Wann wird es endlich wieder so wie es nie war Charakterisierung Vater?

Ist das normal? Zwischen Hunderten von Verrückten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzuwachsen? Der junge Held in Meyerhoffs zweitem Roman kennt es nicht anders und mag es sogar sehr. Sein Vater herrscht über 1200 Patienten, verschwindet zu Hause aber in seinem Lesesessel. Seine Mutter organisiert den Alltag, hadert aber mit ihrer Rolle. Seine Brüder widmen sich hingebungsvoll ihren Hobbys, haben für ihn aber nur Häme übrig. Und er selbst tut sich schwer mit den Buchstaben und wird immer wieder von diesem großen Zorn gepackt. Glücklich ist er, wenn er auf den Schultern eines glockenschwingenden, riesenhaften Insassen übers Anstaltsgelände reitet.

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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.2013

Mit "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" setzt Joachim Meyerhoff sein Lebenserinnerungsprojekt "Alle Toten fliegen hoch" fort, berichtet Rezensent Martin Halter. In diesem zweiten Band erzählt der Autor von seiner "Kindheit überm Kuckucksnest", über der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hesterberg bei Schleswig, deren Direktor Meyerhoffs Vater war. Ähnlich wie in "Amerika", dem ersten Band, bewegt er sich dabei nicht chronologisch durch die Ereignisse, sondern knüpft assoziativ Verbindungen zwischen einzelnen Erinnerungsinseln, erklärt der Rezensent. Das Krippenspiel mit der "Jungfrau Maria in der Zwangsjacke" zum Beispiel, oder der Ministerpräsident Stoltenberg, der im Matsch landet, weil einer der "Irren" ihn erschreckt. Manche der Geschichten sind zwar zum Brüllen komisch, meint Halter, aber so ganz traut er ihrem Wahrheitsgehalt nicht, Meyerhoff sei schließlich "auch als Schauspieler eine Rampensau". Mit der Krebserkrankung seines Vaters führt Meyerhoff seine Erzählung allerdings wieder einem traurigen Ende zu, warnt der Rezensent.

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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 20.06.2013

Mit Melancholie und Witz und dialektischer Versponnenheit erzählt Joachim Mayerhoff hier laut der gerührten und beschwingten Kritik Elisabeth von Thaddens aus seiner Jugend. Es geht darum, dass die Erfindung in der Erinnerung liegt, dass wahr ist, was nur durch solche Erinnerung imaginiert wird, und es geht - offenbar autobiografisch gefärbt - um die Kindheit des Autors in einem Irrenhaus in Schleswig-Holstein voller farbiger Figuren. Thadden hat diese Reise in einen Anstaltsgarten merklich genossen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 13.06.2013

Schlimm an diesem Adoleszenzroman erscheint Rainer Moritz mitunter nur die sprachliche Sorglosigkeit. Farblos, voller Wiederholungen, Baedekerton fällt ihm dazu ein. Ansonsten jedoch gefällt ihm, was Joachim Meyerhoff, der damit an seinen Roman "Alle Toten fliegen hoch" anknüpft, über seine Kinderstube in der väterlichen Kinder- und Jugendpsychiatrie Schleswig zur Zeit Kohls zu berichten hat. Weder der Anekdotenreichtum noch die Pointenseligkeit des Textes gehen Moritz auf den Senkel. Des Autors integrativer Umgang mit den Patienten findet er sogar höchst respektabel. Und als exemplarischer Alltagsausschnitt aus der Birne-Ära taugt das Buch auch.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 13.03.2013

Großer Jubel beim Rezensenten Detlef Kuhlbrodt: So hervorragend wie schon das erste Buch aus Joachim Meyerhoffs "Alle Toten fliegen hoch"-Zyklus ist auch das zweite. "Sehr lebendig, traurig und glücklich" geht es laut Kuhlbrodt in diesem Buch über einen siebenjährigen Jungen zu, der einen toten Rentner findet und beim immer neuen Erzählen dieser Geschichte in einen Reflexionsprozess über Gedächtnis und Fantasie gerät. So lässt sich denn auch der sonderbare Titel verstehen, legt der Rezensent dar: Die Vergangenheit muss man immer wieder neu formen, um sie lebendig zu halten. Oder, wie Kuhlbrodt den Jungen zitiert: "Erfinden heißt Erinnern." Für den Rezensenten eine sehr einleuchtende Idee.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 13.02.2013

Große Operette, freut sich Till Briegleb über den zweiten Teil der Lebenserinnerungen von Joachim Meyerhoff, der hier eine Kindheit in der Psychiatrie, nicht als Patient, sondern als Psychologen-Sohn verhandelt. Das wird lustig! Und wie, sogar kleinste Ereignisse werden zum Riesenspaß, meint Briegleb, wenn lauter Durchgeknallte dran teilnehmen. Dass der Autor auch anders kann, merkt der Rezensent am Ende des Buches. Da stirbt der Vater und es wird existenziell. Trauer und Mitgefühl, staunt Briegleb, kann der Autor auch.

