bergeben — wann war es doch? — in der Zeit, da sie still lag um Kr�fte f�r die Reise zu sammeln. Da gab sie mir diesen Brief. Ich solle ihn eine Woche nach ihrem Tode abgeben — im Falle sie doch sterben sollte. Ich habe nun gewartet und gewartet, denn es schien mir grausam Sie durch den Brief — nun ich wartete. Aber nun hat mich Susanna sozusagen daran erinnert.“

Grau nahm das Messer vom Schreibtisch und schnitt den Brief auf. Er hielt inne und sagte nach einer Weile: „Sie hat Sie sozusagen daran erinnert?“

Ja, sie habe getr�umt von Susanna und dem Briefe.

„Ich habe ja jeden Tag an den Brief gedacht und an Susanna und schob es doch von Tag zu Tag hinaus ihn abzugeben,“ sagte Adele. „Es ist also nicht zu verwundern, da� ich davon tr�umte. Ich habe getr�umt, ich ginge mit Susanna zum Bade. Wir unterhielten uns und pl�tzlich sagte sie etwas von einem Briefe und ich lachte, denn ich wu�te ja nichts von einem Briefe. Aber am Morgen erinnerte ich mich an den Traum und nahm mir vor, den Brief aus dem Hause zu schaffen.“

Grau sah Adele an.

Und Adele zuckte ein wenig die Achseln und f�gte hinzu: „Ich wollte Ruhe haben. Ich liebe es nicht, an Verstorbene zu denken. Ich wei� nicht warum.“

Sie ging. Grau gab ihr das Geleite bis zur Gartent�re. Man f�hlte, wie man sich durch die W�rme hindurch gleichsam Bahn brechen mu�te, und Duft und Schw�le der Luft bet�ubten ein wenig. Adeles reiches Haar spr�hte wie eine schwarze Flamme und hob sich scharf vom tiefblauen Himmel ab. Es war das einzige ringsumher, das schwarz war, denn alles war gr�n, golden und blau.

An der T�re sagte Grau: „Ich habe geh�rt, Sie reisen bald?“

Ja, bald ginge es fort. Adele lachte und blickte in die Luft empor, wo die M�cken �ber dem hei�en Wege tanzten. „Es ist �brigens nicht ganz sicher, ob ich so bald reise,“ sagte sie. „Aber ich freue mich darauf, fortzukommen, hinaus in die Welt. Nur denke ich zuweilen —“

„Was denken Sie zuweilen?“

„Ich wei� nicht, ob ich f�r die Ehe geschaffen bin, denke ich zuweilen. Wenn ich den Baron nicht so sehr liebte, aber ich liebe ihn ja so sehr.“

Grau sah sie an. Sch�n und stark war sein Blick.

„Nun?“ fragte Adele.

„Es ist mir bange um Sie!“ sagte Grau und er wu�te nicht wie ihm die Worte auf die Lippen kamen.

Adele �ffnete die Lippen und erbleichte ein wenig. „Bange?“

„Ja!“ fuhr Grau fort — und pl�tzlich verlor er die Sicherheit, er wurde verlegen und setzte h�flich hinzu: „Ich bitte Sie recht herzlich, den Schritt reiflich zu �berlegen.“

Adele sah ihn an und ihr Blick senkte sich tief in seine Augen. Sie l�chelte. Sie sch�ttelte leise den Kopf, als ob sie ihn nicht verstanden habe und sagte hauchend: „Adieu!“

„Ja, ich bitte Sie, den Schritt ja zu �berlegen!“ wiederholte Grau.

Adele nickte ihm zu. „Adieu!“ sagte sie und ging langsam und stolz weiter, als ob nichts ihre Ruhe tr�bte.

Grau ging in gro�er Erregung ins Haus zur�ck. Wie kam es doch, da� ich pl�tzlich sprach! dachte er. Ich wollte es ja gar nicht. Adeles Gestalt verschwand zwischen den Zweigen und sein Herz pochte so laut, da� er die Hand auf die Brust legen mu�te.

Nun war sie verschwunden! Er zitterte, mu�te sich setzen, stand wieder auf, streckte die H�nde nach den B�schen aus, hinter denen sie verschwunden war.

Erst nach langer Zeit gelang es ihm sich zu beherrschen. Er �ffnete Susannas Brief und so bald er ihre Schrift sah, wurde er ruhig.

„Mein Geliebter,“ schrieb Susanna, „Du s��ester aller Menschen! Wolle Gott, der Gott an den Du glaubst, Dich gl�cklich machen, gl�cklich und reich. Oft bete ich so.

Ich bin nun tot und wenn Du hundert Schritte gehst, so stehst Du an meinem Grabe. Du sollst es nicht tun, ich will nicht, da� Du oft an mein Grab gehst. Es ist so wenig Sinn darin, denke ich. Kannst Du denken, da� ich vor Dir stehe? Siehst Du meine Augen und kannst Du Dich an meine Z�ge erinnern? Das tue zuweilen! Kannst Du f�hlen, da� ich diesen Brief mit Dir lese und meine Wange an die Deine schmiege, so wie ich es oft getan habe, wenn wir zusammen in den B�chern bl�tterten?

Du sollst nicht an mich denken. Zuweilen, aber nicht oft. Denke an mich, wenn Du fr�hlich bist, aber nicht zu oft. Denke nicht an mich, wenn Du traurig bist.

Vielleicht siehst Du ein M�dchen und Du liebst es. Dann k�sse sie und vergi� mich ganz. Ich will, da� Du gl�cklich bist und Gl�ck um Dich streust.

So spricht mein Herz.

Ja, ich liebe Dich. Bei Gott, aufrichtiger k�nnte Dich keine Frau lieben! Ist es ein Wunder, da� ich �ber diesen Brief weine? Ich liebe M�tterchen, aber ich liebe Dich hundertmal mehr und kenne Dich doch noch nicht lange.

O, du s��ester aller, aller Menschen! Wenn ich nur ein Herz h�tte, so h�tte ich alles gesagt. Aber ich habe zwei Herzen und sie wollen nicht das gleiche.

Mein zweites Herz, das m�chte viele Dinge, die das erste Herz nicht w�nscht. Es w�nscht Dir ebenfalls Gl�ck, aber es ist traurig, da� es dieses Gl�ck nicht mit Dir leben kann.

Es hat gew�nscht, da� Du einmal meine Brust k�ssen m�chtest und nun w�nscht es, da� Du recht oft die hundert Schritte zu meinem Grabe machen w�rdest und Dich niederwerfen und die Erde aufw�hlen — das w�nscht mein zweites Herz und es bebt vor Freude — obgleich mein erstes Herz es nicht wollte. Es w�nscht, da� Du vor Kummer sterben solltest, ja, es w�nscht, da� Du nie mehr eine Frau k�ssest, denn es will Dich ganz allein haben. Ganz, ganz allein.

Mein zweites Herz kennt eine Frau, vor der es zittert. Denn diese Frau k�nnte jede Erinnerung an mich ausl�schen. Ich habe gesehen, wie Du diese Frau anblicktest, es sa�en viele M�dchen in meinem Zimmer, aber Du blicktest jene Frau mit andern Augen an als alle. Mein erstes Herz w�nscht, da� jene Frau Dich liebe, aber das andre zittert davor. La� es ruhig sein und schweigen.

La� mein erstes Herz sprechen: Lebe wohl, Du g�tiger, und vergi� mich so, da� Du nicht mehr leidest. Sei gl�cklich und liebe, liebe alle Frauen, so viele du willst.

Ich bin tot, aber ich komme zu Dir noch einmal, um mit Dir zu sprechen.

S�� ist der Gedanke, s�� und sch�n und er lockte mich. Es ist nicht wahr, was mein zweites Herz sagt: Komm aus dem Tode zu ihm um Gewalt �ber ihn zu haben, um ihn nicht frei zu lassen. Nein. Du sollst ja nur f�hlen, wie sehr ich Dich liebe, da� ich noch nach dem Tode zu Dir zu sprechen w�nsche. Das ist die Wahrheit.

Lieber, es ist all diese Tage ein Gedanke in mir, ich k�mpfe mit ihm. W�rdest Du mir schw�ren, zu keiner andern Frau mehr von Liebe zu sprechen? Mein zweites Herz fl�sterte mir den Gedanken ins Ohr. Wenn ich schwach werden sollte und Du solltest mir das Versprechen geben — ach, verzeihe mir dann, ich bin es ja nicht, die das will — Du bist frei, es gibt kein solches Versprechen! Wie sollte es doch ein solches Versprechen geben!

Lebe wohl, ich k�sse Dich zum letzenmal. Es ist schwer zu gehen, aber lebe wohl. Lebe wohl, ich winke, lebe wohl, Du siehst mich nicht mehr. Lebe wohl f�r immer! Deine Susanna.“

Grau sa� und das Blut scho� ihm in das Gesicht. Dann tastete er sich hinaus, durch die T�re hindurch, in das Schlafzimmer, dessen L�den geschlossen waren. Hier warf er sich auf das Bett und weinte.

Als Eisenhut am Abend zur Stunde kam, fand er Grau in seiner Stube damit besch�ftigt, Noten auf ein Blatt zu schreiben.

„Was tust du da?“ fragte Eisenhut.

„Ich schreibe ein kleines Lied,“ antwortete Grau und l�chelte und Eisenhut wunderte sich �ber seine zitternde Stimme.

„Ein Lied?“

„Ja, ich habe es noch nie getan, es ist mein erstes.“

Zehntes Kapitel

Wie erstaunt war Adele doch, als sie das Gitter �ffnete und pl�tzlich Grau im D�mmerlichte stehen sah. Er wartete hier, das konnte sie wohl sehen.

„Sie sind hier?“ sagte sie und gab sich M�he ihre �berraschung zu verbergen. Sie sah ihn freundlich an und l�chelte leise. Ein seidnes Tuch von roter Farbe lag l�ssig auf ihren Schultern.

Der Abend war soeben gekommen und er war herrlich; die Luft war warm und dicht und man konnte sie gleichsam mit den H�nden greifen. Sie h�llte einen vollkommen ein wie ein warmes Bad. In der Stadt klangen Laute, Singen, Lachen, die Grillen zirpten, die Fr�sche l�rmten in der Ferne, aber hier oben war es auffallend still. Obgleich die Schatten schon tief und verschwiegen lagen, so sah man doch noch Gesicht und H�nde, gleichsam leuchtend. Grau sah jeden Zug in Adeles Gesicht und doch war es ringsum dunkel.

Er nahm den Hut ab.

„Ja, ich bin hier,“ antwortete er und trat n�her. „Verzeihen Sie mir, es ist gewi� nicht sch�n vor einem Hause zu stehen und zu warten. Aber ich wollte nicht hineingehen. Ich warte schon seit vielen Tagen, Fr�ulein von Hennenbach, ich m�chte mit Ihnen sprechen. Ich habe erfahren, da� Sie morgen reisen.“

Adele zog das Tuch fester um die Schultern. „Ja, morgen fr�h.“ Sie l�chelte und schlo� das Gitter. „Es ist ganz zuf�llig, da� ich ausgehe.“

„Ich wu�te, da� ich Sie heute treffen w�rde!“

Adele sah ihn mit gro�en Augen an. „Bitte?“ sagte sie dann und das kleine Wort verriet ihre Bereitwilligkeit ihn anzuh�ren und alle Nachsicht. „Wollen wir ein wenig gehen?“

„Ja, gerne!“

Grau ging still neben ihr her. Adele atmete tief die Abendluft ein und blieb einen Augenblick unter einem Busche stehen, der auffallend stark roch. Er roch wie Vanille. Grau blickte zu Boden, dann sah er Adele an und begann: „Ich habe nachgedacht, ich finde keine Ruhe mehr.“ Er schwieg; wie sein Herz doch schlug! So konnte er nicht beginnen. Er sammelte sich und setzte hinzu: „Sind Sie entschlossen zu reisen?“

„Ja!“

„Wirklich entschlossen?“

„Ja, aber — und weiter?“

„Ich wollte Sie nur dies fragen,“ sagte Grau und senkte den Blick.

Adele sch�ttelte den Kopf und l�chelte. „Ich glaube wohl zu wissen, weshalb Sie fragen, Herr Grau. Sie haben ja vor einigen Tagen schon eine Andeutung gemacht, die ich nicht mi�verstehen konnte! Sprechen Sie, bitte, nicht mehr davon. Sagen Sie doch selbst, kann ich denn das anh�ren?“

„Ich habe Sie verletzt, verzeihen Sie mir!“ sagte Grau.

Adele l�chelte.

„Ich will gerne heute noch ein wenig mit Ihnen plaudern,“ sagte sie leise. „Sie sind mein Freund und dar�ber bin ich froh. Aber Sie m�ssen solche Dinge nicht sagen. Ich freue mich, da� ich Sie noch zuf�llig getroffen habe, aber — nein, nein, nein, all diese Dinge.“

Grau wollte sprechen, aber sie lie� es nicht zu. „Sie sind so merkw�rdig,“ sagte sie und lachte leise, gleichsam heiter, „Sie k�mmern sich um mich, Sie �ngstigen sich um mich — so sonderbar sind Sie manchmal.“

„Es ist vielleicht mein Fehler, da� ich mich zuweilen zu sehr um die Angelegenheiten anderer bek�mmere,“ entschuldigte sich Grau.

Sie gingen bergan. Auf der H�he schimmerte der Widerschein einer erblassenden Abendwolke im Laub der B�ume. Unter ihnen lag die D�mmerung wie ein weiches Dunkel. Es raschelte zuweilen in den Zweigen, das waren V�gel, die zur Ruhe gingen. Es knackte da und dort, aber je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto stiller wurde es. Die Stimmen des Tales waren erloschen und den L�rm der Fr�sche h�rten sie nur noch einmal ged�mpft, als sie einen kreuzenden Weg �berschritten, der wie ein Kamin zur Stadt hinablief.

Dann begann Adele mit gleichm�tiger Stimme zu sprechen. „Sie haben ja Urlaub genommen, Herr Grau,“ sagte sie, „ich habe es gelesen.“

„Ja, das habe ich getan,“ antwortete Grau und dachte an ganz andere Dinge. „Ich habe gemu�t. Der Herr Dekan hat es mir nahe gelegt.“

Wie solle man das verstehen?

