Buchrezension zu Die Selbstgerechten Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt

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Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten

Rezensiert von Dr. Peter Michael Hoffmann, 17.12.2021

Buchrezension zu Die Selbstgerechten Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag (Frankfurt) 2021. 345 Seiten. ISBN 978-3-593-51390-4. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.
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Thema

Ob Klimawandel, Kinderarmut, Flüchtlingspolitik, Lohndumping oder Corona- Epidemie: Es sind die zentralen und bewegenden Themen bzw. Ereignisse der Zeit mit denen Politiker aller politischen Lager sich in den verschiedensten Medien zu Wort melden. Eine Buchveröffentlichung hat dabei in Deutschland schon immer einen besonders attraktiven Stellenwert. Das Interesse der meisten Menschen sich derart engagiert für diese Art der „Wortmeldung“ eines Politikers zu interessieren, orientiert sich einerseits an der jeweils subjektiven Bewertung, welche Ereignisse oder Themen für den eigenen politischen Kosmos Bedeutung haben. Andererseits wird das Leseinteresse oft befördert durch die Popularität des Politikers und die zu erwartende öffentliche Resonanz, die sein Buch haben wird. Um „dabei zu sein“ quasi als Zeuge (Leser) des Geschehens ist es am einfachsten, das Buch zu lesen – in vielen Fällen also auch zu kaufen. Naheliegend, dass bei dem Buch „Die Selbstgerechten“ von Dr. rer.pol. Sahra Wagenknecht eine gesellschaftliche Einordnung zur Thematik und zur Bedeutung der Veröffentlichung seitens des Rezensenten eher entbehrbar scheint. Der Titel des Buches und die bearbeiteten Themen klingen fühlbar „brandaktuell“ und die Wortmeldung einer bekannten Politikerin von der man kritische Positionierung erwartet, ist publikumsnah und überaus populär.

Autorin

Bei einer Autorin wie Sahra Wagenknecht erübrigt sich eine detailliertere Vorstellung zur Person. Kurz gefasst einige Fakten zur aktuellen Situation: Im März 2019 kündigte Frau Wagenknecht an, sich aus gesundheitlichen Gründen (burnout) aus den Führungsgremien der Partei: „Die Linke“ zurückzuziehen und auch nicht mehr für den Fraktionsvorsitz der Linksfraktion im Bundestag zu kandidieren. Sie schied zum 12. November 2019 als Fraktionsvorsitzende aus dem Amt (Nachfolgerin wurde Amira Mohamed Ali).

Im Januar 2021 nominierte der Landesvorstand der Linkspartei von Nordrhein-Westfalen Sahra Wagenknecht erneut auf Platz 1 der Landesliste. Bei der Bundestagswahl 2021 erhielt sie über diese Landesliste wieder ein Abgeordnetenmandat. Sie ist damit seit 2009 für ihre Partei „ Die Linke“ Abgeordnete im deutschen Bundestag.

Mit ihrem zweiten politischen Standbein ist sie als Autorin vor allem politisch linker und gesellschaftskritischer Positionen in vielen Buchveröffentlichungen bekannt geworden. Ihr hier vorgestelltes neuestes Buch: „Die Selbstgerechten – Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ ist ein weiterer kritisch bilanzierender, aber auch appellierender Zwischenruf einer Politikerin, die sich noch nie gescheut hat, „heisse Eisen“ anzupacken und ihrer Partei – aktuell insbesondere den Lifestyle-Linken – die Leviten zu lesen. Kein Wunder, dass mehrere parteiinterne Kritiker im Juni 2021 beantragten, ein Parteiausschlussverfahren anzuregen, weil Wagenknecht mit dem Buch „Die Selbstgerechten“ der Partei „schweren Schaden“ zugefügt habe. Die Parteiführung kritisierte, nach internem politischem Gerangel, allerdings den Antrag. Der NRW-Landesvorstand stellte sich hinter Wagenknecht. Das Verfahren wurde zwar Ende Juni 2021 formal eröffnet. Die Landesschiedskommission NRW lehnte die Anträge auf Parteiausschluss jedoch im September 2021 einstimmig ab. Damit ist aber mit Sicherheit nicht das letzte Wort gesprochen.