Mein erster Toter war ein Rentner. Lange bevor in meiner Familie ein Unfall, eine Krankheit und Altersschwäche die nächsten geliebten Menschen verschwinden ließen, lange bevor ich hinnehmen musste, dass der eigene Bruder, der zu junge Vater, die Großeltern, ja selbst der Kindheits-Hund nicht unsterblich waren, und lange bevor ich in ein zwanghaftes Dauergespräch mit meinen Gestorbenen geriet – so heiter, so verzweifelt -, fand ich eines Morgens einen toten Rentner.

Mit diesem Satz beginnt der zweite Erinnerungsband des Schauspielers Joachim Meyerhoff, in dem er aus seiner Kindheit erzählt. Sein Vater war der ehemalige Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig.

Die Erinnerungen beginnen kurz nach seinem siebten Geburtstag und enden, als er ca. Mitte zwanzig ist. Dabei kreisen viele der Geschichten um den schwer übergewichtigen Vater, der so gerne abnehmen möchte und Bücher und Zeitschriften und Zeitungen in sich hineinstopft und sich danach an alles erinnern kann, was er gelesen hat.

Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so wahllos hochgebildet war wie mein Vater. Er konnte sich für die Deutsche Hitparade genauso begeistern wie für die Kindertotenlieder von Gustav Mahler. Er studierte die täglichen Werbeprospekte mit derselben innigen Begeisterung wie Hölderlin-Gedichte. Nichts war ihm zu entlegen, dass es nicht wert gewesen wäre, es zu wissen. (S. 171)

Der Vater geht in seiner Arbeit mit den Kranken völlig auf und fühlt sich unter ihnen wohler als unter Gesunden. Zu seinen Geburtstagen kommen nicht etwa Freunde oder Verwandte zu Besuch, sondern eine kleine Schar von Psychiatriepatienten, z. B. Ludwig.

Ludwig trug ausnahmslos Latzhosen und hakte, wenn er nicht gerade tastend seine blassen Nosferatu-Finger über den Tisch krabbeln ließ, seine Daumen unter die Verschlüsse der Träger. Er hatte Todesangst vor unserem Hund, wünschte sich aber nichts sehnlicher, als ihn zu streicheln. (S. 69)

Vater Meyerhoff wird nicht müde, seine Söhne zu Toleranz zu erziehen, und wenn sich einer der Jungen weigert, bei der Geburtstagsfeier des Vaters neben einem übergewichtigen Mädchen mit  deformiertem Kopf zu sitzen, dann ist er es, der auf die verborgene Schönheit eines jeden Menschen aufmerksam macht.

Eindringlich sprach er darüber, wie verwundert er oft sei, wenn er die Patienten nachts in ihren Betten sehe: ‚Da denke ich, ich kenne ein Mädchen seit Jahren, und plötzlich sehe ich sie schlafen. Entspannt, ruhig atmend, mit einem völlig anderen Gesicht. Und dieses arme Mädchen, das den ganzen Tag Fratzen schneiden muss und sich die Hand an den Kopf schlägt, das liegt dann da und ist wunderschön. (S. 71)

Doch dieser Seelenfachmann macht als Vater nicht immer die beste Figur. Der älteste Sohn taucht ab in sein muffiges Zimmer, das nur notdürftig von mehreren 100-Liter-Aquarien erhellt wird, der mittlere Sohn bekommt 20 Pfennig zugesteckt, wenn er es schafft, einen Tag lang mal nicht zu weinen. Und der jüngste, Joachim, wird von seinen Brüdern pausenlos gepiesakt. Sie erzählen ihm beispielsweise, dass er eigentlich ein adoptiertes Kind aus der Psychiatrie sei.

Joachim schließlich neigt zu Tobsuchts- und Jähzornanfällen, vor denen nichts und niemand sicher ist, hat Mühe, Lesen und Schreiben zu lernen und wird von der Grundschule suspendiert – heute würde mal wohl ADHS diagnostizieren.

Er kommt, nachdem er Winnetou gesehen hat, auch auf die etwas abseitige Idee, den von ihm geliebten Familienhund zum Blutsbruder zu machen. Nach dieser Aktion ist der Hund nie mehr gemeinsam mit ihm in den Keller gegangen.

Joachim liebt die Momente, in denen er seinen Vater in dessen Behandlungszimmer besuchen darf und von ihm fachgerecht abgeklopft und untersucht wird.