„Und doch ist es so. �brigens, wenn der Herr Dekan nicht so liebensw�rdig gewesen w�re, so k�nnte ich nun die gr��ten Schwierigkeiten haben; bei der Beh�rde bin ich schlecht angeschrieben. Man setzte zuerst gro�e Hoffnungen auf mich, aber ich scheine sie leider nicht zu erf�llen. Da kam diese Brosch�re �ber die Gef�ngnisse, andere Flugschriften, das Begr�bnis der Margarete Sammet, dann meine Predigten. Ich kann nichts anderes predigen als was ich glaube. Schwierigkeiten �ber Schwierigkeiten. Dazu kam noch jene Aff�re mit der Kollekte f�r innere Mission. Sie haben nicht davon geh�rt? Auf irgend eine Weise ist n�mlich die Geschichte doch bekannt geworden, obgleich der Herr Dekan in liebensw�rdiger Weise die Sache zu verdecken versuchte. Wie? Sehr einfach. Ich sollte die Kollekte abliefern, aber ich verga� es, zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das passiert, etwas zu vergessen. Ich war in jener Zeit sehr besch�ftigt. Kurz und gut, ich verga� es und der Herr Dekan kam zu einer langen Auseinandersetzung. Er bem�hte sich pers�nlich in mein Haus. Wegen der Gegenst�nde, die ich verschenkt und verliehen habe, obgleich sie zum Inventar des Pfarrhauses geh�ren, machte er wenig Worte. Hm, hm. Aber alle die andern Dinge, diese heillosen Dinge. Besonders die Pfingstpredigt im Freien. Zuletzt kam die Kollekte daran. Ja, bei Gott, ich hatte sie vergessen. Es waren vierzehn Mark. Ich wollte sie dem Dekan geben, ich hatte sie in eine Schachtel gelegt. Aber das Geld war fort, es war gar nichts mehr da. Nun sang zum Ungl�ck der Handwerksbursche im Nebenzimmer und da wurde der Dekan �rgerlich. Es vertrage sich doch nicht gut mit meiner W�rde, Handwerksburschen zu beherbergen — sagte er.“

„Ist denn der Alte noch immer zu Besuch?“

„Nein, ein anderer, ein Freund von ihm. Er hat ihn mir geschickt. Ebenfalls krank und die Papiere in Unordnung.“

Adele lachte leise. „Glauben Sie denn alles, was diese Leute Ihnen sagen?“

„Nat�rlich glaube ich es. Und die Papiere sind wirklich nicht ganz in Ordnung gewesen. Die Kollekte also war verschwunden. Ich habe das Geld am Abend zuvor in die Schachtel gelegt, mu� es aber in Gedanken herausgenommen und verwendet haben — es war ja nicht mehr da. Der Dekan sagte: Nun, Sie haben den Betrag vielleicht verlegt — verlegt — senden Sie ihn mir bis morgen fr�h zehn Uhr, bitte. Er war sehr g�tig, er h�tte mir ja gro�e Schwierigkeiten bereiten k�nnen. Eisenhut lieh mir das Geld gerne und damit war die Sache in Ordnung gebracht.“

„Nach dem Urlaub werden Sie aber wieder hierher zur�ckkehren?“ erkundigte sich Adele.

Grau l�chelte. „Ich glaube es nicht, ich werde wahrscheinlich entlassen werden.“

Adele blieb stehen. „Sie werden entlassen werden?“

Grau l�chelte wieder. „Ja,“ sagte er, „weshalb denn nicht? Ich mache zu viele Schwierigkeiten. — �brigens, um offen zu sein, ich werde selbst um Entlassung einkommen. Ich kehre nicht mehr hierher zur�ck,“ setzte er leise, wie besch�mt, hinzu. „Es gibt so viele Dinge, die sich mit meinen Anschauungen, trotz des besten Willens —“

Was er aber dann beginnen wolle?

Grau lachte leicht. „Das?“ sagte er, „Oh, das macht mir nicht die geringsten Bedenken. Ich finde auch in einem andern Beruf ein gro�es Arbeitsfeld. Ich werde Medizin studieren, ich trug mich schon fr�her mit dem Gedanken.“

„Also Arzt wollen Sie werden?“ rief Adele freudig aus. „Ich liebe die �rzte. Was f�r ein Arzt?“

„Nun, ein guter Arzt, denke ich, f�r die, die krank sind,“ erwiderte Grau l�chelnd.

Sie kamen an eine Lichtung und sahen tief unten die Stadt mit ihren blinzelnden Lichtern liegen. Man sah Adeles Park. Hier duftete es stark nach Honig. Ein Insekt schwirrte �ber den Kr�utern.

„Wie hoch wir doch sind!“

„Ja!“

Sie stiegen h�her und pl�tzlich sahen sie den Mond in einem Himmel so dunkelblau wie ein Kirchenfenster stehen. Er erschien wie ein bleiches Gesicht, das voll namenloser Sehnsucht immerzu in die ferne Sonne starrte. Sie kamen ganz auf die H�he und Adele war �berrascht, eine Ebene vor sich zu sehen. Sie hatte gedacht, es gehe hier wieder bergab. Im Mondschein lag ein kleines kalkwei�es Dorf. Die Ebene sah auffallend hell aus im Licht des Mondes, die Grillen zirpten in den Feldern und ihr schrilles feilendes Gezirpe schien alles ringsum in Silber zu verwandeln. Einen Augenblick lang blickte Adele auf das kalkwei�e, gespensterhaft aussehende Dorf, dann wandte sie sich wieder dem Walde zu. Hier war es warm und schw�l. Der Mond lag in Streifen und silbernen T�mpeln im Walde und auf dem Wege und warf fortw�hrend ein glitzerndes Netz �ber Adele, gleichsam um sie darin zu fangen; sie aber schl�pfte jedesmal aus dem Netze heraus. Sie sah zu Boden.

Wie sch�n war es doch an ihrer Seite zu gehen!

Graus Seele f�llte sich mit Heiterkeit. Er ging leicht und lautlos, er l�chelte, und nie hatte er den Wald st�rker gerochen. Er sah und h�rte mit wacheren Sinnen. So sch�n war alles, solch feine Ger�usche waren da drinnen in der Tiefe.

In seiner Seele begann es zu singen. La� uns gehen durch die W�lder, la� uns wandeln in den Au’n! sang es in seiner Seele ganz von selbst. Er lachte leise und r�usperte sich.

In seinem Kopfe wisperten die Gedanken — und sie fl�sterten im Rhythmus der Schritte. Er wehrte ihnen nicht. Gib deinem Kinde Mondscheinn�chte, fl�sterten sie (weshalb sagten sie doch Kinde?), gib ihm Sonnenschein, Wald und Feld. Gib ihm den Anblick der Tiere. Es ist wichtig, wieviele Sonnentage es erlebte. Die Formen, die Farben, das Werk der Wurzeln, das Werk der Wipfel, sie bauen die Seele und machen sie reich. Von den Tieren lernt es Sch�nheit der Bewegung, Adel des Blickes, Fassung und Ruhe — ohne da� der Mensch es wei� — hahaha — der Mensch wei� ja nichts —

Er lachte leise. Wie merkw�rdig das war! Er verlor alle Befangenheit und er f�hlte wie seine Wangen vor Freude hei� wurden.

„Wie es duftet!“ begann er mit freier klarer Stimme. „Es riecht, als ob der Wald eine Pfanne voll Harz und Wurzeln w�re. So sch�n! Wie regungslos diese Fichten dastehen, nicht wahr? Und sehen Sie die Sterne, die durch die Wipfel blitzen? Da ist besonders ein gro�er, geschliffener Stern, der immer wieder auftaucht und im Walde umherleuchtet, als suche er etwas, etwa Sie. Eben wieder! Wie herrlich! Dann dieser Friede, bei Gott! Er durchdringt einen. Ich habe auch das Gef�hl, als ob der Herr des Waldes in der N�he w�re, der Geist des Waldes. Er schleicht neben uns her, belauscht uns, beobachtet uns, zuweilen glaubt man seine Augen sehen zu k�nnen, aber sobald man hinblickt, zieht er sich ins Dunkel zur�ck. Die Nacht ist wundervoll! Ja, diese Nacht ist so herrlich! F�hlen Sie? Sprechen Sie ein wenig, es ist so sch�n die Stimme einer Frau des Nachts im Walde zu h�ren. Ihre Stimme ist sehr sch�n und weich. Sie sprechen auch ein wenig eigent�mlich, einen fremden Akzent —“

„Das ist gemacht,“ sagte Adele. „Ich liebe das Fremde!“ Sie l�chelte und sah Grau an, dann blickte sie wieder zu Boden und fuhr fort: „Wie leid tut es mir nun doch, da� Sie auf dem Liederkranzball nicht in ein Gespr�ch mit dem Baron gekommen sind, Sie w�rden eine ganz andere Meinung von ihm bekommen haben. Er ist sehr gebildet und sehr klug und liebensw�rdig. Freilich, er ist zumeist so m�de, da� er nicht spricht. Er liebt das Herrische, er hat zwei schwere Duelle ausgefochten; wegen seines Armes konnte er ja nicht dienen, aber er ist trotzdem mit Leib und Seele Offizier. Ich liebe ebenfalls das Heldenhafte, Kampf und Krieg und was es auch sein mag. Das Leben aufs Spiel setzen, ein Leben unter Gefahr — ich liebe das! Der Baron ist ja nicht gerade sch�n, aber er sieht sehr gut aus, m�nnlich sieht er aus, sogar etwas rauh. Aber so soll ein Mann aussehen. Ich habe Ihnen schon gesagt, da� er etwas altmodisch denkt, das ist der Einflu� seiner Familie, seiner Mutter und Tanten — er sagt zum Beispiel, der Mann geh�rt auf die Jagd und die Frau ins Boudoir, der Mann ist der Besch�tzer der Frau und betet sie an, die Frau habe nichts anderes zu tun als sch�n zu sein und ihn zu lieben und ihre Kinder zu erziehen. Nun, Sie sagen gar nichts, Herr Grau?“

„Ich habe kein Recht, mich zu �u�ern,“ antwortete Grau ausweichend.

„So m�ssen Sie es nicht auffassen, Herr Grau.“ Adele lachte leise. „Es ist ja gut, wenn wir uns aussprechen, nicht wahr? Vielleicht tun Sie dem Baron doch unrecht —“

„Ich habe ja gar keine Meinung �ber den Baron,“ entgegnete Grau, „ich kenne ihn ja gar nicht. Es handelt sich ja auch nicht darum, ich glaube nur —“

„Nun?“

„Es ist vielleicht besser, wenn ich nichts sage. Ich habe kein Recht dazu.“

„Aber ich bitte Sie darum, Herr Grau.“

Grau sch�ttelte den Kopf. „Ich habe kein Recht dazu, Fr�ulein von Hennenbach. Aber ich kann eines eigent�mlichen Gef�hls nicht Herr werden — ich f�hle das, f�hle das so unsagbar stark — da� in Ihrem Verh�ltnisse zu dem Baron etwas nicht in Ordnung ist. Verzeihen Sie mir, bitte. Vielleicht ist Ihre Neigung —“

„Ich liebe ihn sehr!“

„Aber vielleicht lieben Sie ihn nicht genug, um seine Frau zu werden?“

Adele blickte auf den wei�en Stamm einer kleinen Birke, der im Mondlicht leuchtete, und sagte: „Ich liebe ihn, ja. Oft denke ich, ich liebe ihn nicht genug, aber je mehr ich ihn kennen lerne, desto mehr liebe ich ihn. Ganz abgesehen davon, zumeist sind sogenannte Vernunftehen gl�cklicher als Liebesheiraten — ich sage ja nicht, da� ich den Baron nicht liebe, aber —“

„Trotzdem erscheint es mir besser, an einer Liebesheirat zugrunde zu gehen als in einer Vernunftehe zufrieden zu werden,“ entgegnete Grau.

Adele lachte leise. „Sie sind ein Tr�umer!“ sagte sie. „Man nimmt die Ehe ja gar nicht so wichtig in meinen Kreisen.“

„Nicht?“ fragte Grau verwundert, beinahe erschrocken.

„O nein,“ sagte Adele und fr�stelte, w�hrend ihre Lippen l�chelten.

„Unm�glich!“ Grau sch�ttelte den Kopf. „Ich habe dar�ber nachgedacht,“ sagte er nach einer Weile, „und die Ehe geh�rt zu jenen Dingen, die ich nie zu Ende denken kann. Es geh�rt ein beispielloser Mut oder ein gro�er Leichtsinn dazu, eine Ehe zu schlie�en. Ja, denken Sie sich: Die Ehe! Sie sind nicht mehr allein, Sie sind zu zweien. Sie haben zu jemandem gesagt, wir wollen bis zum Tode zusammen durchs Leben gehen! Sie sind pl�tzlich ein anderer Mensch geworden. Es ist als ob Sie immerfort einen vornehmen Gast im Hause h�tten. Sie waren vielleicht gut genug, um allein zu sein, aber jetzt finden Sie, da� Sie sich bessern m�ssen, in jeder Beziehung, da Sie den Gast im Hause haben. Wenn Sie allein sind und Sie haben einen schlechten oder kleinlichen Gedanken, Sie sind allein, versuchen Sie mit sich selbst fertig zu werden — nun aber? Wenn er w��te, da� Sie diesen niedrigen Gedanken haben, w�rde er nicht von Ihnen gehen? Beleidigen Sie ihn nicht durch den niedrigen Gedanken oder ein armseliges, kleinliches Gef�hl. Sie m�ssen Ihre Gedanken und Gef�hle veredeln, nun, da Sie den Gast im Hause haben, gleichsam geschm�ckt wie zu einem Feste mu� allezeit Ihre Seele sein. Sie konnten fr�her nachl�ssig und tr�ge sein, aber jetzt w�re es ja eine Kr�nkung Ihres Gastes, Sie m�ssen dreifach eifrig sein. Sie m�ssen den Gast bewirten mit guten Gedanken und gro�en Gef�hlen, Sie m�ssen seiner w�rdig zu werden trachten. Das Leben ist lang und Sie m�ssen doch jeden, jeden Tag und jede, jede Stunde und jede, jede Minute mit einer festt�glich geschm�ckten Seele vor ihn hintreten. Und jeden, jeden Tag, der kommt, m�ssen Sie neu sein, erneuert, denn Sie d�rfen ja nicht still stehen, was w�rde Ihr Gast dazu sagen? Keinen unsch�nen Gedanken, kein unsch�nes Gef�hl d�rfen Sie mehr haben, ja nicht einmal eine unsch�ne Geb�rde — keine M�digkeit, kein Sichgehenlassen — es ist ja schwer, es ist ja unendlich schwer und Sie m�ssen alle Ihre Kraft zusammennehmen, um vor Ihrem Gaste bestehen zu k�nnen, um seine Nachsicht zu verdienen.“

„Ich denke, es ist, als ob die beiden, die bis zum Tode durchs Leben zusammen wandern — als ob die beiden eine Kathedrale zusammen errichten wollten — eine herrliche stolze Kathedrale aus Sch�nheit und Reinheit. Von dem Tage an, da sie einander begegneten, beginnen sie zu bauen. Nur mit den sch�nsten und reinsten Gef�hlen k�nnen sie die Kathedrale errichten. Die beiden sind vielleicht im Leben schon da und dort angestreift — aber die Kathedrale, die Idee ihrer Ehe, die k�nnen sie ja herrlich und gro� errichten. Und die beiden haben vielleicht nicht das Recht, diese heilige Kathedrale zu betreten, die sie bauten und schm�ckten, nein, vielleicht ist die Kathedrale nur ein gro�es k�hles Heiligtum �ber der Wiege ihres Kindes!“

„Ach, es ist ja so schwer, so schwer!“ f�gte Grau kopfsch�ttelnd hinzu. „Und denen, die es wagen, denen soll man Gl�ck und Ausdauer w�nschen! Ja, man soll f�r sie beten. All die Tausende, die es nicht wagen oder nicht wagen k�nnen, die sollen f�r die wenigen beten, die es wagen. Weil es so schwer ist — und so herrlich, es zu unternehmen.“

Adele sah l�chelnd auf den Weg. „Wie Sie es doch auffassen!“ sagte sie leise. „Und die Liebe? Wie denken Sie dar�ber?“

Sie wandte Grau ihre hellen Augen zu.