Aufbau und Inhalt

Die Autorin stellt im ersten Teil des Buches zum Thema in eigener persönlichen Betroffenheit ihre parteipolitischen „Konfliktlinien“ dar und beklagt die „Tragödie“, dass viele Mitglieder ihrer Partei und die der SPD sich auf den Irrweg des Linksliberalismus eingelassen haben. Naheliegend, dass es zu dieser These in ihrem Buch um kritisch-bilanzierende Analysen gesellschaftlicher Prozesse und die daraus folgenden politischen (parteipolitischen) Positionierungen gehen muss. Im zweiten Teil werden Eckpunkte eines Zukunftsprojekts skizziert, das, nach Meinung der Autorin, die Lebensverhältnisse der großen Mehrheit unserer Gesellschaft verbessern würde. Die Themenschwerpunkte der beiden Teile des Buches wurden in 12 Unterabschnitte gegliedert. Plausible und verständliche Überschriften zu den verschiedenen Themen erleichtern dem Leser den schnellen Zugang zur inhaltlichen Vorgehensweise der Autorin.

Vorwort

Im ausgiebigen Vorwort beklagt die Autorin die tiefe Gespaltenheit und das feindselige Gegeneinander in der Politik in der deutschen Gesellschaft. Gemeinwohl und Gemeinsinn sind Worte, die aus der Alltagsprache verschwunden sind. Wagenknecht setzt sich mit den Fragen auseinander, wer die Urheber und was die Ursachen dieser Entwicklung waren und sind.

In ihren folgenden Kapiteln geht es um die politischen Perspektiven der Linken für die Zukunft. Sie versucht zu klären, was es heißt bzw. heißen könnte: Linkssein im 21. Jahrhundert. Ein Linkssein jenseits der Klischees und moderner Phrasen.

Teil 1: Die gespaltene Gesellschaft und ihre Freunde

Zunächst beschäftigt sich die Autorin mit den Veränderungen innerhalb der Gruppe der gesellschaftlichen Linken. Nach ihrer Einschätzung wird die öffentliche Wahrnehmung der sog. Linken zusehends von einer Gruppe dominiert, die Wagenknecht als Lifestyle-Linke bezeichnet. Die traditionelle Linke früherer Prägung stand dafür, Menschen vor Armut, Ausbeutung und Demütigung zu schützen. Die heutigem Lifestyle-Linken sieht sie als eine Gruppe von Bessergestellten, die ihre Weltsicht und Lebensweise zum Inbgriff von Progressivität und Verantwortung zu verklären weiß und eigentlich nur sich selbst und Eliten vertritt. Nur noch eine Minderheit tritt dafür ein, die Lebensumstände von weniger Privilegierten zu verbessern. Lifestyle-Linke beschäftigen sich mit der sozialen Frage nur am Rande. Dafür umsomehr um „Gendersternchen, Triggerwörter, Prolls und Covidioten“.Wenn sie auf die Straße gehen bleiben sie unter sich – egal ob es ums Klima, LGBTQ+ oder gegen Rassismus geht – es sind häufig Menschen aus Gruppen der Bessergebildeten und Besserverdiener.

Gemeinsame Werte schaffen Vertrauen, festigen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und sind stets wichtige Zielsetzungen in allen politischen Strömungen. Nachteilig kann es allerdings werden, wenn diese Werte nicht hinterfragt werden und letztlich für den Zusammenhalt einer Gesellschaft negative Folgen haben.

„Erzählungen“ – ein Begriff den Wagenknecht immer wieder nutzt – formen unser Denken (Tellerwäscher-Erzählung) und hindern uns oft daran, ihre Voraussetzungen zu hinterfragen. Hier beginnt die Autorin mit ihrer kritischen Analyse, der über Jahrhunderte geführten politischen Kämpfe und deren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Im den Kapiteln „Solidarität, Triumph und Demütigung: die Geschichte der Arbeiter“, „Die neue akademische Mittelschicht“ und die „Zuwanderung-wer gewinnt, wer verliert“ beschreibt und analysiert die Autorin die Hintergründe dieser gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Analyse umfasst die frühkapitalistische Industriealisierung mit der Lebenssituation einer Klasse, die ökonomisch nur geringe Chancen auf Wohlstand, Sicherheit oder gar Aufstieg hatte bis hin zur gegenwärtigen Situation mit dem „Siegeszug“ des Linksliberalismus. Zu Beginn dieser gesellschaftlichen Prozesse waren es die Linken, die die traditionell Unterprivilegierten vertraten. Heute, so die Feststellung der Autorin, stehen die linksliberalen Linken auf der Seite der Gewinner der sozialen Veränderungen. Diese Linksliberalen – typisch auch als Life-style Linke beschrieben – wähnen sich modern, fortschrittlich und dem Zeitgeist zugetan sind aber, so schreibt Wagenknecht, dem Bild des Neoliberalismus näher, als viele ahnen.