Mein Vater untersuchte mich mit wirklicher Hingabe, und ich genoss die Ernsthaftigkeit, mit der er sich mir widmete. (S. 152)

Die Mutter steht weniger im Zentrum, hat aber auch nicht immer ein glückliches Händchen in der Erziehung. Als sie beispielsweise von einem ihrer Kinder ein selbstgemaltes Bild geschenkt bekommt, hängt sie es auf – im Zimmer eben dieses Sohnes.

Je älter der Ich-Erzähler wird, umso stärker wird die Zeit gerafft. Der Amerika-Aufenthalt, um den es schwerpunktmäßig in Meyerhoffs erstem Buch ging, wird auf wenigen Seiten zusammengefasst.

Schließlich erkrankt der Vater schwer. Die Mutter kehrt aus Italien zurück, um sich um ihren Mann zu kümmern. Und da kommt es zu einem innigen Moment zwischen Sohn, Mutter und Vater – für mich eine der rührendsten Szenen des Buches.

Diesmal ist mein Leseeindruck zwiespältig.

Beeindruckend ist auch hier die Unbefangenheit im Umgang mit den Psychiatriepatienten, den Menschen, die einfach anders sind, was Joachim und seine Brüder allerdings nicht daran hindert, sich auch derbe über die Kranken lustig zu machen.

Über tausend Patienten lebten damals auf dem Klinikgelände und das Haus der Direktorenfamilie lag mittendrin. Jahrelang glaubte Joachim, dass die Außenmauern und Tore zum Schutz vor Eindringlingen von außen gedacht seien. Die Meyerhoff-Söhne spielen mit den gleichaltrigen Kranken. Es ist eben normal, dass nicht alle „normal“ sind, was sich auch beim alljährlichen Spektakel des Krippenspiels zeigt.

Natürlich war die Spielweise je nach Station völlig verschieden. Da der Psychiatriegottesdienst gemeinsam mit der Erwachsenenpsychiatrie gefeiert wurde, gab es auch Krippenspiele mit für immer eingesperrten Sexualstraftätern, sogar mit Mördern, bei denen hinter jedem Hirten sprungbereit ein riesiger Pfleger stand. Und sogar einen Josef in Handschellen und die Jungfrau Maria in der Zwangsjacke habe ich gesehen. (S. 141)

Wie auch bei Alle Toten fliegen hoch findet Meyerhoff oft wunderbar treffende Bilder:

Ich habe Frauen oder Mädchen gesehen, die hingen an ihren Zigaretten wie an einem seidenen Faden aus Rauch über einem schwarzen Abgrund. Geredet wurde kaum. (S. 31)

Und auch der trockene Witz machen wieder Spaß. Es ist schwierig, bei manchen Stellen nicht laut loszuprusten, z. B. bei der Beschreibung der Wikingertage, die alljährlich in Schleswig stattfinden, oder bei der Schilderung, wie der damalige Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg zur Einweihung eines neuen Klinikgebäudes kam und am Ende von seinen Leibwächtern …

Meyerhoff kann erzählen, Pointen setzen und Dialoge schreiben, in denen alle Protagonisten ihre ganz eigene Stimme haben. Er erzeugt eine Unmittelbarkeit, dass man meint, man sitze bei Meyerhoffs mit am Tisch. Man ist gerührt, entsetzt, betrübt und amüsiert. Und seine ungewöhnliche Kindheit bietet dafür Stoff in Überfülle (die Frage, wie viel davon wahr ist, umgeht Meyerhoff in Interviews dabei immer ganz luftig mit dem Hinweis, dass Erfinden immer Erinnern bedeute).

Dennoch:

Das Anekdotenhafte, die Beschreibung der Vorgänge aus der Außensicht,  verhindert – vor allem im letzten Drittel – hin und wieder den Blick auf das Innenleben der Figuren. Was mich aber vor allem gestört hat, war im letzten Teil das Fehlen einer Struktur, immer wahlloser wurden Anekdoten aneinandergereiht, bis ich den Eindruck hatte, jemand habe einen großen Kasten bunter Legosteine ausgeschüttet, aus denen ich jetzt etwas bauen soll. Die Steinchen sind bunt und vielversprechend, doch die Frage, was da gebaut werden soll, scheint im Vorfeld nicht so richtig geklärt worden zu sein.

Zwar überlegt Meyerhoff selbst, was denn nun der rote Faden sein solle, doch ein bisschen mehr Stringenz in der Auswahl der Erinnerungspäckchen hätte mir gut gefallen.

Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?

Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn nur aus einer durchdrungenen, gestalteten Vergangenheit so etwas wie eine offene Zukunft entstehen kann? […] Ja, daran glaube ich: Erst wenn ich es geschafft haben werde, all diese abgelegten Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich  mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein, wird sich die Linie zu einer Fläche weiten. (S. 348)

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