Grau lauschte. „H�ren Sie das feine Sausen, das rings im Walde geht?“ sagte er. „H�ren Sie es? Bald ist es ferne, bald ist es ganz nahe bei uns. Es macht alles zum Traume, da� wir hier gehen, ist es nicht wie ein Traum? Sind wir nicht wie ein Traum im dunkeln Haupte des Waldes? Ich lebe und bin reich, weil ich hier mit Ihnen gehen darf. Sie h�ren mir zu, wenn ich spreche, wenn ich in meinen d�rftigen Worten auszudr�cken versuche, was ich empfinde, wie ich es empfinde, so geduldig und aufmerksam h�ren Sie mir zu. Ich danke Ihnen daf�r, Fr�ulein Adele. Ich bin Ihr Freund und das macht mich gl�cklich. Sie sagten vorhin, es freue Sie, wie gl�cklich mich das gemacht hat!“

„Sie fragen, wie ich �ber die Liebe denke? Lassen Sie mir Zeit. Sehen Sie wie das Licht �berall glitzert, es h�ngt in Tropfen an den Zweigen, es klettert an den B�umen empor, bis in die feinsten Nadeln! Wie sch�n ist das! Ja, ich sage — Sie singen ein Lied, und es gibt ja wundervolle Lieder — Sie singen es und mitten darin bricht Ihre Stimme — denn pl�tzlich f�hlten Sie, wie sch�n das Lied ist. So ist die Liebe! Es gibt im Werke der Orgel eine Stimme, die die menschliche Stimme hei�t, ein s��er, fl�tender, lebendiger Ton, der durch alle andern T�ne dringt, �ber ihnen schwebt — das ist die Liebe. Ich will Ihnen gern sagen, wie ich dar�ber denke — denn es ist ja so sch�n zu sehen, wie Sie zuh�ren.“

Grau schwieg eine lange Zeit und sah sie an. Er hatte pl�tzlich den Mut zum Sprechen verloren. Adeles Miene hatte ihn betroffen gemacht. Sie blickte auf den Boden, ihr Antlitz war k�hl, fast abweisend, sie l�chelte leise, fast sp�ttisch.

„Nun?“ sagte Adele und sah auf.

Aber Grau schwieg und blickte sie an.

„Sprechen Sie doch!“ sagte Adele ungeduldig. „Sprechen Sie doch. Es ist sch�n Ihnen zuzuh�ren und ich m�chte gern wissen wie Sie �ber dies und jenes denken.“

Er sah, da� sie an der Lippe nagte.

„Was ist Ihnen?“ sagte er. „Ich spreche ja gern, aber was ist Ihnen? Sie erscheinen bedr�ckt, ja, fremd erscheinen Sie mir. Wollten Sie doch gl�cklich sein? Aber Sie sind ja nicht gl�cklich!“

Adele lachte leise. Ja, mein Gott, was tue es? Was schade es im gro�en und ganzen, da� sie nicht gl�cklich sei? Sie rechne stets damit ungl�cklich zu sein und zu werden, es m�sse so sein. Ja, wenn man ihr hier das Gl�ck herlege und hier das Ungl�ck —

„So werden Sie das Gl�ck w�hlen!“ sagte Grau.

„Wirklich?“ Adele sah ihn an. „Nein, nein, ich werde es nicht tun. Ich werde das Ungl�ck w�hlen, es liegt in meiner Natur. Und sobald ich etwas Gl�ck in mir f�hle, zerst�re ich es ja doch! Ich w�rde das Ungl�ck w�hlen —“ sie hielt inne und f�gte z�gernd und leise hinzu: „Oder w�rde ich das Gl�ck w�hlen?“

„Sie w�rden es wohl tun!“ sagte Grau. „Denn alle — wie wir leben — wir m�gen uns noch so gleichg�ltig und trotzig geb�rden, wenn wir allein sind, verzehrt sich unser Herz doch vor Sehnsucht nach dem Gl�cke. Nein, nein, Sie sind in einem Irrtum �ber sich selbst befangen, wenn Sie das glauben.“

Adele nickte. „Ich bin in einem Irrtum — in einem Irrtum �ber mich selbst befangen,“ sagte sie. „Vielleicht, vielleicht? Oft scheint es mir selbst so, Sie haben recht. Oft scheint es mir, als ob ich meine Vision vom Leben verloren h�tte. Was fr�her f�r mich gro� und sch�n war — w��te ich es doch noch! Ich habe mit so vielen Menschen gesprochen, jeder sagte etwas andres und keiner das gleiche, ich habe so viele B�cher gelesen und gelesen und gesucht — jeder gro�e Geist hat mich �berzeugt und mitgerissen — nun wei� ich gar nichts mehr. Wer bin ich eigentlich und was bin ich? Oft habe ich Sehnsucht nach Ruhe, nach dem Vergessen und oft bin ich m�de und ich m�chte mich fallen lassen — wohin ich auch falle. Ja, oft hab’ ich ein Verlangen nach unten — denn da ist kein Kampf mehr, es ist verlockend zugrunde zu gehen und gar nichts mehr zu sein. Oft habe ich diesen Wunsch, es ist die Wahrheit, ach, Sie brauchen mich nicht so entsetzt anzustarren und nicht den Kopf zu sch�tteln — ich kenne mich ja am besten. Wenn ich nun den Baron heirate, was schadet es? Zumal er mir ja sehr sympathisch ist. Sie k�nnen recht haben, es ist vielleicht nicht alles, wie es sein sollte und wie ich es mir w�nsche, aber was schadet es, was liegt schlie�lich an mir? Nichts. Alle machen es so, denn alle werden nach und nach m�de und geben sich auf und gehen nach unten. Vielleicht ist das ein Gesetz der menschlichen Natur? Ach, lassen Sie mich sprechen — ich liebe den Reichtum und der Baron ist reich. Ich habe unaussprechliche Furcht vor Armut und D�rftigkeit — grauenhafte Furcht und vor nichts habe ich solche Furcht wie davor, selbst vor dem Tode nicht. Ich liebe Bequemlichkeit, Luxus und Nichtstun. Ich bin ehrlich und sage Ihnen all das, es ist die volle Wahrheit. Oft denke ich an das Gl�ck und an die Liebe — so fern ist es f�r mich — und ich denke, es ist nicht f�r mich, es liegt nicht in meiner Natur. Wenn ich eine junge Schwester h�tte, die ich liebte, sie sollte es haben, das Gl�ck und die Liebe, die Sch�nheiten des Lebens, sie und ich w�rde es mit ansehen. F�r mich ist es ja nicht geschaffen. Ich h�re Ihnen zu, ja, es lockt mich, aber ich glaube nicht daran, das ist es. Es ist alles so sch�n, zu sch�n, ich glaube nicht daran.“

Sie schwieg und brach einen Zweig in kleine St�cke. Die St�cke streute sie auf den Weg. Das letzte St�ckchen wollte nicht brechen, sie bog es zwischen den Fingern, aber es brach nicht. Sie lie� es fallen.

Ihre Schritte glitten lautlos dahin, denn hier lagen Nadeln und der Weg war von Moos �berwachsen.

Es hauchte hoch oben in den Wipfeln. Wie ein Bach im flachen Lande, mit vielen Inseln und Kan�len und Adern, so flo� �ber ihren H�uptern der tiefblaue Nachthimmel dahin, kleine und gro�e Sterne trieben darauf und glitzerten.

Nach langem Schweigen sagte Grau: „Wir Menschen f�rchten uns ja nicht so sehr vor dem Ungl�ck, aber es graut uns davor elend zu werden!“

Adele zuckte zusammen.

„Davor graut Ihnen ja so sehr!“ fuhr Grau eindringlicher fort, indem er Adeles Arm leise ber�hrte. Ihr erschrockener Blick streifte ihn. „Tag und Nacht graut Ihnen davor. Nicht davor w�rde Ihnen grauen, etwas Schlechtes zu begehen, denn es w�re vielleicht Trotz und Wille und Tat darin, aber es graut Ihnen davor unterzusinken in Unw�rdigkeit. Ich habe auch wieder von jener Frau getr�umt, die Ihnen �hnlich sieht — der Traum erschreckte mich, warnte mich —“

Adele machte eine abwehrende, fliehende Bewegung. Aber Grau ber�hrte wiederum ihren Arm.

„Begehen Sie kein Verbrechen an Ihrer Seele, Adele!“ fl�sterte er.

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich doch!“ sagte Adele bleich. „Weshalb qu�len Sie mich denn?“

Sie legte die H�nde an die Ohren, als Grau wieder zu sprechen begann, und sah ihn mit zu schmalen Spalten zusammengezogenen Augen an.

Grau blickte sie an. Er war bleich vor Erregung.

„Verzeihen Sie!“ stammelte er. „Oh, was habe ich doch getan. Es ist ja so unrecht von mir.“

Er l�chelte schmerzlich und fuhr leise fort: „Ich sehe Sie an, wie sch�n sind Sie doch! Wie Sie den Kopf tragen, Ihr Gang, Ihr Wandeln! Es steht ein gro�er Geist auf und alle Menschen lauschen auf ihn und sie sagen: Der Weltgeist spricht aus ihm. Sie sehen eine Rose an, die Rose ist sch�n, ein eigent�mliches Gef�hl erfa�t sie: Der Weltgeist ist in der Rose, er duftet aus ihr, er gl�nzt aus ihr. Ich sehe Sie an. Adele — der Weltgeist strahlt aus Ihnen! Sie sind seine Priesterin, geschaffen umherzugehen und die Menschen mit Ehrfurcht zu erf�llen vor seinem Werke. Ihre Bahn sollte wie die Bahn eines Gestirnes sein, erhaben und gewaltig und sichtbar allen Blicken. Das ist Ihre Mission, ich will Ihnen sagen, was Ihre Mission ist! Das ist sie! So fasse ich es auf, so scheint es mir. Jeder Mensch mu� doch eine bestimmte Mission haben und das ist die Ihrige!“

Adele hatte die H�nde halb sinken lassen und h�rte ihm zu, den Blick in seine Augen gerichtet.

„Sie sind ein vollendetes Werk des Sch�pfers und haben Ihre Mission zu erf�llen,“ setzte Grau hinzu, „und deshalb hat er Ihnen jenes schreckliche Grauen vor der Unw�rdigkeit in die Brust gelegt.“

„Nein, nein —“ stammelte Adele und entfloh.

„Adele!“ sagte Grau und sie blieb stehen. Ihre Lippen bebten und sie sah ihn nicht an. Sie hatte abwehrend die H�nde an die Brust gezogen und Grau ergriff ihre H�nde.

Er sah sie an und l�chelte wehm�tig und scheu. „Sie sollen nicht vor mir fliehen,“ fl�sterte er, „denn ich habe ja kein Arg im Herzen gegen Sie. H�ren Sie: Einmal lag ich als Knabe in einer Wiese und alles war so wunderbar sch�n, so ganz anders sch�n, und ich h�rte zum erstenmal eine Stimme in mir sprechen. Dieser Augenblick bestimmte mein Leben. Als ich Abschied nahm aus dem Blindeninstitut, da kamen alle meine Kinder und k��ten mich auf die Wange. Alle waren blind und alle spitzten die Lippen und dr�ckten sie hei� an meine Wange. Was ich damals f�hlte! Seitdem �nderte sich abermals mein Leben. Dies sind meine gr��ten und sch�nsten Erlebnisse. Dann sah ich Sie — ich war ja so scheu Ihnen gegen�ber, weil Sie so vornehm und sch�n gekleidet sind und weil Sie so sch�n sind. Aber da� ich Ihr Freund geworden bin, das ist das sch�nste und gr��te Erlebnis meines Lebens, Adele. Aus Ihnen str�mte mir Kraft und mein Leben wird sich �ndern, ich wei� es, vielleicht werde ich jetzt gut und gerecht werden. Ich danke Ihnen, Adele! Sie sollen mir vergeben, alles vergeben. Was ich jetzt sagte, was ich �ber Ihr Verh�ltnis zu dem Baron sagte, alles, alles, ich habe ja nicht das Recht dazu. Als Sie mir sagten, da� Sie reisen wollten, von diesem Augenblick an hatte ich nicht mehr das Recht zu sprechen. Sie wissen wohl warum, Sie wissen es recht gut.“

Adele zog ihre H�nde zur�ck und blickte ihn erschrocken an, aber in ihren Augen begann es zu leuchten.

„Es ist nicht n�tig, da� Sie mir antworten, ich werde Sie nichts fragen. Sie sollen nichts sprechen, kein Wort, ach, das will ich ja alles nicht. Reisen Sie! Reisen Sie ruhig. Ich m�chte nicht auf Ihre Entschl�sse einwirken. Sie gehen, gut, ich bleibe. Sie sollen mir nicht antworten, ich frage nichts, aber ich will Ihnen alles sagen. Ich habe Sie geliebt, als ich Ihr Haar gesehen hatte, Ihren Gang. Das war als ich ankam hier, auf dem Bahnhof. Aber ich habe es nicht gewu�t. Der Schnee lag auf dem Dache Ihres Hauses und er kam mir wie etwas ganz Besonderes vor. Im Fr�hling stand in Ihrem Garten ein bl�hender Apfelbaum und ihn liebte ich am meisten von all den bl�henden B�umen. Nie in meinem Leben werde ich ihn mehr vergessen, seine Gestalt, seinen Glanz in der Sonne, nie mehr, obgleich ich so viele bl�hende Apfelb�ume gesehen habe. Damals wu�te ich das schon! Wissen Sie, wie das ist, Sie sitzen ruhig und pl�tzlich steigt Ihnen das Blut zu Kopf, Ihr Kopf wird hei�, gl�hend hei�, und Sie wissen eigentlich nicht warum — ein Gedanke, eine Ahnung, die in Ihnen aufsteigt! So kam es �ber mich und dann wu�te ich es. Ich habe nicht gegen das Gef�hl angek�mpft, nein, ich habe es nicht getan, denn tat es Ihnen weh, tat es Ihnen Unehre? Ich habe Ihren Namen nie ausgesprochen, aber er war in mir, er lebte in mir verborgen, wie ein Vogel im Walde lebt. Wenn Sie kamen, wenn Sie gingen, wie mir da war! Nie werde ich es sagen k�nnen. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang — und ich sagte guten Tag und Adieu, kleine Worte.“

Je l�nger Grau sprach, desto bleicher wurde er, desto verz�ckter wurde sein rasches L�cheln, desto gl�nzender und begeisterter sein Blick. Adele wich gleichsam mehr und mehr zur�ck, obgleich sie sich nicht von der Stelle bewegte, der Ausdruck ihrer Augen wechselte rasch, Freude, Schreck, Liebe, Scheu.

Aber Grau hielt ihre beiden H�nde und sprach und sprach.

„Ich werde die Stelle in meinem Zimmer nicht mehr vergessen, wo Sie standen, immer werde ich Sie sehen und ob ich auch hundertmal im Tage hin- und herginge. Ich sage es Ihnen, ich mu�, Sie brauchen mir nicht zu antworten. Sie haben mich ja so reich beschenkt —“

Pl�tzlich stockte er, er wurde totenbleich, er zitterte, er schlo� die Augen und schwankte.

„Was ist Ihnen?“ fragte Adele.

Er l�chelte und sch�ttelte den Kopf und �ffnete wieder die Augen. Er atmete tief auf.

„Verzeihung,“ sagte er, „es war nur ein Augenblick — Antworten Sie mir nicht, ich frage nichts, ich will nichts — ich danke Ihnen, da� Sie zuh�rten. Vergeben Sie mir. Reisen Sie! Reisen Sie und werden Sie gl�cklich.“

Adele fa�te Graus H�nde fester, sie sch�ttelte leicht den Kopf, sch�ttelte ihn immerzu, ein feines, frohes L�cheln erschien auf ihren Wangen.

„Nein, nein!“ fl�sterte sie. „Ich werde nicht reisen, nein, nein.“

Elftes Kapitel

Grau ging mit Adele durch den stillen Wald.

„Liebe ist ja alles. Adele, Liebe ist ja �berall, ohne Liebe ist ja nichts,“ sagte er und k��te ihre Hand.

