Nachts wenn der vater kam

Berlin – Knapp 14 000 Kinder in Deutschland werden laut polizeilicher Kriminalstatistik jährlich Opfer von sexueller Gewalt. Die Dunkelziffer ist deutlich höher: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht bundesweit von rund einer Million betroffener Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben.

Am Dienstag trafen sich Dutzende Opfer sexueller Gewalt in der Akademie der Künste in Berlin – die „ Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ veranstaltete hier das erste öffentliche Hearing zum Thema „Kindesmissbrauch im familiären Kontext“.

Denn in den meisten Fällen ist der Täter ein Familienmitglied!

„Gewalt und Kindesmissbrauch in der Familie dürfen nicht als ,Privatsache‘ verstanden werden. Wir müssen die gesellschaftliche Verantwortung erkennen und benennen“, sagt Sabine Andresen­, Vorsitzende der Kommission.

BILD traf drei Menschen, die in ihrer Kindheit vom eigenen Vater vergewaltigt wurden – und lässt sie ihre Geschichten erzählen.

Martina Blankenfeld (53), Theaterpädagogin aus Berlin

„Ein halbes Jahr nach meiner Geburt kam meine Mutter mit einem anderen Mann zusammen. Er schlug mich bereits als Baby grün und blau. Körperliche, psychische und sexuelle Gewalt gehörte zu meinem Alltag.

Als meine Mutter 1971 für längere Zeit ins Krankenhaus musste, lebten mein Stiefvater und ich längere Zeit alleine zu Hause. Er nutzte die Gelegenheit, mich immer wieder zu befummeln. Ich war acht Jahre, als er mich das erste Mal vergewaltigte, in der Gartenlaube nahm er mich von hinten.

Ich vertraute mich meiner Großmutter an, doch da sie schwerhörig war, musste ich ihr mit Gestik und Mimik erklären, was passiert war. Sie glaubte mir, war aber vollkommen überfordert mit der Situation und verfolgte es nicht weiter.

Auch in der Schule konnte ich mir kein Gehör verschaffen, man wollte in der DDR den Einheitsmenschen, politisch war so etwas nicht gewünscht, im Vordergrund stand die Erziehung des sozialistischen Persönlichkeitsideals.

Auch von meiner Mutter gab es keine Hilfe, sie war ihrem Mann hörig – auch nachdem sie sich endlich trennten. Er tyrannisierte uns, stand oft vor dem Fenster, klopfte, sein ekelhaftes Schmatzen höre ich noch heute.

Zur Polizei oder zum Psychologen ging ich nie, stattdessen geriet ich in die Fänge der Jugendhilfe, die mich als kriminell, psychisch krank einstufte und 1978 zur Disziplinarmaßnahme wegschloss. Mit täglichen Zwangsuntersuchungen ging die Misshandlung weiter.

Meine Lebenstherapie war mein Sohn Gino, der 1988 zur Welt kam. Mit ihm sprach ich viel über das, was geschah, wir arbeiteten im Theater gemeinsam an Projekten zum Thema Missbrauch. Seine lebensbejahende Art war mir eine große Stütze, nur so schaffte ich es, den Teufelskreis zu durchbrechen.

Vor genau einem Jahr starb mein einziger Sohn an Magenkrebs. Ich bin jetzt wieder alleine. Was mich immer wieder rettet, sind meine teils biografischen Theaterprojekte mit ehemaligen Betroffenen. Ich versuche, meine Arbeit mit einer Art tiefgründigen Humor zu machen, die wie ein Rettungsanker wirkt. Ohne all das würde ich eingehen wie eine Primel.“

Michael Stock (48), Filmemacher aus Berlin

„Ich bin das jüngste von drei Kindern, und wuchs zu einer Zeit auf, in der es normal war, dass Eltern sich in andersartigen Erziehungskonzepten versuchen. In unseren Regalen standen Bücher, in denen die sexuelle Neugierde von Kindern sehr seltsam dargestellt wurde.

Bei uns zu Hause begann es mit gewissen ‚Kraulspielen‘ – doch es dauerte nicht besonders lange, bis mein Vater dabei Grenzen überschritt, die ich damals nicht verstand.

Er war Ingenieur und Alkoholiker, der Typ Pegeltrinker, der trotzdem Karriere machte. Wenn er zu viel getrunken hatte, verlor er die Kontrolle. Aus den Kraulspielchen wurde kontinuierlicher sexueller Missbrauch, das zog sich von meinem achten bis zum 16. Lebensjahr.

Während meine Klassenkameraden händchenhaltend mit Mädchen im Kino saßen, ging es bei uns zu Hause richtig zu Sache. Ich war überhaupt nicht dazu in der Lage, romantische Gefühle zu haben, weil ich mich viel zu schmutzig fühlte. Aus Scham behielt ich das ,Geheimnis‘ für mich.

