Baby krabbelt nicht wann zum Arzt

Keine Panik bei Entwicklungsverzögerungen

Solche Sätze sind natürlich totaler Quatsch – aber leider verunsichern sie frischgebackene Eltern immer wieder. Kinderarzt Dr. Thomas Fischbach plädiert für mehr Gelassenheit, wenn es um die Entwicklung von Babys geht.

Wenn mich Eltern in meiner Solinger Praxis besuchen, die sich Sorgen wegen vermeintlicher Entwicklungsverzögerungen ihrer Kinder machen, dann erzähle ich manchmal diese Geschichte aus unserer eigenen Familie: Bei der Geburt unseres ersten Kindes war ich gerade im ersten Weiterbildungsjahr zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, seinerzeit aufgrund meiner Facharztqualifikation als Anästhesist vorwiegend auf der Pädiatrischen Intensivstation und Neonatologie eingesetzt. Unser Sohn war behäbig und zufrieden, er schlief 16 Stunden am Tag und Bewegung schien ihm ein Graus zu sein. Die Bauchlage fand er offensichtlich furchtbar. Nie machte er Anstalten zu krabbeln, und auch der Bewegungsübergang vom Sitzen in die verhasste Bauchlage schien verbesserungsbedürftig. 

Meine Frau erlebte ein Trommelfeuer guter Ratschläge, weil ja Krabbeln so wichtig für die Entwicklung sei. Sätze wie "Kinder, die nicht krabbeln, sind später schlecht in Mathe" oder "bleiben ein Leben lang Bewegungslegastheniker" trugen sehr zur Verunsicherung bei. Auch wurde seine Sprachentwicklung kritisiert. "Da ist er ganz klar zurück. Was sagt denn eigentlich euer Kinderarzt dazu ...?"

Wenn meine Frau dann auch noch antwortete, dass der Vater Kinder- und Jugendarzt sei, blickte sie in fassungslose Gesichter. Heute ist unser Sohn 30 Jahre alt, hat erfolgreich eine Bankausbildung absolviert und einen Master of Science in Finance erworben. Zahlen sind ebenso sein Ding wie der Sport. Er spielt leidenschaftlich Volleyball und hat eine Qualifikation als österreichischer Landesskilehrer. Damit fährt er besser rückwärts Ski als ich vorwärts – und ich bin gekrabbelt.

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Was ich damit sagen will: Die kindliche Entwicklung verläuft nicht in engen Rastern, sondern mit einer großen Variabilität. Sogenannte "Meilensteine" können lediglich als Anhaltspunkte dienen, um normvariante von krankhafter Entwicklung abzugrenzen.

Damit sind die meisten Eltern zumeist aber vollkommen überfordert, wenn sie (ob sie wollen oder nicht) an der "Entwicklungsolympiade" ihres Nachwuchses teilnehmen müssen, weil sie von selbst ernannten Experten in die Zange genommen werden. "Gut gemeinte" Sprüche solcher Supermütter auf dem Spielplatz wie "Ach, er krabbelt noch nicht!" oder "Eigentlich müsste ein Kind im Alter eurer Tochter besser sprechen" führen insbesondere bei frischgebackenen Eltern zu großer Verunsicherung. 

In meinen 27 Praxisjahren habe ich schon alles Mögliche zu Ohren bekommen bis hin zu barem Unsinn. Dabei gibt es gesunde Kinder, die bereits mit neun Monaten frei laufen, während andere das erst mit 16 oder 18 Lebensmonaten tun. Manche Kinder singen mir mit zwei Jahren ganze Liedstrophen vor, während es andere gerade einmal auf einen Zweiwortsatz wie "Mama – Auto" bringen.

Das ist vollkommen in Ordnung. Denn nicht nur jeder Mensch ist anders, sondern auch jedes Kind. Meine Bitte: Seid bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben eures Kindes geduldig, lasst ihm Zeit. Die meisten Kinder sind zum Glück völlig gesund. Laufen, sprechen, essen, schlafen können sie am Ende (fast) alle. Und wenn ihr euch wirklich sorgt, fragt bitte jemanden, der etwas davon versteht: euren Kinder- und Jugendarzt!