„Sie ist so alt wie Gott und war im ersten Lichte und ist im Licht und ist das Beben des Lichtes. Sie hat alles durchdrungen und du findest kein Atom der Welt, das sie nicht durchdrungen h�tte. Im Schlechten ein gehetzter Funke, im Guten ein Feuer.“

„Ohne Liebe gibt es ja kein Verstehen, ohne Liebe gibt es keine Wahrheit. Sie ist die Seele der Welt, das Geheimnis und sein Schl�ssel. Sie ist das Ganze und der kleinste Teil.“

„Dein Leben ist mein Leben, Adele, dein Tod mein Tod, dein Tag mein Tag, deine Nacht meine Nacht,“ fl�sterte er und k��te ihr die Hand. „Warte.“ Er b�ckte sich.

„Willst du nicht den Tau haben, Adele? Nimm ihn, �ffne deine Hand, da� ich ihn aus den Blumen in deine Hand klopfe. Das ist der Tau, Adele!“

Adele lachte. Niemals lachte sie so gl�cklich.

„Ja, la� uns leben!“ rief sie aus. „La� uns fr�hlich sein und leben. Fliehe mit mir, ich will dein sein!“

— — — — — — — —

Der Tag nahte und Grau sa� oben auf der H�he auf einem Stein. Er regte sich nicht, er sa� wie ohne Leben, er l�chelte m�de, seine Augen leuchteten.

„Es ist zuviel,“ fl�sterte er, „es ist zuviel!“

Die V�gel begannen zu zwitschern. Er h�rte es. Tau fiel ins Gras, kleine glitzernde Welten tropften von den B�umen. Er regte sich nicht. Er lauschte.

Grau, Grau, der Gl�ckliche! zwitscherten die V�gel. Er lauschte: Im ganzen weiten Walde zwitscherten Tausende von V�geln: Grau, Grau, der Gl�ckliche!

Die Sonne ging auf. Er sah sie kommen. Er l�chelte. Feurige Wolken flogen im Osten herauf, Milliarden von Seelen standen auf den goldenen Wolken und winkten und fuhren dahin �ber die Erde. Das Gestirn erhob sich im Triumph. Da gl�nzte die Ebene, da gl�nzte die Welt.

Die Erde ist eine Freudentr�ne, die aus Gottes Auge fiel, dachte Grau und stand auf und badete sein Gesicht im Lichte.

Zw�lftes Kapitel

Grau ging rasch und schwebend einher. Er hatte ein Gef�hl, als sei seine Brust angef�llt mit Licht und blendender Helligkeit. Er sp�rte den Schein seiner Augen.

Alle Dinge kamen ihm ver�ndert vor, sch�ner, verkl�rt, die Blumen leuchtender, die Haut der Kindergesichter heller, die Augen der Menschen strahlender. Als er durch seinen kleinen Garten schritt, der in der Fr�hsonne leuchtete, blieb er erstaunt stehen; er hatte ja nie zuvor gesehen, wie sch�n der kleine Garten eigentlich war. Alle Blumen schienen ihm zuzul�cheln.

Er setzte sich augenblicklich nieder und schrieb fieberhaft einige Briefe. Ja, du guter Gott, was gab es doch alles zu tun! Verbindungen mu�ten angekn�pft werden, alles wollte ja vorbereitet sein. Er wollte arbeiten, arbeiten, Tag und Nacht wollte er arbeiten, es war ja eine Freude, eine Lust. Alles, alles mu�te anders werden, sein ganzes Leben neu; keine Tr�gheit und Schlaffheit mehr, eifriger, reger, t�tiger mu�te er werden!

Dann hatte er eine Unterredung mit Eisenhut. Eisenhut verstand ihn nicht und fragte neugierig, aber Grau lie� sich nicht auf Erkl�rungen ein. Auf Eisenhut war in jedem Falle zu rechnen. „Danke, Eisenhut, Freund! Adieu!“

War es nicht sonderbar, da� heute alle Menschen l�chelten? Da gingen sie dahin mit einem kleinen Gl�ck im Herzen. Grau hatte Lust, ihre H�nde zu erfassen, sie zu umarmen, er gr��te liebensw�rdiger als je, sah ihn jemand an, so hatte er sofort ein freundliches Wort f�r ihn. Die Leute sahen ihm erstaunt ins Gesicht. Ein gl�ckliches L�cheln lag auf seinen knabenhaften, roten Lippen, seine Augen leuchteten wie stille Feuer. Er hatte es sehr eilig und besuchte einen alten Tagel�hner, plauderte mit ihm, ermutigte ihn, dann sprach er mit einem Stadtrat, jenem Messerschmied Ulrich, dessen Bart �hnlichkeit hatte mit einem Zopfe, um dem Tagel�hner einen Platz im Armenhaus zu verschaffen. Hierauf gab er zwei Stunden Unterricht in der Schule und als er damit fertig war, kaufte er f�r zwanzig Pfennig Kuchen und lud sich eigenm�chtig bei der „ewigen Braut“ zum Kaffee ein. Er traf es g�nstig, Fr�ulein Sperling war in festlicher Stimmung. Auf dem Tische stand ein Strau� von Kornblumen, heute war der Geburtstag des Br�utigams. Sie plauderten und zuweilen lachten sie beide laut heraus. Fr�ulein Sperling legte den wei�blonden Kopf auf die Seite und l�chelte Grau kokett zu.

Immer noch stand die Sonne mitten am Himmel! Wollte denn dieser Tag kein Ende nehmen?

Aber endlich wurde es dunkel und Grau verschwand irgendwohin. Er wartete oben auf der H�he. Da sa� er am Rand des Waldes, breitete die H�nde vors Gesicht und lachte und weinte.

Es war ja nicht auszudenken, dieses Leben, dieser Glanz vor ihm, dieser Reichtum, so unerwartet und pl�tzlich! Da� ihm, ihm, ihm dieses Gl�ck beschieden wurde, warum, weshalb? Gerade ihm dieses verwirrende Gl�ck? Er konnte nicht daran denken. Er konnte nicht an die Zukunft denken, nein, das blendete, er konnte nicht an die vergangene Nacht denken, nein, nein, das funkelte. Er h�rte ja immer noch wie die V�gel heute morgen im Walde zwitscherten —

Adele kam nicht in der ersten Nacht, auch nicht in der zweiten und dritten. Aber Grau erhielt ein Billet. „Mama ist nicht wohl. Ich bin dein, warte!“ stand darin, sonst nichts.

Gewi�, er wartete!

— — — — — — — —

„Sch�ne Tage sind nun f�r dich gekommen, mein Herz,“ sprach Grau zu seinem Herzen. „Freude und Gl�ck, du hast Gnade gefunden vor dem Schicksal. Jubele!“

Tag und Nacht pochte Graus Herz laut in der Brust.

„Es ist sch�n geradeaus zu blicken, nach oben und unten, alle Dinge sind freundlich. Es ist sch�n die Augen zu schlie�en und in die Brust hineinzublicken, wo es funkelt von Herrlichkeiten.“

Die Tage waren sch�n, und sch�ner noch waren die N�chte. Die Tage waren sonnig und hei�, die N�chte warm und nahezu silberwei� vom Mond und den vielen, vielen Sternen. Die Stadt lag ganz in Sonne gebettet und funkelte wie ein Schmuck in einem Blumenstrau�. Freundliche Wolken zogen langsam �ber den tiefblauen, gl�nzenden Himmel, oft blieben sie stundenlang an der gleichen Stelle stehen, es war g�nzlich windstill. Manchmal regnete es, nur f�nf Minuten lang, w�hrend die Sonne schien, dann war die Luft um so k�stlicher und alle D�fte des Sommers erwachten um so st�rker.

Es war so sch�n und Grau war so gl�cklich, da� er pl�tzlich zu sich sagte: K�nnte ich mir nicht einige Tage Ferien geben, wie? Zwei, drei Tage, an denen ich nur das Notwendige verrichte? Ja, ja, weshalb nicht, gehen und wandern, schauen und f�hlen.

Er ging und ging und war immerzu unterwegs. Bald ging er in einem Eichenwalde, den die Sonne vergoldete, bald zwischen den Kornfeldern, die sich schwer neigten, wieder da geno� er die leise Musik und Erquickung eines Baches, der sich durch die Wiesen schl�ngelte. Freude erf�llte seine Brust. Er f�hlte sich gesegnet, beschenkt, geschm�ckt. Zuweilen nahm er Adeles Billet aus der Tasche, las es, nickte und steckte es wieder sorgf�ltig ein.

„Ich darf ja nicht daran denken,“ sagte er und lachte und sch�ttelte den Kopf. „Es ist ja zuviel!“

Grau ging auf der H�he, die der Sommer geschm�ckt hatte, es sang und klang im Tale, und er dachte an all das fr�hliche Leben auf der gr�nen Erde. Wie es wimmelte! �berall wimmelte es, in den St�dten, den Werkst�tten, den Bahnh�fen, den Schiffen, den Bergwerken. Und zu denken, da� es immerzu lacht und singt auf der Erde! Da ist die Schule zu Ende, da ist eine Hochzeit, dort ist ein Bankett, ein Ball, diese Stadt hat geflaggt und in jener ist ein Feuerwerk. All die Freude, die jetzt in diesem Augenblick auf der Erde ist! Immerzu lacht und singt es auf der Erde, es lacht, kichert, jauchzt, jubelt. Und weshalb sollten die Menschen auch etwas anderes sein als die V�gel im Walde?

Grau stieg hinunter durch ein schmales sanftes Tal. Das Gras hier war saftig und vom tiefsten Gr�n. Er ging nach Hause und legte sich in seinem k�hlen, d�mmerigen Zimmer zur Ruhe nieder. Augenblicklich schlummerte er ein und obwohl er schlief, empfand er lange noch die K�stlichkeit seines Schlafes. Dann kam ein gro�er Tonk�nstler in seinen Traum, der sich vor eine Orgel setzte und spielte. Grau sa� in einem hohen Stuhle und hatte nichts zu tun als zuzuh�ren. Pl�tzlich brauste die Orgel: Auf, auf! Und er fuhr empor. Ja, es war Zeit, die Sonne war im Begriffe zu sinken.

Die Sonnte brannte noch auf seinem R�cken, als er zwischen Obstg�rten und Weinpflanzungen empor zur H�he stieg. Aus dem Walde hauchte Schw�le, Grau legte sich am Rande in das erfrischend duftende Gras, st�tzte den Kopf in die Hand und begann augenblicklich zu warten, obgleich er wu�te, da� Adele erst kommen konnte, wenn es ganz dunkel war.

Die Sonne gl�hte in den sanften H�henz�gen im Westen, die gleichsam zerschmolzen und sandte breite Garben von rotem Feuer �ber die Ebene. Der Flu� brannte. Die Stadt unten sah aus als sei sie aus einem Berge von dunklem Golde gegraben. Der Glanz erlosch, die W�lder auf den H�hen err�teten. Im Tale stieg blauer Rauch auf wie von einem Schusse, aber er verging nicht mehr, er verteilte sich, wurde dichter und endlich erf�llte der Nebel das ganze Tal. Alle Farben erbla�ten, in der Ferne blitzte ein kleines Feuer, das heller und heller flackerte. Nun war es pl�tzlich still geworden. In der Stadt l�uteten die Glocken und dann war es lange ruhig, bis die erste Grille zu zirpen begann.

Am Himmel flimmerte ein kleiner Stern, dann tauchte der Abendstern auf, gro� und feierlich, wie eine Fackel, die vor der Nacht einherschritt. Und jetzt kam die Nacht.

In der Dunkelheit, da und dort, spr�hte geheimnisvolles Licht, aus der Stille kamen merkw�rdige Stimmen und Laute, der Wald dehnte sich, ein warmer Strom von Wohlger�chen zog daher, die Luft f�llte sich mit Leben. Grau bekam wunderliche Besuche, kleine Milben, das Silber des Mondes auf den Schwingen, K�fer, Spinnen und Falter, fein wie ein St�ckchen Seide, ein Eckchen Samt. Der Himmel war pl�tzlich �bers�t von Sternen, der Mond ging auf.

Die Sommernacht funkelte.

Wenn du das nicht f�hlst? dachte Grau. Vielleicht ist es einerlei ob du gut oder schlecht bist, aber wenn du das nicht f�hlst? Es gibt ja soviel Gutes, das Gute w�chst ja immerzu, eine Schlechtigkeit kann es nicht schm�lern und Gott wird dir vergeben. Er wird dich vielleicht wieder und wieder den Weg des Fleisches schicken, bis deine Seele edel und reif geworden ist, er wird vielleicht dem Trotzigen vergeben und dem Zweifler und seinem Feinde vielleicht, aber wenn du das nicht f�hlst? Wenn du kalt bist und spottest, vielleicht h�tte er dir eher die gro�e Missetat vergeben.

Es rauschte! War sie es, die kam?

Grau wartete. Sein Herz war so reich, da� er die Stunden nicht z�hlte. Er lag im Grase und atmete. Je tiefer die Nacht wurde, desto tiefer atmete er und endlich atmete er wie alles ringsumher, die B�ume, die Gr�ser.

Und er l�chelte.

Zu denken an den gewaltigen Weltenatem! Wie?

Wir sp�ren ihn ja nicht, aber sein Hauch traf auch die Erde, deshalb atmete sie und alles, was auf ihr ist, die Luft, das Meer, das Feuer, die Tiere, alles, alles atmet.

Zu denken, da� das ganze Weltengeb�ude ewig zittert und bis in die kleinsten und fernsten Teile immerzu bebt von der gro�en schwingenden Kraft! Wir f�hlen sie ja nicht, aber sie ist in allen Dingen. Wie die Sterne schwingen, so schwingt die Erde und wie die Erde schwingt, so schwingt das Blut in den Adern der Menschen.

Und �berall pocht und pulst und bebt es! In den Urw�ldern, den S�mpfen, wo es gurrt und miaut, in der Brust der V�gel und des Tigers, der auf Raub ausgeht, �berall pocht es, die ganze Welt ist ja nichts als ein einziges gro�es pochendes Herz!

Zu denken, da� sie nichts ist als ein gro�es pochendes Herz! All, all das zu denken!

Grau schwindelte und er sch�ttelte den Kopf.

Da knackt es und Schritte kamen. Adele? Nein, es war ein Reh, das aus dem Walde trat um zu �sen, ein feines, junges Tier, das sich zierlich auf den d�nnen L�ufen bewegte.

Und wieder wartete er und lie� sich von seinem Gl�cke dahintragen. Es schaukelte ihn wie ein warmes, funkelndes Meer.

Er lauschte erstaunt: In seinem linken Ohre sang jemand ein Lied!

— — — — — — — —

Nahm es denn kein Ende, dieser Reichtum, dieses Gl�ck? Zuweilen fuhr es �ber ihn dahin wie ein hei�er, erstickender Sturmwind, zuweilen sang es ihm leise und fein wie eines Vogels Stimme, zuweilen lag es vor ihm ruhig und unendlich wie ein goldenes sanftes Meer.