In folgenden Abschnitten wird hinterfragt, wem diese „Erzählung“ Linksliberalismus nützt bzw. wer die Leidtragenden sind. Es geht um die neue akademische Mittelschicht und die neuen Helden: sie sind eigennützig, mobil und flexibel.

Als großen Erfolg für die Verbreitung des Linksliberalismus in Europa bezeichnet die Autorin die Politik a' la Margaret Thatcher. Ausführlich beschreibt sie das Charakteristikum und die Auswirkungen dieser Strömungen wie z.B. die Entstehung von Parallelgesellschaften und die Auflösung von Gemeinsamkeit. Stichworte hierfür sind auch die Entstehung eines islamistischen Paralleluniversums, das Scheitern von Integration und das große Thema der Zuwanderung. Wichtige erste Schritte um Probleme in Entwicklungsländern zu lösen sind, nach Auffassung der Autorin, die Beendigung westlicher Interventionskriege und die sofortige Einstellung von Waffenlieferungen in Bürgerkriegsgebiete.

Eine abschließende Themenstellung im ersten Teil des Buches befasst sich mit den politisch rechten Parteien in Deutschland und in ganz Europa. Die Entstehung und Wirkung dieser Strömungen ist nicht Ausdruck und Ergebnis eines kaum beeinflussbaren allgemeinen rechten Zeitgeistes oder eines möglicherweise kulturell stimulierten Mainstreams. Es gibt, nach Wagenknecht eher einen politischen Rechtstrend der rechte Parteien immer stärker und einflussreicher werden lässt.

Der erste Teil ihres Buches ist eine Analyse und Abrechnung über die Fehlentwicklungen linker Politik der vergangenen Dekaden und im vergangenen Jahrhundert. Wagenknecht beschreibt Enttäuschungen über falsche politische Prioritäten im linken Lager sowie schädliche Weichenstellungen und irreführende „Erzählungen“. Durch eine Reihe von Versäumnissen ließen viele Linke, politisch betrachtet, Menschen im Stich, die existentiell auf mehr Gemeinwohl und Gemeinsinn angwiesen wären. Solange es den Linken nicht gelingt ein überzeugendes politisches Angebot zu machen, werden immer mehr Menschen, die nicht zu den wohlhabenden Akademikern und Bildungsbürgern gehören, sich von der Politik generell abwenden oder radikale politische Alternativen suchen. Wie es besser werden könnte, beschreibt die Autorin im 2. Teil ihres Buches.

Teil 2: Ein Programm für Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand

Im zweiten Teil ihres Buches werden, wie die programmatische Überschrift bereits ankündigt, die Zielsetzungen und Umsetzungsstrategien neuer linker Politik aus der Sichtweise der Autorin vorgestellt. Es geht zunächst um die Frage, welches gemeinsame Fundament Gesellschaften zusammenhält. Menschen leben in Gemeinschaften und brauchen einander. Die Autorin beschreibt traditionelle Gemeinschaftwerte, auf die aufzubauen wäre. Als Arbeiter wertkonservativ zu sein und Gerechtigkeitswerte zu verinnerlichen ist konservativ und zugleich auch links. Eine solche Einstellung wäre dann in ein linkskonservatives Programm einzubinden.

Bei den weiteren Themenstellungen werden diese fundamentalen Interessen von Gemeinschaften als Ausgangspunkt gewählt, um zu überprüfen, inwieweit z.B. supranationale Institutionen wie die Europäische Union dazu beitragen könnten, den Menschen in den Mitgliedsstaaten mehr zu nützen als sie es gegenwärtig tun. Nationalstaaten wird oft Handlungsunfähigkeit vorgeworfen, um der „Erzählung“ Gewicht zu geben, dass souveräne Staaten immer überflüssiger werden. Das Gegenteil sei der Fall, so stellt Wagenknecht fest: Als handlungsunfähig hat sich eher die europäische Ebene erwiesen. Diese Einschätzung ist für sie dann Ausgangspunkt zur Entwicklung eigener Vorschläge bzw. Ideen wie ein echter Internationalismus im Sinne einer solidarischen Gemeinschaft aussehen sollte bzw. könnte.

