Ombra: roman einer wiedergeburt hanns-josef ortheil

Tarnung in der Reha

Den Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil kennt jeder. Aber den Eisenbahnlandwirt Ortheil? Als solcher tritt der Autor auf, um während seiner Reha unerkannt zu bleiben; nur die Ärzt:innen sind eingeweiht. Doch schon beim gemeinsamen Walken fliegt die Täuschung auf. Ortheil, ein obsessiver Notierer, bleibt immer wieder stehen, um Beobachtungen in sein Smartphone zu sprechen. Das irritiert die übrigen Patient:innen so sehr, dass die Therapeutin gar nicht anders kann, als sie aufzuklären:

"Einen Moment herhören, ruft sie nach hinten. Einer unserer Patienten hat von Berufs wegen ein anderes Tempo. Ich mache in diesem Fall eine Ausnahme."

Die Vernachlässigung des Körpers fordert ihren Tribut

Die amüsante Szene in Ortheils neuem Buch "Ombra" hat einen ernsten Hintergrund. Hinter dem Autor, Jahrgang 1951, liegen eine mehrstündige Herz-OP und ein tagelanges Koma. Die Klinik betritt der Autor in einem Zustand existenzieller Erschütterung: geschwächt, ängstlich, von Todesnähe gezeichnet. Und noch immer fassungslos darüber, so plötzlich krank geworden zu sein. Dabei scheinen die Ursachen auf der Hand zu liegen:

Ortheils legendäre Produktivität – "sechs Bücher mit über zweitausend Seiten in drei Jahren!" – forderte wohl ebenso ihren Tribut wie die jahrelange Vernachlässigung des Körpers. An diesem seien nur die Hände trainiert worden, gesteht der passionierte Pianist seiner Ärztin. Jetzt fehlt ihm fürs Klavierspielen ebenso die Kraft wie dafür, einen Stift zu halten.

Wieder ins Leben finden

"Ombra" trägt als Untertitel "Roman einer Wiedergeburt". Doch für einen "Roman" schaut hinter einer hauchdünnen Schicht Fiktion viel zu deutlich die bittere biografische Realität hervor. "Ombra" ist eher das – ebenso anrührende wie bewegende – Protokoll darüber, wie der Autor Ende 2019 schwerkrank und seiner wichtigsten Ausdrucksmöglichkeiten beraubt, Stück für Stück ins Leben und Schreiben zurückfand.

Geschrieben in einer abgemagerten, zögernden Prosa, die nach jedem Absatz erst einmal eine Leerzeile einfügt, wie um Kraft zu schöpfen. Und die nur noch in Resten jene vielgerühmte Musikalität von Ortheils Sprache aufweist, etwa beim Beschreiben des zeitlupenartigen Voranschreitens während einer Gehmeditation:

"Was beobachte ich denn? Nichts, ich beobachte nicht, die Gruppe tut es auch nicht, man geht mit geschlossenen Augen und verankert sich hier und da. Wohin geht die Reise? Nirgendwohin! Niemand 'geht', es hat sich ausgegangen!"

Auf der Suche nach Antworten

Auf dem Weg zur Gesundung stellen sich Ortheil viele Fragen. Zum Beispiel die, ob er ein Opfer seiner eigenen Fiktion geworden ist. Immerhin litt in seinem letztem Roman "Der von den Löwen träumte", über Hemingways Zeit in Venedig, der Protagonist ebenfalls an Herzschwäche. Und warum zieht es den Autor immer wieder zum Kölner Erzbergerplatz, wo er einst als Kind vom Fenster aus den anderen Kindern beim Spielen zusah – ohne je das Bedürfnis zu haben, mitzuspielen?

Überhaupt führt die Suche nach Antworten zurück in die Vergangenheit. Zumal sich Ortheil im Zustand der Schwäche in die Kindheitsrolle zurückversetzt fühlt. Nicht nur, weil er sich nur noch im leerstehenden Elternhaus sicher und geborgen fühlen kann. Sondern weil ihm neben der verständnisvollen Klinik-Psychologin auch die "Geisterstimmen" seiner längst verstorbenen Eltern helfen wollen.

Schreiben als Beweis für die eigene Existenz

Ortheil-Lesern ist die traumatische Kindheit des Autors natürlich längst bekannt, aus seinen Poetikvorlesungen "Das Element des Elephanten" etwa oder dem Roman "Die Erfindung des Lebens": die jahrelange Stummheit des vermeintlichen Autisten, das Mobbing in der Schule, die Familientragödie um seine vier toten Brüder. Und schließlich die euphorische Erfahrung, sich im Schreiben die Welt erschließen zu können.

"Wohl deshalb habe ich seit den Grundschultagen jeden Tag etwas notiert. Manchmal nur wenige Zeilen, ein Beweis, dass ich lebte und existierte: Pfefferminztee getrunken. Allein zur Schule gegangen. Unterwegs einen Apfel gegessen."