Unaufh�rlich spielten die Gedanken in seinem Kopfe, seine Augen waren sch�rfer geworden, seine Ohren feiner, sein Gef�hl lebendiger. Er f�hlte wie das Zittergras zitterte, er f�hlte es, wie all diese kleinen wundersch�nen Herzen des Zittergrases bebten, er f�hlte wie der Zweig eines Baumes schwankte. Es war so sch�n in dieser Welt zu leben, wo alle Dinge so sch�n und sinnreich waren, selbst die unscheinbarsten. Da hast du die Blumen, ganz schlichte unscheinbare Blumen, sie haben die Farben der Sonne aufgesaugt und strahlen sie zur�ck, sie sind aber nicht nur sch�n, sie stehen nicht umsonst da, sie sind notwendig f�r die Quellen und die Luft; da hast du die Biene, sie geht nach Honig aus, aber sie ist nicht umsonst da, sie befruchtet die Blumen. Da hast du —. Alles, alles verschlingt sich, verwebt sich, jedes kleinste Ding hat Beziehung zu dem Ganzen, geheimnisvollen Zweck, es wirkt und dient, auch der Mensch, nichts anderes als ein Faden in dem r�tselhaften Gespinst der Welt ist er. Er mag ein Unternehmer sein, der eine Eisenbahn baut, ein Erfinder, ein K�nstler, ein Denker, einerlei — er arbeitet f�r Geld und Ruhm, ja, und doch dient und wirkt er, ob er will oder nicht, der Unternehmer, der die Bahn baut, dient der Verbr�derung der Menschen, der Erfinder spart ihnen Zeit, der K�nstler verfeinert Sinne und Geschmack, der Denker vertieft ihren Sinn — alle, alle arbeiten sie f�r den kommenden Menschen, der die Sehnsucht und der Traum der Erde ist. Ein Faden im Gespinste der Welt ist der Mensch, verwebt mit dem was lebt und tot scheint, verwandt mit dem Grase und der Eiche, dem Pferde, der Luft und den Sternen.

„Weiter, weiter! Gehen und wandern!“

Der Wald war pl�tzlich zu Ende und Grau trat in die blendende Sonne. Er prallte zur�ck. Was war das, was mitten im Tale stand in der flimmernden Sonne? Ja, das war er, er, der Mensch, das Phantom Mensch! Seine F��e standen im Tal und sein Haupt reichte bis in den blauen �ther hinein. Sein Leib leuchtete in der dampfenden Sonne, seine Augen strahlten wie Sterne.

Die Erscheinung zerrann im Augenblick wieder. Grau schlo� die Augen, eine ungeheure Ersch�pfung l�hmte seine Glieder. Er setzte sich in das Gras und l�chelte. Wie herrlich war es doch gewesen? Wie wunderbar das Leuchten dieser erhabenen Augen, nie mehr w�rde er es vergessen! Ja, das war er, dachte Grau, der Mensch, das Phantom! Der Mensch mit seinen Gebr�uchen und Sitten, seinen St�dten, seinen Kathedralen und Tempeln, seinen Statuen und Gem�lden, seinen Symphonien, seinen Geweben und Maschinen, seinen W�nschen, seiner Sehnsucht, seinen Religionen, seinen Hoffnungen, seinem Schmerz, seinem Wahnsinn, seiner Liebe und seinem Ha�, st�rker als der Elefant, schneller als der Vogel, mit k�stlichern Ges�ngen als des Vogels Lieder sind.

Hast du dem Menschen schon ins Auge geblickt, wie es gl�nzt und dunkelt und blitzt unter der Wimper, die sich hebt und senkt, hast du schon gesehen wie sich seine Lippe schwingt? Ja, auch sch�n ist der Mensch.

Ich und du, wir sind ja nur zwei Halme am Rain, ein Volk wie ein Baum, der seine Zeit hat, aber der Mensch ist ein Phantom, das unverg�nglich ist und w�chst und w�chst! —

Wie er in der Sonne stand, dachte Grau, ich sah ihn ja ganz deutlich, wie k�hn, wie herrlich, nie mehr werde ich diese Erscheinung vergessen.

Er sprang auf. „Weiter, weiter, gehen und wandern, meine reichen Tage sind gekommen.“

Dreizehntes Kapitel

Grau erhielt einen Brief von Adele. „Warte! Mama ist besser, ich will mich ihr anvertrauen. Habe Geduld!“ Er traf die Schwestern Sinding auf der Stra�e und wechselte einige Worte mit ihnen. Zuf�llig kamen sie auf Adele zu sprechen.

„Wir trafen sie bei unserer Stickmamsell,“ sagten die Schwestern. „Sie soll ja in den allern�chsten Tagen reisen.“

„So?“

Grau l�chelte so eigent�mlich, da� ihn die M�dchen erstaunt anblickten.

Ja, gewi� w�rde Adele in den allern�chsten Tagen reisen, nur wu�te niemand wohin und mit wem. Der Stadt stand eine kleine �berraschung bevor.

Grau war nicht ungeduldig, er wollte gerne warten, Wochen, Monate, Jahre, wenn es sein mu�te, es war ja sch�n zu warten, er war dankbar, da� er es durfte.

Mit jedem Tage wurde sein Herz reicher, es frohlockte, es sang in seiner Brust. Er ging durch die Wiesen, die Felder, hinauf, hinab, bald waren seine Schuhe staubig, bald blank vom Grase. Er blickte ringsumher, seine Augen waren heller, goldener geworden in den letzten Tagen, er l�chelte und seine Wangen waren rot, er sang leise vor sich hin, zuweilen lachte er und er h�tte nicht sagen k�nnen, wor�ber er gelacht hatte. Ganze Strecken lief er dahin, den Hut in der Hand, die l�chelnden Augen auf den Boden geheftet. Alle Dinge sprachen zu ihm, es str�mte von allen Seiten auf ihn ein, unausgesetzt, und dabei pochte immerfort das Herz in seiner Brust, pochte und klopfte und zitterte. Reiche Tage waren das.

Wie aber waren Graus N�chte?

Diese warmen, feierlichen, funkelnden N�chte, nie w�rde er sie vergessen k�nnen! Wenn er oben am Waldrand lag und zu dem gestirnten Himmel emporblickte. Sterne hier, Sterne dort, Sterne �berall. Es war kein Platz am Himmel leer. Da schimmerten sie, die gro�en Sternbilder spannten sich gewaltig aus, eine aus flimmernden Sternen gef�gte m�chtige Br�cke stieg herauf, stieg empor, verschwand in den dunkeln Tannen. Aber wenn man hinein blickte in eine Gruppe von Sternen, so entdeckte man zwischen den kleinsten Sternen abermals Sterne, feine F�nkchen, Stiche. Da leuchteten gro�e Sterne, die man mit Ehrfurcht anblickte, kleine, die man lieben durfte. Sternschnuppen fielen, oft kurz, gleichsam entschl�pft und wieder erhascht, oft lange Streifen, die hinter dem Horizonte verschwanden.

Grau konnte stundenlang in die Sterne blicken. Sie entz�ckten ihn. Sie zogen ihn an. Sie winkten ihm. Verwunderung und Staunen �berkam ihn, Furcht, Schrecken, Grauen, Freude. Wie die Ameise im gro�en Walde, so war er unter den Gestirnen. Er konnte wandern, Millionen Jahre und w�rde ihnen nicht n�her kommen. Auf tausenden von Planeten sa� in dieser Stunde ein ihm verwandtes Wesen und starrte und starrte in die Gestirne, schwindelig vor Entz�cken und Grauen. Schrecklich ist es f�r den Menschen an den unendlichen Raum zu denken. Fernen, Entfernungen, Leere, kein Laut, von den unverst�ndlichen Lichtsignalen zahlloser Sternenheere durchzuckt. Er taumelt, er m�chte schreien und doch denkt er wieder und wieder daran. Vielleicht aber t�nen da drau�en Melodien, vielleicht ist der Raum nicht leer, sondern von Geistern erf�llt. Vielleicht ist er die Wohnung Gottes und pl�tzlich k�nnte den Menschen die furchtbare Frage treffen: Was wagst du es?

Schrecklich ist es f�r den Menschen, ein Punkt am Rande der Unendlichkeit zu sein.

Grau zitterte. Er regte sich lange nicht. Scheu erf�llte ihn. —

Alle N�chte waren verschieden und jede Nacht erlebte Grau anders, eine Nacht machte ihn reicher als die andre. Jede Nacht hatte ihr besonderes Schweigen, ihren besonderen Geruch, ihre besonderen kleinen Laute. Der Wald war in jeder Nacht ein anderer. Bald fl�sterte er, bald sch�ttelte er sich, er konnte sein wie ein Mensch, der im Traume: Ja, ja! murmelt, wie ein junges M�dchen, das im Traume kichert. Und er konnte schweigen, so tief.

Zuweilen h�rte man tief im Walde einen hohlen Ton, als ob ein Stein ins Wasser falle. Knistern, Laute. Jemand ging im Moos, ein Schritt glitt in der Dunkelheit? Sang es nicht tief drinnen im Walde?

In einer Nacht wimmelte die Luft von Milben und Faltern, in der n�chsten da war kein Leben, eine Nacht war still, kein Blatt regte sich, in einer andern da koste ein leiser Wind vom Abend bis zum Morgen mit dem Grase wie mit einer Geliebten.

Die Stadt mit ihren buckligen D�chern und blinzelnden Lichtern erschien wie eine gro�e warzige Kr�te an der Edelsteine funkeln. Da lag sie und kroch an den Flu� um zu trinken. Oft war die Ebene wie schwarzer, weicher Sammet, aber im Mondschein konnte sie sein wie ein See mit kleinen wandernden Silberwellen.

Einmal entlud sich mitten in der Nacht ein Gewitter. Gespensterhafte Wolken flogen daher, die vom Himmel bis zur Erde herabhingen und die D�cher der Stadt zu streifen schienen. Sie waren tiefschwarz, aber pl�tzlich zerrissen sie und Grau sah in eine riesige Schmiede hinein, wo w�tende Schmiede arbeiteten. Die Funken spr�hten, die H�mmer dr�hnten, die B�lge heulten. Die Wolken jagen �ber die H�he und nun rieselten die Blitze gleichsam �ber den Wald und Grau stand inmitten von Feuer. Das liebte er. Das Gewitter war kurz aber es hatte in Grau ein gro�es Erstaunen zur�ckgelassen, so da� er lange nichts andres denken konnte.

Wieder, da war die Nacht s�� und tr�umerisch und Graus Herz war still und l�chelnd und voller Liebe.

„Den Kindern Rosen auf die Wangen, wenn sie schlafen,“ dachte er, „und sonnige Wiesen, wenn sie wachen, den Geknechteten g�tige Anw�lte unter den M�chtigen der Erde, dem Verzweifelten einen Freund!“

„Ich m�chte der Traum sein und des Nachts vor den ge�ngstigten Menschen tanzen und spielen, ich m�chte ein Vogel sein und mich auf die Gitterst�be des Gef�ngnisses setzen und meine sch�nen Farben zeigen.“

„Ich m�chte ja, da� das Korn selbst auf den D�chern der H�user wachse und die Tannen Wein und Fr�chte tragen, damit es keinen Hungernden mehr g�be.“

„Dann m�chte ich Str�me von Freundschaft aussenden in die Lande, damit der Hader und Zank endigte.“

„Dann m�chte ich Blitze von Sehnsucht aussenden, damit sich alle Herzen entz�ndeten zu friedevollem Wettkampfe. Das m�chte ich!“

Und Grau, der im Grase lag und ein heiteres Herz hatte, winkte leise mit der Hand und sagte: „Allen, allen Menschen einen Gru�! Dir und dir! Dem Mi�mutigen einen Gru�, von jeder Glocke, jeder Geige, jeder Fl�te will ich ihm einen Ton schenken, von jedem Vogel ein Federchen, das er entbehren kann, von jeder Blume ein bi�chen Duft: Damit er fr�hlich werde! Dem Fr�hlichen einen Gru� und dir, du sch�nes M�dchen, das jetzt lacht, einen Gru�, und dir, dem Schwarzen einen Gru�, der jetzt im hei�en Schiffsbauche arbeitet und gl�ht im Feuerschein! Allen, allen einen Gru�!“

Die sch�nste Nacht aber war die letzte Nacht, da Grau wartete.

Er war betroffen, als er auf der H�he ankam und sich umblickte. Das gl�nzte! Der Flu�, die Stadt, die Ebene, die H�henz�ge, alles gl�nzte!

Grau war betroffen und sein Herz stand still. Da stand er und staunte. Das war ja sein Glanz, des gro�en Gottes Glanz, der auf Feldern und W�ldern und D�chern und Graus Hand lag! Niemals hatte er diesen Glanz vorher gesehen. Das Firmament, war es nicht wie ein glei�endes Antlitz, das sich �ber die Erde beugte?

Gott?

Der Furchtbare, der Pflanzen und Getier tr�umte? Unfa�bare Formen, verwirrende Gebilde. Sein Gedanke ward zum Feuer, sein Atem zum Gesang, seine Blicke schleuderten die tanzenden Sterne in den Raum, sein Blick fiel auf die Erde und aus dem dunkeln Haupt der Erde sprang der Mensch. Das Heben seines Lides kann das All zerschmettern, das Senken seines Lides ein neues schaffen und alles kreist und bl�ht wie zuvor.

War er so? Er, er? Er, nach dem die menschliche Sehnsucht irrt wie ein Hund, der die Spur des Herrn sucht.

Ist er �berall? Im Grase, im Baume, in der Katze, die �ber die Mauer schleicht und in mir? Blickt er ewig auf mich mit einem seiner ungez�hlten Augen? Oder blickt er aus mir, pocht er in mir, ist er ewig in mir, in jedem Gef�hle, folgt er mir jetzt in meine Gedanken? Duftet er aus der Blume?

Ist er in den Sternen, im Licht?

Oder ist er fern von allem, fern, fern von der Erde und wirft nur in Millionen Jahren einen Blick auf sie.

Ist er in der Bewegung — oder ist er das Einzige, das ruht?

Es ist ja nicht mehr wie fr�her, da er in einem Garten mit den Menschen wandelte, oder im Donner redete oder auf einer Wolke dahin fuhr.

Wir k�nnen ihn ja nicht mehr denken — aber w�re er nicht weniger gro�, wenn wir ihn denken k�nnten?

Er ist eine Sehnsucht!

Pl�tzlich erstarrte Grau: Ist es verboten an ihn zu denken?

Verboten, verboten? Die Sterne blickten ihn an, Glanz blendete ihn. Er zitterte, sein Herz stand still und das Blut gl�hte in seinem Kopfe. Er hatte Furcht, entsetzliche Furcht. Er erbleichte und verh�llte sein Gesicht.

Wozu fragen, wozu denken, wozu Worte? Niederfallen, knien, sich beugen, beten, das ist alles, es gibt nichts andres.

Grau ging hinein in den Wald, wo es ganz dunkel war.

„Vergebung!“ sagte er. Der Wald rauschte.

Durch die dunkeln Wipfel blitzte ein Stern. „Goldener Gott!“ fl�sterte Grau. „Auch hierher folgst du mir?“ Er schlo� die Augen — da f�hlte er den Duft des Waldes. „Auch hierher? Das alles ist zu gewaltig f�r ein Menschenherz.“ Er roch den Duft nicht mehr, da begann sein Herz zu pochen, f�rchterlich schlug es. „Auch hierher folgst du mir!“

Sein Herz stand still, da begann ein gro�es Auge in ihm zu funkeln. — Er kniete nieder und beugte das Haupt. —

Als Grau nach langer Zeit wieder aus dem Walde trat, war er ganz bla� und ersch�pft. Er l�chelte matt und seine Augen standen voll Tr�nen. Er hatte gebetet zu seinem Gotte und ihn um Kraft angefleht, Adele w�rdig zu werden.

Nun f�hlte er sich stark und frei. Nie hatte er sich freier und gl�cklicher gef�hlt.

„Komm, Adele!“ rief er. „Ich bin bereit! Komm!“

Vierzehntes Kapitel

Am andern Tage kam Adele zu Grau.