Unser Autor

Baby krabbelt nicht wann zum Arzt

Dr. Thomas Fischbach 

... ist Kinderarzt in Solingen und Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). 

Es ist eine faszinierende Zeit, wenn Babys mobiler werden. Oft beginnen sie mit zögerlichen, dann schwungvollen Drehungen vom Rücken auf den Bauch. Dann robben viele von ihnen im Unterarmstütz über den Fußboden, um sich schließlich auf Hände und Knie aufzustützen. Nach ersten Schaukelbewegungen fangen sie an, gleichzeitig den linken Arm und das rechte Bein vorzusetzen – und umgekehrt. Das Kind krabbelt. Vielen gilt das als ein Meilenstein in der Entwicklung, der im Schnitt mit etwa sechs bis zehn Monaten stattfindet.

Baby krabbelt nicht wann zum Arzt

Jakob Maske ist Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte

© privat

Rutschen, kullern, krabbeln – alles ist erlaubt

"Es bleibt ein Meilenstein, aber eher aus emotionaler Sicht. Für eine kindgerechte Entwicklung spielt Krabbeln keine größere Rolle", erklärt Jakob Maske, Kinder- und Jugendarzt in Berlin sowie Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. "Früher galt Krabbeln als wichtiger Entwicklungsschritt. Bei vielen Kinderärzten schrillten die Alarmglocken, wenn ein Kind sich irgendwann um den ersten Geburtstag herum nicht so fortbewegte. Heute wissen wir, dass Krabbeln keinen langfristigen Einfluss auf den Entwicklungsverlauf eines Kindes hat. Sonst hätte jedes Dritte ein Problem – so viele rutschen nämlich lieber auf dem Po, kullern oder ziehen sich direkt hoch bevor sie ihren ersten Schritt machen", sagt Maske.

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Prof. Dr. Gudrun Schwarzer ist Entwicklungspsychologin an der Justus-Liebig-Universität in Gießen

© Anna Völske

Krabbeln hat auch mit Genen und Kultur zu tun

Prof. Dr. Gudrun Schwarzer, Entwicklungspsychologin an der Justus-Liebig-Universität in Gießen pflichtet ihm bei: "Wir haben uns beim Thema Krabbeln längst von der Idee eines einheitlichen menschlichen Bauplans verabschiedet, der sich zu bestimmten Zeiten entfaltet: nichts ist vollkommen festgelegt und vieles auch kulturell bedingt." Manche Kinder empfänden Krabbeln oder auf dem Bauch liegen einfach als unangenehm, wahrscheinlich liege diese Abneigung sogar in ihren Genen. Die Entwicklungspsychologin beruhigt: Eltern brauchen sich keine Sorgen zu machen, wenn ihr Kind sich nicht im Vierfüßler-Stand bewegt. Krabbeln hat auch sonst keine langfristige Vorhersagekraft über zukünftige Fähigkeiten des Nachwuchses, und Nicht-Krabbler haben später keine Nachteile: Sie finden andere Möglichkeiten an ihr Ziel zu kommen. "Das sehen wir zum Beispiel an Kindern, die durch körperliche Einschränkungen, wie etwa einem Klumpfuß, nicht in der Lage sind zu krabbeln." Kinderarzt Maske ergänzt: "Hellhörig werden wir erst, wenn ein Kind mit einem Jahr nicht sitzen kann. Dahinter können Störungen im Muskel- oder Rückenmarksbereich oder im Hirn stecken, die in der Regel aber viel früher diagnostiziert werden."

Muskelkraft trifft auf Entdeckungsfreude

"Zwei Drittel aller Kinder beginnen meistens gegen Ende des sechsten Monats mit den ersten Krabbelversuchen. Für sie ist dies der erste Schritt in die selbstgesteuerte Fortbewegung", sagt Entwicklungspsychologin Schwarzer. Denn wurden die Kleinen vorher eher passiv viel herumgetragen, eröffnet sich ihnen nun die Welt der Autonomie: ‚Ich bestimme jetzt die Richtung!’, heißt die neue Devise. Dafür sind nicht nur die beim Strampeln erworbene Muskelkraft und koordinative Fertigkeiten, etwa durchs Greifen, wichtig. Schwarzer: "Kinder sind bereit, sich durch die neue Mobilität auch mal von ihren Bezugspersonen zu trennen, wenn sie in ein anderes Zimmer krabbeln. Meistens sind sie dann auch emotional in der Lage, kurze Trennungen aushalten zu können." Umso größer ist die Freude, wenn Mama oder Papa nach dem kleinen Ausflug wieder im Blickfeld auftauchen.