Da bleibt nur eines übrig, zumal zum 70. Geburtstag des Autors: Hanns-Josef Ortheil zu wünschen, dass er diesen Beweis noch lang erbringen kann.

Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2021

Ein Autor heilt sich selbst
Im Werk-Gebirge: Zum siebzigsten Geburtstag von Hanns-Josef Ortheil erscheinen ein neuer Roman und eine Gesamtwürdigung seines Schaffens.

Ein wenig erinnert die Szene an die beiden Herren im Bad, einen der bekanntesten Sketche von Loriot. "Neu hier?! Schlaganfall oder Herzinfarkt?" Die Lacher bleiben aus: Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung fahren. Wenn der Icherzähler in Hanns-Josef Ortheils neuem Roman, an einer Säule in der Männerumkleide einer Rehaklinik mühsam sein Gleichgewicht haltend, von seinen ebenso nackten wie kregelen Mitpatienten angesprochen wird, ahnt er, dass die kommenden Wochen zum "Peinlichkeitsparcours" werden können. Doch das ist noch sein geringstes Problem.

Ortheil selbst war im Herbst 2019, nachdem er die Arbeit an seinem Hemingway-Roman "Der von den Löwen träumte" beendet hatte, schwer erkrankt; die Ärzte stellten eine lebensgefährliche Herzinsuffizienz fest. Nach einer schwierigen, fünf Stunden währenden Operation und einem Koma, aus dem er fast nicht mehr erwacht wäre, standen ihm seine beiden großen "Lebenshilfen", das Schreiben und das Klavierspielen, nicht mehr zu Gebot. Vor allem Ersteres muss für einen Mann mit Ortheils Output - in siebzig Lebensjahren entstanden siebzig Bücher und eine nicht enden wollende Zahl von Texten für Zeitungen und Zeitschriften - die Höchststrafe sein. Doch der Gang durch den "Todestunnel" führte zu einer tiefer greifenden existenziellen Verunsicherung. Am schlimmsten ist ein Gefühl, das er längst besiegt zu haben glaubt: "Die Angst, nicht mehr weiterzuwissen." Als er, nur einen Monat nach der Operation, als ambulanter Tagespatient in eine Klinik im Westerwald einzieht - die Nächte kann er im nahe gelegenen ehemaligen Haus seiner Eltern verbringen -, nimmt er sich das vor, was der alte Hemingway in Venedig versucht hatte: wieder zum Schreiben zurückzufinden.

Halt und Orientierung findet er zunächst, indem er vom "Livestream der Tage" berichtet. Giert der bisweilen surreale Klinikalltag nicht danach, protokolliert zu werden? Eine Disziplin, in der Ortheil Experte ist. Zigtausend Blätter, Alben, Chroniken, Tagebücher, gesammelt seit Kindertagen, schlummern im Dunkel des privaten Archivs. Wenn der Erzähler die Tage zwischen Belastungs-EKG und Terraintraining, Thera-Band und Qigong in luftige, nicht selten komische Szenen packt, müssen Depressionen Pause machen. Um inkognito zu bleiben, gibt der aus Funk und Fernsehen bekannte Schriftsteller als Beruf "Eisenbahnlandwirt" an. Doch natürlich geht die Mimikry gründlich schief - von der Ernährungstherapeutin bis zur Chefärztin besteht das Klinikpersonal alsbald auf Komplettversorgung mit dem Ortheil'schen OEuvre.

Der Star nimmt sich indes zurück und gönnt sich, gleichsam als visuelle Massage, Aufzeichnungen von Snookerpartien und Ballettaufführungen. Sein eigenes Ballett besteht auf Anraten der Ärzte im Fegen von Gehwegen rund um das Elternhaus. "Ich habe drei Reisstrohbesen mit bunten Nähten und hellen Holzstielen gekauft . . . Dazu trage ich eine bunte Schürze bis zu den Knien." Der literarische Trick, sich zur Freude der Leserschaft gelegentlich in slapstickhaften Verwicklungen zu porträtieren, um letztlich doch wieder als Supertopchecker dazustehen, erinnert an gewiefte Diaristen wie Kempowski oder Rühmkorf.

Da "Ombra" - das italienische Wort steht für Schatten, Verdacht, Zweifel, aber auch für ein Glas Weiß- oder Rotwein, das man als Aperitif zu sich nimmt - als "Roman einer Wiedergeburt" figuriert, kann der heitere Reigen aus Gehmeditation, Gymnastik und Lektüre des im Wartezimmer ausliegenden Fachjournals Herz heute natürlich nicht alles sein. Die Krankheit, ahnt der Erzähler, hat ihn ereilt, "um mich zu zwingen, mein Leben neu zu verstehen". Therapeutisch begleitet wird er auf diesem Weg von der resoluten Klinikpsychologin Dr. Werth und einer Crew von Geisterstimmen: Im westerwäldischen "Animationsraum der Erinnerungen" sind Vater und Mutter auf einmal genauso präsent wie jener Doktor Freud, dessen Studien "Zur Psychopathologie des Alltagslebens" der Rekonvaleszent neben Kobayashi Issa und Cesare Pavese liest.