„Ich komme um mit dir zu sprechen,“ begann sie hastig und streifte Grau mit einem raschen, scheuen Blick. Ihre Wangen waren ger�tet, aber pl�tzlich erbleichte sie. Sie nahm auf einem Stuhle Platz und beugte den Kopf, so da� ihr Gesicht fast ganz unter dem hellen Sommerhut, der mit gro�en wei�en Federn geschm�ckt war, verschwand.

„H�re mich an, liebster Freund,“ fuhr sie nach einer Weile ruhig fort und wandte Grau den Blick zu, „ich werde dir alles sagen. Unterbrich mich nicht, la� mich sprechen, du wirst mich verstehen. Du hast gewartet, du lieber Freund, viele N�chte — ich konnte aber nicht abkommen. Es war ganz unm�glich. Mama f�hlte sich nicht wohl. Und dann hat man mich auch f�rmlich bewacht. Sie wu�ten, da� ich nachts fort war, mein Gott, wie sie es herausgebracht haben, das wei� ich nicht. Auch der Baron wu�te es, an seinen Blicken konnte ich sehen, da� er es wu�te. Aber er machte nicht die kleinste Anspielung. Papa gab eine Einladung — ich konnte ja nicht gut wegbleiben? Jeden Abend gab es etwas anderes und dann f�hlte ich mich auch stets bewacht. Einmal da kam das f�rchterliche Gewitter. Du sollst alles h�ren! Du ahnst es gewi�. Ich sah es dir an, auf den ersten Blick. Es war sch�n, als wir oben im Walde gingen, so sch�n war es. Ich werde diese Nacht nicht mehr vergessen, nie mehr! Wie herrlich du gesprochen hast, �ber die Ehe und �ber alles, ja, ich werde es nicht mehr vergessen. Was f�r sch�ne und tiefe Gedanken wohl in deinem Kopfe sein m�gen! Ich liebe das! Ich liebe dich auch, glaube nicht, da� ich dich nicht mehr liebe, oder da� ich dich weniger liebe. Nein, nein. Ja, wie wir doch zusammen gingen und sprachen wie wirkliche Freunde. Ich denke immer daran. Als du mir den Tau gabst, da lachte ich, ich f�hlte mich so frei. Ja, da war ich gl�cklich, in diesem Augenblick! — Ich liebe deine Gedanken, ich liebe es wie du f�hlst. Du hast mich f�rmlich berauscht. Und deine Augen! Sie waren so sch�n, sie sind so sch�n, wie waren sie doch? Wie am Liederkranzball, du sahst mich an und ich konnte nicht mehr tanzen. Man spricht hier viel von dir. Man sagt, du habest eine solch eigent�mliche Macht �ber die Menschen. Eine Dame hier batest du um ein altes Bett, sie hatte gar kein altes, aber sie gab dir ein neues. Sie selbst hat es mir erz�hlt, sie konnte nicht anders. Es war dein Blick, sagte sie.“

„Es ist mir schwer zu sprechen, wenn ich in deine Augen sehe.“

„Aber doch mu� es sein, doch mu�t du alles h�ren.

Es war so wunderbar in jener Nacht, wie ein Traum war es. Ich liebe dich, es ist wahr. So deutlich empfinde ich es jetzt, da ich dir nahe bin. Ja, wie hast du mich doch gek��t, ich mu�te immer daran denken. Du liebst mich, gewi�, aber ob deine Liebe nicht erblassen w�rde, wer sollte das wissen k�nnen. Ob unsere Liebe immer so gro� und sch�n bliebe? Vielleicht w�rden wir nie wieder so empfinden k�nnen wie in jener Nacht. Es ist nicht m�glich, denke ich, die Liebe hat ihre Zeit wie alles andere und dann ist sie vorbei. Ich wei� auch nicht, ob ich dich immer so lieben w�rde. Ich wei� nicht einmal, ob ich wirklich lieben kann? Sage nichts. Es ist wahr, ich liebe Mama, aber eigentlich liebe ich doch nur mich allein.“

Ihre Lippen bebten, sie fuhr fort: „Ich wollte mit dir fliehen, nur weit fort von allem, glaube mir, ich wollte es. Als wir die Abendgesellschaft im Garten hatten, da dachte ich nur an dich. Nun wartet er, dachte ich, er wartet! Ich habe nur an dich gedacht. Am n�chsten Abend, da konnte ich nicht fort, weil ich mich bewacht f�hlte. Ich habe mir alles �berlegt. Es kam mir so sch�n vor, so wundervoll. Ich wollte jeden Abend zu dir kommen und doch bereitete ich nebenbei alles zur Abreise mit dem Baron vor. Dann dachte ich, ob ich das ertragen w�rde auf lange Zeit? Du bist du, aber ob ich das ertrage, immer in dieser reinen und sch�nen Welt zu leben, immer diese Gedanken zu haben? Nein, ich glaube nicht. Du hast mich berauscht, so war es. Schon als ich dich zuerst sah, hatte ich ein so eigent�mliches Gef�hl. Wenn ich doch w��te, wie er ist, dachte ich. Es zog mich zu dir. Du hast mich trunken gemacht in jener Nacht. Ja, so k�nnte es sein, es k�nnte ja so sein, das w�re das Leben — aber ich bin ja nicht daf�r geschaffen. Ich liebe dich, aber auch du bist nicht der Rechte f�r mich. Ich mu� es sagen, verzeihe mir, ich will ja ehrlich sein. Du nicht und auch der Baron nicht. Sprich nichts, la� mich alles sagen.“

„Ich habe mich neulich auch �ber den Baron ge�u�ert, ich habe gesagt, er ist beschr�nkt und in mancher Beziehung roh, das tut mir nun leid, denn er hat mir und meiner Familie nur Gutes erwiesen. Er hat andere Gedanken und vielleicht sind sie nicht so sch�n und gro� wie die deinigen, er ist auch nicht herzlos, er verbirgt nur sein Herz. Doch wozu sage ich all das? Er ist mir nicht unsympathisch, das wolle ich sagen.“

Sie schwieg und wandte die hellen, von den schwarzen Wimpern ums�umten Augen dem Fenster zu und sah hinaus in den Garten. In Eisenhuts Kirschb�umen l�rmten die V�gel. Ihr Blick ging in die Leere, sie sah nichts. Sie nagte an der Lippe. Dann wandte sie das Gesicht Grau zu und sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an. Sie l�chelte schmerzlich. „Ich habe meinen Entschlu� gefa�t,“ fuhr sie leise fort, „er ist nicht mehr zu �ndern. Ich will dir sagen, warum du nicht der Rechte f�r mich bist. Du bist zu gut und fein. Du w�rdest mich nie zu etwas zwingen und ich w�rde nie Furcht vor dir haben. Ich sage ja nicht, da� ich das w�nsche, aber du solltest ein starker Mann sein, vor dem man Furcht haben k�nnte! Verzeihe mir, es ist ja so schwer f�r mich, die richtigen Worte zu finden. Es w�re sch�n mit dir, ich f�hle es, ich habe getr�umt und getr�umt, aber du bist doch nicht der Rechte.“

„So bleich bist du, totenbleich, aber du bist doch ruhig. Ich liebe dich, ach, glaube doch nicht, da� ich dich nicht mehr liebe! Du hast vielleicht gr��ere Kr�fte in dir und bist vielleicht viel st�rker als all die andern, die sich so stark und hart geb�rden. Du gebrauchst deine Kraft nur nicht. Aber trotzdem bist du nicht der Rechte — auch der Baron nicht. Aber es mu� ja sein! Du sollst mein Freund sein, ja immer, immer werde ich an dich denken und davon tr�umen, wie es w�re, bei dir zu sein! Aber es ist ja unm�glich.“

„Ich sagte, ich will dein sein und vielleicht sollte ich es auch. Aber du bist nicht ganz der Richtige, nun sollte ich auch keinem andern geh�ren. Aber das geht ja nicht. — Ich kann dir ja nicht alles sagen! Wie es bei mir zu Hause steht! Mama sollte in B�der, aber wir sind ja nicht so reich, mein Bruder verdient nichts, die Pension meines Vaters reicht nicht weit. Und ich, auch ich koste Geld — so t�richt ist das Leben, alles, alles kostet Geld — und die B�der, die Mama aufsuchen soll — es kann ja nicht sein. Versprich mir, es ruhig zu ertragen, sei gro� und stolz! Es mu� ja sein. Sage kein Wort dagegen, ich habe alles �berdacht. Du selbst hast ja gesagt, der Baron sei ein sympathischer und guter Mann, nicht wahr. Er liebt mich, er wird alles f�r mich tun, vielleicht w�re ich ja mit dir gl�cklicher geworden. Aber es ist ja nicht m�glich.“

„Es war nicht leicht f�r mich zu dir zu gehen und all das zu sagen — beinahe h�tte ich dir nur einen Brief geschrieben. Ja, ich habe es getan, drei Tage schrieb ich daran — aber dann habe ich so gro�e Sehnsucht gehabt, dich noch einmal zu sehen. Du bist so sch�n, das habe ich gedacht, als ich dich zum ersten Male sah. Wie deine Augen gl�nzen. Sie gl�nzen genau wie Susannas Augen, wenn sie Fieber hatte. Wie gut bist du auch gegen Susanna gewesen!“

Adeles Lippen bebten. „Lebe wohl!“ sagte sie.

„Es gibt ja keinen Ausweg. Du wei�t nicht alles. Was k�nnte ich tun? Nichts w�rde etwas helfen. Es hat nichts geholfen, da� ich zu Eisenhut ging und mich vor ihm dem�tigte und ihn streichelte — wie ein Tropfen auf einen hei�en Stein war es ja — es hat auch nichts geholfen, da� das Haus abbrannte — es mu�te ja brennen! — es mu�te ja brennen! — auch das hat nichts geholfen. Ich liebe Mama. Aber das ist nicht alles. Ich liebe mich! Ich habe Furcht vor der Armut, schreckliche Furcht vor der D�rftigkeit, das ist die Wahrheit. Ich habe auch den Wunsch alles zu zerst�ren und auch mich. Du bist so gut und sch�n, ich werde immer, immer an dich denken — aber es gibt keinen, keinen Ausweg mehr. Sage nichts, ich beschw�re dich, sage kein Wort dagegen, es gibt nichts anderes mehr. Um dich ist es mir schrecklich leid, um dich. Ich gew�hne mich an alles. Lebe wohl!“

Sie umschlang Grau und pre�te ihm einen langen Ku� auf den Mund.

„Lebe wohl, Adele!“

Sie ging. Sie winkte noch den ganzen Zaun entlang, sie ging r�ckw�rts und winkte. Sie war gegangen.

Grau war allein. Er setzte sich auf einen Stuhl. Da sa� er und es wurde dunkel, er regte sich nicht. Die Glocken l�uteten schrecklich.

Sein Gesicht hatte den Ausdruck des Staunens angenommen. Die Brauen waren in die H�he gezogen, die Augen waren gro�, der Mund stand halb offen.

Die ganze Nacht sa� er so und als der Morgen kam, sa� er immer noch auf dem Stuhl und sein Gesicht staunte.

F�nfzehntes Kapitel

Grau stand auf. Es ziemt einem Manne dem Schicksal ins Antlitz zu blicken ohne zu zittern, sagte er. Aber seine Knie bebten, ihm schwindelte. Nun erst f�hlte er, da� seine Stirne gl�hte. Er hatte Fieber. Er legte sich auf das Sofa und blickte zur Decke empor. Er staunte. Sein Gesicht war erstarrt in einem gro�en, schrecklichen Staunen.

Die Schwestern Sinding stiegen die Stufen herauf und plauderten von Adele. „Wie ruhig und gefa�t sie Abschied nahm!“ sagte Marie Sinding, die ein wenig mit der Zunge anstie�.

„Ja, so merkw�rdig ruhig. Sie lachte und plauderte bis der Zug fuhr. Sie beherrscht sich so. Wir sind nicht so — haha!“

„Nein, nein!“ Die Schwestern lachten.

Pl�tzlich sagte eine tiefe M�nnerstimme: „Was wird der Tennisklub als Hochzeitsgeschenk geben?“

Grau lag still. Er regte sich nicht. Er h�rte wohl, was die M�dchen sagten, er l�chelte nicht, er weinte nicht, er staunte. Gegen Abend schleppte er sich an den Schreibtisch und schrieb so gut es ging einen Brief an einen G�rtner, bei dem er einige Tage zubringen wollte. Dann versank er wieder in ein leichtes, fast angenehmes Fieber. Er lag einige Tage auf dem Sofa, er fieberte, schlief, aber selbst im Schlafe wich der Ausdruck des Staunens nicht aus seinem Gesichte.

Die Antwort des G�rtners traf ein. Grau packte langsam, mit Anwendung all der Klarheit, die ihm das Fieber noch lie�, seine Sachen, auch den roten gestickten Reisesack mit der zornig aussehenden Henne. Er f�llte nochmals den Teller f�r seinen Kostg�nger, den gelben, zottigen Hund und legte alle Speisereste unter den Schrank f�r die Maus. „Eine Maus findet ja immer etwas,“ murmelte er vor sich hin und wiegte langsam den Kopf hin und her, „sie ist auch klein und i�t nicht viel.“

Es ist Zeit, Zeit! fl�sterte eine Stimme in ihm. Er antwortete: „Ja!“ und ging.

Er wollte M�tterchen Adieu sagen und w�hlte den Weg durch den Wald, hoch �ber der Stadt. Er ging langsam und trotzdem schmerzte seine Brust und gl�hte seine Stirn.

Die Sonne schickte sich an zu sinken, sie war verborgen hinter einer langen Wolke, deren R�nder glei�ten, der Himmel war weinrot. Das Tal schien schon leise zu schlummern. Aber da zerschmolz der untere Rand der Wolke und die Sonne flammte pl�tzlich hell auf. Das Tal funkelte und erwachte wieder, wie ein Kind, das nochmals lebhaft wird, wenn die Mutter mit dem Lichte durchs Zimmer geht.

Grau nahm den Hut ab, er strich sich das feuchte Haar aus der Stirn und versuchte zu denken, das zu erfassen, was ihn so m�chtig besch�ftigte. Da stand er lange Zeit, die Brauen hoch gezogen, den Mund halb offen und starrte mit gro�en Augen in die sinkende Sonne. Endlich lachte er. Er lachte leise und fiebrisch und nickte. Unklare Gedanken zuckten durch seinen Kopf, da� das Tal da unten ein Altar sei, auf dem zur Ehre Gottes geopfert werde, da� die Menschen kleine wandernde Sonnenst�ubchen seien und tausend Alt�re bauten zur Ehre Gottes. Ach, er konnte ja nicht denken, aber er f�hlte, da� etwas Herrliches in ihm war. Ihre Kunst, ihre Wissenschaft waren Alt�re und sie opferten Tag und Nacht darauf.

Er sah sie wandern, zu Millionen, diese kleinen Sonnenst�ubchen und opfern. Sie zerschmolzen, K�nigreiche und V�lker und Rassen zerschmolzen, eine neue Rasse ging daraus hervor, eine herrliche Rasse. Neue St�dte, neue Tempel, immer herrlicher und sch�ner. Ein Jubelbrausen k�nftiger Jahrtausende — Sch�nheit, Adel —

„Es ist ja alles gut, alles gut!“ sagte Grau und lachte. Er war nicht imstande zu denken, aber eine m�chtige Freude durchstr�mte ihn. Er begann rasch den Weg hinab zu steigen und lachte immerzu vor sich hin.

So gro�, so herrlich und unfa�bar sch�n war ja alles!