Als ich zwölf war, hatte ich erstmals Selbstmordgedanken. Mit 19 klappte es dann fast. Doch ich überlebte, und vertraute mich im Anschluss meiner Mutter an. Sie hat mir ab Sekunde eins geglaubt, und das war meine Rettung.

Sie hat dann ihr ganzes Leben danach ausgerichtet, gründete eine Beratungsstelle in meiner Heimat Lörrach (Baden-Württemberg) und hilft noch heute Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben.

2010 habe ich einen Dokumentarfilm über meine Vergangenheit gedreht. In ‚Postcard to Daddy‘ arbeitete ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern den sexuellen Missbrauch auf, konfrontierte meinen Vater vor laufender Kamera mit der Vergangenheit. Er sagte damals, er habe nicht gewusst, wie sehr er mich mit dem Missbrauch zerstöre. Er selbst habe ein dickeres Fell. Entschuldigt hat er sich nicht.

‚Postcard to Daddy‘ feierte bei der Berlinale Premiere und lief auf Filmfestivals in der ganzen Welt. Sexuelle Gewalt findet überall statt. Ich glaube, mein Film hat dazu beigetragen, dass sich auch zunehmend mehr Männer trauen, über den Missbrauch in ihrer Kindheit zu sprechen.“

Sabrina Tophofen (36), Pflegeassistentin aus Krefeld (NRW)

„Als ich fünf Jahre alt war, musste ich dabei zusehen, wie meine zwölfjährige Schwester in unserem Kinderzimmer verbrannte, eine Kerze war umgefallen. Ich versuchte, das Feuer zu löschen, irgendwann kam die Feuerwehr. Sie retteten mich und meine Eltern, meine Schwester schaffte es nicht.

Vorher hatte mein Vater meine Schwester missbraucht. Jetzt war sie nicht mehr da. Also rückte ich nach. Wir zogen nach Duisburg, kurz nach ihrem Tod ging es los.

Mein Vater besuchte mich nachts in meinem Bett, zog mir die Hose aus, berührte mich zwischen den Beinen, und flüsterte: ,Du brauchst keine Angst zu haben, es ist sehr schön.‘ Er befriedigte sich selbst, machte mich voll. Ich weiß noch genau, wie ich aus einem Stapel alter Wäsche ein Shirt zog und sein Sperma von meinen Schenkeln wischte.

Meine Mutter erwischte ihn mehrfach dabei, als er mich begrapschte. Aber sie beschützte mich nicht, sondern schlug mich stattdessen.

Die erste Vergewaltigung fand im Keller statt. Ich war zehn Jahre alt. Mein Vater hatte mich eingesperrt, gab mir einen Holzbalken, in den ich beißen sollte, damit die Nachbarn mich nicht hören, wenn ich vor Schmerzen schreie.

Als ich meine Periode bekam, sagte mein Vater zu mir, er müsse jetzt aufpassen, dass ich kein Baby von ihm bekomme. Ich haute ab, fuhr nach Köln.

Sechs Jahre lebte ich als jüngstes Straßenkind auf der Domplatte, fiel durch alle sozialen Netze, ich existierte sozusagen nicht. Mit 17 bekam ich mein erstes, mit 21 das zweite Kind, doch auch der Vater meiner ersten beiden Kinder schlug mich und behandelte mich wie ein Stück Dreck.

Erst sein Nachfolger brachte mich zur Vernunft, ich holte meinen Schulabschluss nach, machte eine Ausbildung, bekam mit ihm drei weitere Kinder. Zusammen sind wir inzwischen nicht mehr. Ich bin nicht beziehungsfähig, habe ein nachhaltig gestörtes Verhältnis zur Sexualität.

Letztes Jahr stand ich in der Garage, war kurz davor, mich zu erhängen. Meine Hunde schlugen Alarm, ich tat es nicht – vor allem der Kinder wegen. Ich machte eine Therapie, arbeite inzwischen wieder 30 Stunden pro Woche, kriege mein Leben als alleinerziehende Mutter einigermaßen gut auf die Reihe, und habe ein Buch über mein Schicksal geschrieben.

Neben meinem Job kämpfe ich für Kinderrechte, halte Vorträge an Schulen und versuche damit zu verhindern, dass Kindern, denen ähnliches passiert, es nicht einfach so geschehen lassen.“

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Die Autorin Mona Michaelsen („Flüsterkind“, Schwarzkopf&Schwarzkopf) wurde als Kind von ihrem Stiefvater missbraucht. Sie hat Tipps für Fremde, Eltern und Betroffene zusammengestellt. Lesen Sie hier:

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