Krabbeln fördert Sprache und das Verstehen von Gefühlen

Gleichzeitig sammeln Kinder neue Lernerfahrungen, um die visuelle Welt zu verstehen: ‚Ein Gegenstand ist nicht neu, sondern ich habe mich bewegt. Und etwas verändert sich, weil ich meine Situation verändere’ sind Aha-Erlebnisse für kleine Entdecker. "Aus der Forschung wissen wir, dass Krabbelkinder schneller Wörter verstehen, weil das neue Können häufig dazu führt, dass Eltern verstärkt mit ihren Kindern kommunizieren. Sie werden begrüßt und verabschiedet, ermuntert und getröstet, wenn es mal nicht so gut klappt. Zudem konnten wir feststellen, dass die Kinder Emotionen im Gesicht des Gegenübers besser verstehen können. Auch weil sie nun mehr mit Warnungen, Hinweisen und wechselnden Gesichtsausdrücken konfrontiert werden", sagt Schwarzer. Diesen Wissensvorsprung holen aber Kinder, die nicht krabbeln auf anderem Weg rasch wieder auf.

Sicherheit geht vor Training

Sollten Eltern also das Krabbeln fördern? Beide Experten sind sich einig: Spielerisch und ohne Druck ja, "manche Kinder entdecken tatsächlich durch eine sogenannte Krabbelrolle das Krabbeln für sich", so Schwarzer. "Und ich kann auch die Umstände bewegungsfreundlich gestalten, in dem ich meinem Kind Stopper-Socken oder eine stumpfere Hose anziehe, damit es auf dem glatten Boden nicht wegrutscht." Von gezieltem Krabbel-Training halten weder Entwicklungspsychologin Schwarzer noch Kinderarzt Maske etwas. Dafür um so mehr von einer kindersicheren Umgebung. "Betrachten Sie Ihre Wohnung buchstäblich aus Kinderaugen – auch perspektivisch", rät Maske. Kabel von Küchengeräten wie Wasserkocher sollten nicht erreichbar sein. Sie können heruntergerissen werden und zu schweren Verletzungen führen. Putzmittelschränke sollten abgeschlossen sein. Fenster und Türen, auch Ofentüren, gehören so gesichert, dass ein Kleinkind sie nicht öffnen kann. "Und denken Sie auch an einen Treppenschutz, damit Ihr Kind gefahrenlos die Welt erobern kann", sagt Maske.

Wann zum Arzt wenn Baby nicht krabbelt?

Wenn allerdings die Monate vergehen und Ihr Baby krabbelt nicht und zieht sich auch nicht hoch, sondern robbt nur oder zieht ein Bein hinterher, sollten Sie etwas unternehmen. Lassen Sie Ihr Kind dann vom Kinderarzt untersuchen.

Was passiert wenn ein Baby nicht krabbelt?

Oft löst es bei Eltern Besorgnis aus, wenn ihr Kind etwa mit zehn Monaten noch nicht krabbelt. Diese Sorge ist ganz natürlich – aber in den allermeisten Fällen unnötig. Babys entwickeln ihre Fähigkeiten sehr unterschiedlich, manche schneller, manche langsamer.

Wann kann Baby spätestens Krabbeln?

Die Zwischenergebnisse im Überblick.

Wieso Krabbeln manche Kinder nicht?

Es gibt keine Kleinkinder, die nicht krabbeln wollen! Dabei handelt es sich um eine evolutionsbiologische Gesetzmäßigkeit, der niemand entkommt. Der Bewegungsdrang ist in jedem Kleinkind fest verankert und wird sich daher früher oder später durchsetzen.