Auf der Br�cke traf er einen Landstreicher, einen kleinen, alten Kerl mit rostroten Borsten auf dem Kopf und im Gesicht. Er war buchst�blich in Lumpen geh�llt. „Wohin geht die Reise?“ fragte Grau und gab ihm die Hand und lachte. „In die Stadt,“ antwortete der Vagabund, der nicht einmal ein Hemd an hatte, „ich will dort einen Herrn aufsuchen, den man mir empfohlen hat, einen Herrn Grau. Wissen Sie, wo er wohnt?“

Grau l�chelte. „Er ist abgereist, heute!“ sagte er. „Aber was schadet es? Nehmen Sie, nehmen Sie!“ Er gab dem Landstreicher seinen Geldbeutel, sein Taschentuch, sein Messer. „Nehmen Sie, nehmen Sie! Es ist ja einerlei, da� er abgereist ist. Keinen Dank! Nehmen Sie! Haha!“ Er zog seinen Rock aus und warf ihn dem verdutzten Vagabunden in die Arme.

Dann lief er rasch davon in die Wiese hinein.

„Guten Tag, M�tterchen!“ rief er aus. „Ich komme um dir Adieu zu sagen. Da bin ich nun, siehst du?“

M�tterchen sah ihn zuerst teilnahmslos an, aber dann erstaunte sie, als sie gewahrte, da� er in Hemd�rmeln gekommen war. Sie starrte ihn an. „Du gehst? Ja, wohin gehst du denn? Tritt ein!“

„Es geht fort, M�tterchen. Zu einem G�rtner, einem Freund von mir, ein seelenguter Mensch. Ich kann getrost zu ihm kommen, er schrieb es und er unterstrich getrost. Verstehst du, er unterstrich es! Da werde ich dann sitzen und die Blumen ansehen, er ist ja ein G�rtner, du begreifst wohl nicht, ein G�rtner ist er! Blumen, Treibh�user — Er wartet auf mich. Morgen fr�h! Ein guter Mensch, M�tterchen, ich habe ihn im Gef�ngnis kennen gelernt. Verstehst du, er sah mich an und ich dachte, kein M�rder, nein! Er war verurteilt wegen Mords, aber es war ja nicht wahr. Ich wu�te das sofort. Ich machte Eingaben, Eingaben, fortw�hrend Eingaben, der Proze� wurde wieder aufgenommen — L�ge! Sein Schwager war es, er, sie machten ihn betrunken —“

„Ja, was ist dir denn?“ sagte M�tterchen erschrocken.

„Daher kennen wir uns. Er liebt mich und ich liebe ihn. Ich werde ihm nicht l�stig fallen —“

„Warte!“ stotterte M�tterchen und ging in die K�che hinaus, um eine Erfrischung zu holen. Als sie zur�ckkehrte sa� Grau im Sessel und schlief und fl�sterte im Schlafe und l�chelte. Eisenhut, der sein Gep�ck zum Bahnhof gebracht hatte, kam und legte ihn zu Bett. Das Fieber brach heftig aus, es dauerte einige Wochen.

Sobald Grau aus dem Fieber erwachte, kehrte wieder der Ausdruck des Staunens in sein Gesicht zur�ck.

„Ich mache dir wohl viele M�he, M�tterchen!“ fl�sterte er. „Verzeihe!“

Nun lag er in Susannas Stube und sah durch das Fenster hinaus, bis zur Br�cke, wo Susannas Pappeln standen. Zweimal im Tage kroch die gelbe Postkutsche �ber die kleine Br�cke. Des Nachts schleppten sich die G�terz�ge in der Ferne vor�ber und der Expre�zug sauste jeden Nachmittag vor�ber und sein Rauch hing lange in der Luft.

H�ufig versuchte er aufzustehen; „Ich mu� ja fort!“ sagte er. „Mein Gott, es gibt ja so viel zu tun!“ Aber seine F��e trugen ihn nicht. Dann lag er wieder ruhig und sah mit dem Ausdruck des Staunens vor sich hin.

Man m�hte das Gras, es wuchs von neuem, man m�hte es wieder, es verfaulte im Regen. Der Herbst kam.

Grau lag und fieberte. Er hatte nur wenig klare Tage. Dann schrieb er, aber er zerri� alles wieder, endlich schrieb er drei Briefe, zwei lange und einen kurzen.

„Hier,“ sagte er, „Eisenhut, nimm sie. Ich werde dir alles erkl�ren. In diesem Brief befindet sich ein Schreiben an das Gericht. Du �ffnest ihn in einem Jahre, wenn nicht Ereignisse eingetreten sind, h�re wohl zu, Ereignisse, von denen in dem Briefe an dich die Rede ist. Vergi� nichts. Es ist eine alte Angelegenheit, die ich in die Hand nahm, als ich hier in der Stadt eintraf. Ich m�chte sie zu Ende bringen.“

Grau lag im Fieber und er winkte Eisenhut heran und fl�sterte: „Die Pioniere, siehst du, man mu� sie loben. Sie sind immer da, wo die Menschheit noch nicht ist. Man verfolgt sie, ha�t sie, sie sind entsetzlich dran, aber sie sind immer, immer am Werke. Sie sind S�em�nner, Eisenhut, auch ich, auch ich, wollte solch ein S�emann werden. Im kleinen nat�rlich, im kleinen nur —“

„Still, still!“ sagte Eisenhut und legte ihm Eis auf die Stirn.

Grau schlo� sofort die Augen. „Mein Bruder!“ fl�sterte er und dr�ckte Eisenhuts Hand. Als Grau schon sehr schwach war, richtete er sich eines Tages pl�tzlich auf und sagte erschrocken: „Eisenhut, deine Mutter?“ Er schwieg lange, dann f�gte er hinzu: „Da ging ich ein und aus in diesem Hause und dachte nicht an sie. Stricken, N�hen, Gartenarbeit. Ihr geschw�chter Geist, man kann ihn st�rken — Gott verzeihe mir! — Versprich es mir, Eisenhut!“ Er umklammerte Eisenhuts Hand und sank l�chelnd ins Kissen zur�ck, als Eisenhut ihm das Wort gegeben hatte.

Dann kam die Zeit, da Grau still lag und immerfort leise fl�sterte und lachte. Er lebte mit einer sch�nen Frau mit hellen Augen und schwarzen Haaren am Meer. Er ging im hei�en Sande und sammelte Muscheln. Er blickte ins Haus hinein, bald in dieses Fenster, bald in jenes: Sie war da! Er lachte und trommelte an die Fenster. Er schrieb ihren Namen riesengro� in den Sand.

Einmal ging er hinein in einen Wald. Es war Sommer. Die Sonne gl�hte in den gr�nen Wipfeln. Da ging er dahin und sang. Pl�tzlich wurde es totenstill im Walde, die Hitze wurde unertr�glich und langsam fiel Blatt um Blatt, mit einem singenden, seufzenden Laut. Die Bl�tter fielen dichter und dichter, sie schrumpften zusammen, knisterten, wie versengt von der gro�en Hitze, fielen, fielen, regneten auf ihn herab, die �ste starrten kahl und immer mehr Bl�tter regneten und drohten ihn zu ersticken —

— Da erwachte er mit einem Schrei und fuhr auf. Sein Mund war voller Blut.

Tagelang lag er nun geschw�cht und atmete nur leise.

Eisenhut kam ans Bett. „Wor�ber staunst du doch nur?“ fragte er. „Du staunst immer!“

Grau lag und staunte.

Dann kamen die Tage, da Grau schwer atmete und M�tterchen ihm immerfort die Stirne trocknen mu�te.

Das war der Glutwind! Er trug ihn dahin und viele, viele trug er dahin. Es ging durch die kahlen �ste eines endlosen, verdorrten Waldes. Die Seelen jammerten. Wir kleinen sch�bigen Seelen, Erbarmen! jammerten sie. Es fegte, Tag und Nacht, immerzu und endlich hoch �ber den Wipfeln des verdorrten Waldes, in balsamischer Luft. Tief unten jammerten die Seelen. Wir sind zu schwer, Erbarmen. Aber er flog und sauste und viele sausten mit ihm. Es wurde gl�hend hei� — er erwachte.

Sein Kopf war ganz klar. Er war durstig und seine Lippen brannten. Aber es war Nacht und er wollte M�tterchen nicht wecken. Er k�hlte die H�nde am Fenster und k�hlte dann die Lippen.

Sofort versank er wieder. Er wanderte. Eine Felsenecke, wieder, wieder, eine endlose, schreckliche Wanderung. Ein Tor, eine Schlucht, ein furchtbarer Weg. Er kam in einen gro�en Felsenhof und hier waren viele Millionen Seelen und warteten. Wir sind die armen Seelen! beteten sie. Er wanderte und wanderte durch das Heer von Seelen hindurch und kam auf eine Heide. Hier lie� es sich gut ausschreiten.

Aber pl�tzlich warf ihn eine Stimme zu Boden.

„Mit Versprechungen hast du die Menschen getr�stet und von Hoffnungen hast du gelebt!“ sprach die Stimme, die furchtbar klang.

„Ich wollte beginnen! Vergib mir armen kleinen Seele!“

„Wie das Schwirren von Pfeilen und ein Schall von H�rnern h�tte deine Rede sein sollen, deine Zunge war Stroh! Ich habe Antrieb und Neigung in dich gelegt, ich habe �ber deine Seele Ahnungen geschleudert wie Hagelschauer �ber das Feld, ich habe gefunkelt in dir wie der Mond am schwarzen Himmel funkelt, ich stand am Wege als kleine Blume, aber du hast mich nicht gesehen! Ich kam zu dir und fand dich schlafend, ich habe meinen Gedanken auf dich geworfen wie einen Felsblock, aber du bist nicht aufgewacht. Auf deiner Zunge sa� ich als s��es Lied, warum hast du nicht gesungen? Zehnmal in deinem Leben ging mein gro�er Verk�nder an dir vor�ber, du sahst ihn an, aber du hast ihn nicht erkannt?“

„Ich habe dich als Feuer entsandt und du bist als Asche wiedergekommen!“

„Sprich, elende Seele, wo sind deine Fr�chte, wenn ich dich sch�ttele? Sprich, sprich, elende Seele?“

Er begann zu stammeln, verwirrt zu reden. Er stotterte Entschuldigungen. Er suchte in seinem Kopfe, nichts fiel ihm ein. Nichts, nichts. „Erbarmen, Erbarmen!“ schrie er und kr�mmte sich.

„Sprich, sprich!“ sagte die furchtbare Stimme.

Da fiel ihm ein, da� er einst f�r ein krankes Kind ein Bilderbuch gemacht hatte, geschrieben, gemalt, Tag und Nacht hatte er gearbeitet.

Aber die furchtbare Stimme sprach: „Sprich, elende Seele!“

Grau st�hnte. Drei Tage und drei N�chte sprach diese Stimme und drei Tage und drei N�chte flehte, bat Grau.

Eisenhut trat ans Bett und fragte, ob er wach sei. Grau sah ihn mit Augen an, die nichts sahen.

„Erkennst du mich?“ fragte Eisenhut und l�chelte, als ob er ihn l�chelnd eher erkennen sollte.

Aber Grau sprach von einem Gef�ngnis und einem Gefangenen mit schrecklicher Sehnsucht nach seinem einzigen Kinde.

Eisenhut trocknete ihm die Stirne und k�hlte sie mit Eis.

Nun war es ihm pl�tzlich leichter. Diese furchtbare Stimme war nicht mehr zu h�ren, und er ging in der Heide, wo es sich gut ausschreiten lie�. Er war fr�hlich. �ber die Heide kamen zwei Gestalten, sie kamen n�her und er erkannte Susanna.

Er lief ihr entgegen und st�rzte in die Knie: „Verzeihe, verzeihe, Susanna!“ rief er. „Verzeihe das Zuviel — ich habe dich ja geliebt — aber verzeihe das Zuviel!“

Susanna hob ihn auf. „Es ist alles gut,“ sagte sie leise und l�chelte.

Da fiel sein Blick auf die andere Gestalt. Auch sie war eine Frau. Er erstaunte und richtete sich auf. Mit dieser Frau war er einst �ber die Heide im Sternschnuppenregen gegangen, nun war sie da.

„Bist du wieder du?“ sagte sie und sah ihn an.

Bei ihrem Blicke aber erhellte sich sein Inneres, es war ihm, als ob er sein ganzes Leben verst�nde. „Ach so!“ rief er aus und eilte ihr entgegen und weinte vor Gl�ck.

In dieser Nacht starb Grau. Er starb als der Tag nahte und Eisenhut, der w�hrend der Wache eingeschlafen war, wurde durch das klagende Geheul eines Hundes geweckt. Er blickte auf Grau, und Grau sah so sch�n und friedevoll aus, da� Eisenhut sofort zu schluchzen begann. Er sah, da� er tot war.

Er f�rchtete sich und ging hinaus, um den Hund zu vertreiben. Er warf Steine nach ihm, aber dieser gelbe, zottige Hund k�mmerte sich nicht um Steine, er lief ihnen entgegen und heulte und winselte und geb�rdete sich ganz unsinnig.

Als M�tterchen erfuhr, da� Grau gestorben war, sagte sie erschrocken: „Aber die Schuhe, wo hat er denn Susannas Schuhe?“

„Schw�tzen Sie keinen solchen Unsinn!“ sagte Eisenhut �rgerlich. „Er wird die Schuhe wohl in seinem Koffer haben!“

Sechzehntes Kapitel

Es regnete, als man Grau begrub. Viele Leute waren gekommen, auch Fremde, die man noch nie gesehen hatte. Eine Menge Kr�nze und Blumen bedeckten Graus Sarg und noch Tage, ja Wochen nach seinem Tode trafen Kr�nze ein. Ein G�rtner hatte einen wunderbaren Kranz mitgebracht, man hatte noch nie zuvor solch einen Kranz in der Stadt gesehen. Auch Adele war gekommen.

Der Dekan von Weinberg hielt die Rede. Es war ein sch�ner Mann mit blondem Vollbart, der sich selbst stets einen echten Germanen nannte. Er pr�fte, ob das Brett fest sei, das man wegen des Schmutzes gelegt hatte, und der Kirchner mu�te die ganze Zeit einen Regenschirm �ber ihn halten.

Dicht am Grabe standen zwei fremde Offiziere, die Helme in der Hand. Sie hatten r�tliches Haar und helle Augen und jeder sah, da� sie Graus Br�der waren.

Der Dekan sprach, er sprach von dem jugendlichen Eifer Graus, seiner gro�en N�chstenliebe, den himmlischen Herrschern und vielem anderen. Je mehr er sprach, desto sp�ttischer l�chelte Eisenhut, schlie�lich r�usperte er sich unversch�mt und endlich hustete er. Der Dekan mit dem blonden Vollbart warf ihm zornige Blicke zu.

Der Dekan hatte geendigt, da trat Eisenhut ans Grab. Er hob die Hand, zum Zeichen, da� er sprechen wolle. Dann sprach er.

„Hochverehrte Anwesende —“ so sprach Eisenhut — „dieser Mensch, den wir heute begraben — er ist —“

Er konnte nicht fortfahren. Eisenhut war kein Redner. Die Leute sahen ihn erstaunt an und unterdr�ckten ein L�cheln.

Adele ging hinaus zu M�tterchen. M�tterchen sa� allein in der Stube, die H�nde im Scho�.

„Welche Freude!“ sagte sie. „Wenn Susanna w��te, da� Sie mich besuchen!“

Adele setzte sich in den Sessel.