Ein wenig zu perfekt fügt sich das alles, wenn sich der Patient Gehmeditation oder die asiatischen Lehr- und Konversationsbücher auch zu Hause in Sportkleidung als geistige Dehnübung einverleibt. Das Pendant zu Dr. Werths Analysen ist ein langes Gespräch mit dem befreundeten Lektor. Thema: die psychischen Wurzeln und Hintergründe des Ortheil'schen Schreibens. Der Lektor als Therapeut: die großen Romane, die Essaybände, Journale, Reise- und Musikbücher, die Tonnen digitaler Mitschrift (www.ortheil-blog.de) und unveröffentlichten Materials? "Was steckt hinter all dem, biografisch, emotional?"

Ortheil wäre nicht Ortheil, wenn "Ein Kosmos der Schrift", die Essenz der dreitägigen "Graphoanalyse" in Wissen/Sieg, nicht gleichfalls, pünktlich zum morgigen siebzigsten Geburtstag, zwischen Buchdeckeln vorliegen würde. Der von seiner Frau Imma Klemm, Verlegerin der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung in Mainz, herausgegebene Band skizziert die großen Linien und Lebensthemen des Werk-Gebirges. Ob die angehängten Fragebögen, in denen Freundinnen und Wegbegleiter forciert witzig auf Ortheils "Treiben und Schreiben" reagieren, nötig waren? Geschenkt! Auf einer Party für den großen HJO hat solche Nörgelei nichts zu suchen.

Klaus Siblewski, seit 1998 Ortheils Lektor bei Luchterhand, ist nicht nur Stichwortgeber, sondern blitzgescheiter Fragesteller, was immer wieder zu erhellenden Schlaglichtern führt: Die lange Liste von Ortheils Texten für Zeitungen als "Roman in kurzen Kapiteln" zu lesen ist originell, ebenso die Herauspräparierung seiner Arbeitsweise: "Es verläuft primär über unveröffentlichte Texte und Materialien, die in Archive reingehen. Dort können sie ruhen, kochen, sich entzünden." Obwohl die beiden Herren, die da beim Überflug über die Ländereien des Lebens und Schreibens kannenweise grünen Tee wegschlürfen, eigentlich knochentrockene "Schreibforschung" betreiben wollen, rutscht - glücklicherweise! - die ein oder andere Anekdote durch: etwa, dass der Mainzer Schülerzeitungsredakteur Ortheil mit seiner randlosen Brille "wie Augstein" aussah und, wenn er etwas mehr in Jazz und Lyrik investiert hätte, in ein ganz anderes Leben abgebogen wäre.

Aber womöglich ohne das Glück der Hildesheimer Jahre? Oder dass der Roman "Schwerenöter" - den Ortheil ironisch seinen "Zeigrodeuro" (zeitgenössischer großer deutscher Roman) nannte - nach einer Intervention von Monika Schoeller 1987 nicht bei S. Fischer, sondern bei Piper erschien? "Eine verrückte Geschichte, verrückt wie der Roman selbst." Der Kosmos der Schrift verteilt sich auf einen ganzen Verlagskosmos, von Luchterhand und Kiepenheuer & Witsch bis zu Insel und der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung. Am Ende offenbart Ortheil dem Freund Siblewski, wohin sich sein Schreiben bewegt. Ein Traum, in dem wir einen Schriftsteller mit dem französischen Namen Jean Orteil sehen, der nur noch literarische Tagebücher à la Julien Green veröffentlicht; alle zwei, drei Jahre ein neues, mit der Verlässlichkeit eines Uhrwerks.

Im Schreiben und in der Schrift "gerettet" zu sein - für Ortheil ist das Handlungsimpuls und Kraftquell gleichermaßen; fast so wichtig wie die stete Stärkung der Rumpfmuskulatur. "Niemand und nichts konnte mir etwas anhaben, wenn ich die Tage fixiert und aufgehoben hatte." Am Ende von "Ombra" sehen wir ihn per E-Bike über die Kölner Rheinbrücken fliegen, eine (selbstredend ausverkaufte!) Lesung im WDR-Sendesaal wie im Rausch absolvieren, Hölderlin auf den Lippen: "Wieder ein Glück ist erlebt." Und wir sehen ihn "auf dem Weg hin zu einem Menschen, der sich in Schrift verwandelt". Statt Italien wartet Corona. Doch jede Wette: Der "Hochrisikopatient" HJO hat sein Buch zur Pandemie längst projektiert. NILS KAHLEFENDT

Hanns-Josef Ortheil: "Ombra".

Roman einer Wiedergeburt.

Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 298 S., geb., 24,- Euro.

Imma Klemm (Hrsg.): "Ein Kosmos der Schrift". Hanns-Josef Ortheil zum 70. Geburtstag.

btb, München 2021.

362 S., br., 12,- Euro.

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