Sie sagte: „Wer h�tte denn denken k�nnen, da� er krank war und da� es so schnell mit ihm zu Ende gehen k�nnte.“

M�tterchen seufzte. „Sie war immer ein schw�chliches Kind.“

Nach einer Weile sagte Adele: „Hat er viel leiden m�ssen?“

M�tterchen antwortete lange nicht. Dann sagte sie: „Nein, sie hat einen sanften Tod gehabt. Sie wu�te gar nicht, da� sie sterben sollte.“ Darauf nickte sie mit dem Kopfe und sagte mit leiser singender Stimme: „Susanna? Susanna?“

Adele schauerte zusammen; sie ging.

Auf der Br�cke stand Eisenhut und wartete. Er zog den Hut, verbeugte sich und nahm einen Brief aus der Tasche.

„Ich habe einen Brief an Sie abzugeben, gn�dige Frau,“ sagte er, „au�erdem h�tte ich es ja nicht gewagt Sie anzusprechen.“

Adele l�chelte und gab ihm die Hand. „Sie sind es, Herr Eisenhut! Ich freue mich Sie zu sehen. Es war sch�n von Ihnen, da� Sie heute eine Rede — —“

Eisenhut sah sie �berrascht an. Sie hatte sich sehr ver�ndert, bleich sah sie aus und gleichsam um viele Jahre �lter, auch ihre Stimme klang ganz anders. Sie begann laut zu sprechen, aber ihre Stimme sank rasch zu einem Fl�stern herab, so da� man die letzten Worte nicht mehr verstehen konnte.

Sie nahm den Brief an sich.

„Er ist ja offen?“ sagte sie.

„Ja,“ entgegnete Eisenhut, „so hat er ihn mir gegeben.“

„Ah! Er tat es absichtlich. Aber sehen Sie doch, in dem Brief ist ja noch ein Brief? An meinen Bruder, ein solch dicker Brief! Was mag er doch mit meinem Bruder zu tun haben? Auch Maria Sinding erz�hlte mir, da� er sie einmal vor ihm warnte. Aber — nun gehen Sie mit mir und erz�hlen Sie mir von ihm. Sie sind ja um ihn gewesen, Sie waren ja sein Freund!“

Eisenhut erz�hlte was er wu�te.

„Er hat auch einigemal Ihren Namen genannt, gn�dige Frau.“

Adele l�chelte und err�tete fl�chtig. „Wie hat er mich genannt?“ fragte sie.

„Er nannte Ihren Vornamen, gn�dige Frau.“

Adele schwieg lange. Dann sagte sie: „Wer h�tte denn denken k�nnen, da� es so kommen k�nnte!“

„Der Arzt sagt, Grau h�tte die Krankheit von Susanna bekommen,“ sagte Eisenhut.

Sie standen am Gitter des Parkes und Adele gab Eisenhut die Hand. „Vielleicht sehen wir uns einmal irgendwo,“ sagte sie, „da Sie nun doch auf Reisen gehen. Vielen Dank noch. Vergessen Sie, da� ich Sie einst kr�nkte, ich denke jetzt ganz anders. Ich hoffe, es wird Ihnen gut ergehen, ein wenig besser vielleicht als mir. Leben Sie wohl!“ Sie hielt inne, dann f�gte sie leise hinzu: „Er war ein solch guter Mensch!“

Sie l�chelte und reichte Eisenhut die Hand zum Kusse und Eisenhut k��te ehrf�rchtig ihre wei�e Hand. Dann ging sie langsam hinein in den Park und es dauerte lange Zeit, bis sie an die Stufen kam, die sie langsam emporstieg.

Eisenhut reiste am andern Tage mit seinen Lederkoffern nach dem S�den ab. —

Das aber ist der Brief, den Grau an Adele geschrieben hatte:

„H�te Deine Seele, meine Freundin, sie ist das Einzige, was Du besitzt, unerforscht ist das Leben, unerforschter der Tod. Es gibt kein Ende. Wieder und wieder werden wir einander begegnen in den Reichen.“

Ende

Werke von Bernhard Kellermann

Yester und Li

(Fischers Bibliothek zeitgen�ssischer Romane.)
Geb. 1 Mark, in Leinen 1,25 Mark.

Die Geschichte einer Sehnsucht ist es, die der Verfasser erz�hlt — einer zarten, zitternden, tastenden Sehnsucht. Einer so verzehrenden, wahnwitzigen, ungeheuerlichen Liebessehnsucht, wie sie nur ein Dichter, ein Auserw�hlter unter den Menschen zu einem auserw�hlten, seltenen, wundervollen Weibe empfinden kann. — Henri Ginstermann hei�t er. Und sie hei�t Bianka Schuhmacher. Ganz einfache, allt�gliche Namen. Aber was f�r Menschen! Von einer, trotz ihres Temperaments, seltenen seelischen Keuschheit. Voll Rasse und fein gestimmter innerer Kultur. Ihre Seelen sind — ein triviales Bild zu gebrauchen — wie �u�erst verfeinerte phonographische Platten. Jeder Hauch, jeder kleinste Eindruck bleibt in ihnen haften, l��t ihre Saiten schwingen in wunderbar zarten und rauschenden Melodien. Und zwischen diesen beiden Menschen schwebt eine innige, keusche, unausgesprochene Liebe. Beide wissen: sie ist hoffnungslos, diese Liebe. Und doch tr�gt sie jeder im Herzen, sorgsam, wie ein anvertrautes Gut, ein Heiligtum, einen k�stlichen Schatz. In stummer Duldung klammert er sich an sein j�mmerliches Leben, das ihn, den um unbesonnener Jugendstreiche willen Versto�enen, Verfemten, so oft grausam geneckt. Seiner heiligen Sehnsucht zuliebe tut er es. Sein ganzes Sein und Wesen str�mt in dies eine gro�e Gef�hl zusammen. Seine Liebe ist ihm das Leben. Alle seine intellektuellen und moralischen Kr�fte werden davon aufgesogen, restlos, unwiederbringlich. Er treibt einen Kultus mit dieser Frau. Wendet seine ganze �rmliche Habe an, um ihre Gipsb�ste mit kostbaren Blumen zu schm�cken. Besingt sie in �berschw�nglichen, himmelhochjauchzenden Hymnen. Kleidet die Geschichte seiner Liebe in eine innige Erz�hlung von zartem Duft und feiner exotischer Farbigkeit! Yester und Li hei�en darin die Liebenden. (Man erkennt Kellermann, den Freund japanischer Kultur.) Henri verf�llt in Krankheit, in Tobsucht, ist dem Wahnsinn nahe. Er verschm�ht die Liebe anderer Frauen. Alles um ihretwillen. Und macht doch allem ein Ende durch einen leisen, m�den Verzicht. Wunderbar greifend ist dieser Schlu�. Bianka hat ihm — fast wortlos — ihre Erwiderung seiner Liebe gestanden. Aber sie sehen die Unm�glichkeit ihrer Verbindung ein. Nach einem letzten Abschiedsku� reist sie ab. Und die „Geschichte einer Sehnsucht“ schlie�t mit dem schlicht-sch�nen Bild, da� Ginstermann Rosen auf die Schienen streut, �ber die der Zug die Geliebte entf�hrt.

(K�nigsberger Allgemeine Zeitung)

Ingeborg

Roman. 18. Auflage. Geh. 4 Mark, geb. 5 Mark.

Frauen und J�nglinge, leset dies neue Buch — Ingeborg —, diesen zweiten Roman von Bernhard Kellermann. Die Liebe lebt darin und die Romantik. Und der Wald lebt darin und alle Jahreszeiten. Wahrhaftig, ein n�rrisches Buch, aber weise und klug bei aller Narretei, denn die unerforschlichen, unab�nderlichen Lebensgesetze sprechen daraus. Jung ist es, ganz jung-jung, und das Blut macht es unruhig, es fiebert von Liebe. In einigen M�rzn�chten, als der F�hn vor den Fenstern st�rmte, habe ich es gelesen; mein Herz kam v�llig aus dem Takt, und ich glaube nicht, da� der F�hn allein daran schuld war . . . Mit einer kindlich zarten und zugleich unerh�rt verfeinerten Gabe wird hier von den heiligsten und besten Dingen gesprochen. Ich will mich mit diesem Buche nicht allein freuen. Jedem m�chte ich es in die H�nde dr�cken, der �berhaupt noch einen Roman lesen kann.

(Die Zeit, Wien)

Ganz trunken von Sch�nheit und Schmerz ist das Buch. Es schl�gt T�ne an, die man schwer vergi�t . . . Selten ist etwas Gl�henderes und Sanfteres geschrieben worden als die Schilderung dieser Liebe.

(Der Tag, Berlin)

Ma�los sch�n mu� ich dieses Buch nennen. Ich habe vier Wochen daran genossen, so sch�n und schwer ist es an bl�henden Wundern und quellenden Tr�nen. So schwer ist es an tiefem Leben, da� man Stufe um Stufe mitschreiten und Tropfen um Tropfen mitkosten mu�, so voll ist es von Liebe und Blut aus einem gro�en, gro�en Herzen.

(M�nchener Zeitung)

Das Meer

Roman. Zehnte Auflage. Geh. 4 Mark, geb. 5 Mark.

Ein kulturm�der Mann lebt einen Sommer hindurch auf einer bretonischen Fischerinsel. Er versinkt ganz in dem triftigen, urw�chsigen Dasein dieser einsamen Welt. Trinkt, flucht, liebt und ha�t wie die Bewohner der Insel, die gleich abgeschlossen ist von den Moralbegriffen wie dem Rechtsempfinden der Welt da drau�en. Alle Leidenschaften pulsen in jagendem Tempo, alle Gedanken schleichen in kriechender Beharrlichkeit. Liebe und Ha�, Freundschaft, Verrat — es ist eine Urzeit, in der sich der Trieb in sich verwickelt, noch ungeteilt in das Zweigeschlechtliche, das Gute und B�se. Es ist die Epoche, in der sich langsam das erste Land aus der furchtbaren Unendlichkeit des Meeres hebt. Man soll vorsichtig sein — aber doch, hier darf man es aussprechen: Es ist ein Meister, der dies Buch geschrieben hat. Manchem wird die wilde Sch�nheit unverst�ndlich bleiben, manchem wird auch die feinste Sprachkunst nicht dar�ber hinwegsetzen, da� es immer wieder nur das Meer ist — und nur das Meer, von dem er lesen mu�. Wer sich aber in dies Werk ernstlich vertieft, dem wird es seine Mannigfaltigkeit wohl erschlie�en. Und er wird meine Freude dar�ber teilen, da� auch einem Deutschen der Entdeckerflug in die unbekannten Reiche der Natur gelungen ist, der bisher M�nnern wie Kipling oder Loti vorbehalten schien. Nur da� Kellermanns Empfindung, w�rmer, seine Anschauungskraft st�rker, seine Sehnsucht tiefer ist.

(B. Z. am Mittag, Berlin)

Man braucht nach „Ingeborg“ niemandem zu sagen, welcher Meister der Dichtkunst dieses Buch geschrieben hat. Nur wird man hervorheben d�rfen, da� in den Tiefen dieses Werkes unterhalb seines gro�en k�nstlerischen Ernstes ein kostbares Lebenselement gesch�ftig ist und manchen wirbelnden Strahl zur Oberfl�che schickt: der Humor, der leibhaftige Humor!

(Anhaltischer Staatsanzeiger, Dessau)


Druck von Wilhelm Hecker in Gr�fenhainichen.

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgef�hrt (vorher/nachher):

  • ... bescheiden, aber die Flagge die Gl�ckes flattert dar�ber. ...
    ... bescheiden, aber die Flagge des Gl�ckes flattert dar�ber. ...
  • ... f�hrten, da� sich sch�ttelte und hin- und herwarf und ...
    ... f�hrten, das sich sch�ttelte und hin- und herwarf und ...
  • ... Der Mann strich an den H�user entlang, blieb stehen, ...
    ... Der Mann strich an den H�usern entlang, blieb stehen, ...
  • ... Dienstm�dchen Fr�ulein Magarete Sammet seit Jahresfrist ...
    ... Dienstm�dchen Fr�ulein Margarete Sammet seit Jahresfrist ...
  • ... sebst entstehen? Grau sch�ttelte den Kopf. ...
    ... selbst entstehen? Grau sch�ttelte den Kopf. ...
  • ... dann kommt eine B�uerin mit einem Korbe anf dem ...
    ... dann kommt eine B�uerin mit einem Korbe auf dem ...
  • ... �brigens hat mich in diesem Falle etwas ganz besonderes ...
    ... �brigens hat mich in diesem Falle etwas ganz besonderes ...
  • ... Wandern wieder auf. ...
    ... Wandern wieder auf. ...
  • ... nur ein Tranm und klammere mich an den Gedanken, ...
    ... nur ein Traum und klammere mich an den Gedanken, ...
  • ... uud da sind wir nun. Da ist die Sonne, so viele, ...
    ... und da sind wir nun. Da ist die Sonne, so viele, ...
  • ... f�r die kl�gste von allen. Es war das kleine h��liche ...
    ... f�r die kl�gste von allen. Es war das kleine h��liche ...
  • ... „Man sollte es glauben,“ fuhr Grau fort. Pl�tzlich ...
    ... „Man sollte es glauben,“ fuhr Grau fort. Pl�tzlich ...
  • ... f�r jedes Glas hundert Mark bezahlen, nicht wahr? ...
    ... f�r jedes Glas hundert Mark bezahlen, nicht wahr? ...
  • ... treffen. Guten Abend. Herzlich gefreut.“ Im Begriffe ...
    ... treffen. Guten Abend. Herzlich gefreut.“ Im Begriffe ...
  • ... h�tte. ...
    ... h�tte. ...
  • ... Eisenhut? ...
    ... Eisenhut? ...
  • ... Mann in die Augen. ...
    ... Mann in die Augen. ...
  • ... dicke Chinese. ...
    ... dicke Chinese. ...
  • ... existiert und seit wann, das ist ja nebens�chlicher Natur. ...
    ... existiert und seit wann, das ist ja nebens�chlicher Natur. ...
  • ... Ich hatte Augst! Wie dumm nicht zu wissen, was ...
    ... Ich hatte Angst! Wie dumm nicht zu wissen, was ...
  • ... blitzschnell unter dem Diwan nnd zerrte ein Paar alte ...
    ... blitzschnell unter dem Diwan und zerrte ein Paar alte ...
  • ... Mark, die die Dame holte. Es waren nur zehntausend! ...
    ... Mark, die die Dame holte. Es waren nur zehntausend! ...
  • ... an Susannas Ehrentage. — Vor der T�re hing ein ...
    ... an Susannas Ehrentage. — Vor der T�re hing ein ...
  • ... jetzt sogar bei der Erinneruug an dieses sch�ne Schauspiel, ...
    ... jetzt sogar bei der Erinnerung an dieses sch�ne Schauspiel, ...
  • ... und so stark, das ihm die Brust bei jedem Atemzuge ...
    ... und so stark, da� ihm die Brust bei jedem Atemzuge ...
  • ... kommen, damit Sie sich nicht die H�nde staubig machen. ...
    ... kommen, damit Sie sich nicht die H�nde staubig machen. ...
  • ... des Zimmes stehen sah. Sie war sch�n und schlank. ...
    ... des Zimmers stehen sah. Sie war sch�n und schlank. ...

End of the Project Gutenberg EBook of Der Tor, by Bernhard Kellermann

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or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation information page at www.gutenberg.org


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at 809
North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887.  Email
contact links and up to date contact information can be found at the
Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit:  www.gutenberg.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For forty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     www.gutenberg.org

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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