„Demokratie oder Oligarchie: wie wir die Herrschaft des großen Geldes beenden“ und „Fortschritt statt Fake: Leistungseigentum für eine inovativere Wirtschaft“ sind Themen, die zentral stehen für ein Programm mit der Leitidee mehr Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand in der Gesellschaft zu generieren. In den USA ist die Käuflichkeit der Politik durch die Spenden großer Wirtschaftsunternehmen offenkundig. Soweit ist es nach Einschätzung der Autorin in Deutschland noch nicht. Dennoch bewertet sie die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht bei Großunternehmen als eine Gefahr für die Demokratie und fordert eine Marktwirtschaft ohne Konzerne.

Nach Einschätzung der Autorin hatte die gegenwärtige kapitalistische Ordnung in den westlichen Industrieländern des 20. Jahrhunderts ihre beste Zeit in den fünfziger bis achtziger Jahren. Die Ursachen gegenwärtiger Schwächen sind vielfältig. Der Kapitalismus hat aber seine innovative Dynamik verloren und die Globalisierung war kein Motor für Wohlstand, sondern für wachsende Ungleichheit. Wagenknecht sieht dagegen große wirtschaftliche Erfolge in China und appelliert an die europäische Industrie, die industrielle Wertschöpfung zurück nach Europa zu holen und in Schlüsselwirtschaften wie der Digitalwirtschaft unsere Abhängigkeit zu überwinden.

Im Schlusswort rekapituliert die Autorin nochmal ihre Einschätzung zur gegenwärtige gesellschaftlichen Situation und beklagt die wachsende Ungleichheit und die zunehmende Armut. Sie beobachtet in der Gesellschaft ein Misstrauen und eine Feindseligkeit sowie ein neben- und gegeneinander in den unterschiedlichsten Mileus. Wagenknecht wirbt für ein Zukunftsprogramm, das gemeinschaftsorientierte Werte in den Mittelpunkt einer auf sozialen Ausgleich orientierten Politik stellt.

Diskussion

Den berühmten Satz des Soziologen Max Weber: „Politik bedeutet also ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ möchte man Wagenknecht an vielen Stellen ihres Buches zurufen. Eine Politikerin, die abwartet und bedächtig abwägt ist die Autorin Wagenknecht eher nicht. Dennoch gewinnt man den Eindruck von einer Frau, die Politik oft – aber nicht nur – mit „Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß“ vertritt – Qualitäten die, wie Max Weber es sieht, ein Politiker auf jeden Fall haben sollte. Manchmal wirkt sie auch resigniert. So stellt sie fest, dass „cancel culture“ an die Stelle fairer Auseinandersetzungen getreten ist und glaubt zu wissen, dass sie nun auch „gecancelt“ wird. Wagenknecht möchte in der Politik schnelle und gründliche Veränderungen. Um Dampf in den Kessel zu bringen polarisiert sie gelegentlich mit vielen ihrer Analysen und Kommentaren und negiert politische Werthaltungen, die nicht dem linken politischen Himmel zuzurechnen sind.

Es gibt eine Reihe von Zuspitzungen in den einzelnen Kapiteln des Buches, die deutlich machen, dass die Autorin nicht selten monokausal argumentiert. Ein Beispiel: Im Kapitel „Das Märchen vom Zeitgeist“ beschreibt sie das Problem des wachsenden Einflusses der Rechtsparteien in der politischen Landschaft. Wagenknecht kritisiert die Auffassung, dass die Erfolge der Rechten nach allgemeiner Meinung dem rechten Zeitgeist geschuldet werde und hält dies nur für eine bequeme Erklärung und dazu eine völlig falsche. Man verwechsle hier Ursache mit Wirkung. Nicht der „Zeitgeist“ sondern die Rechtsparteien sorgen dafür, dass es mehr Rassisten, Homophobe und Reaktionäre gibt. Der wachsende Einfluss der rechten Parteien in den öffentlichen Debatten und in den sozialen Medien verändert das Klima und Denken in Richtung zu mehr Ressentiments und mehr Vorurteilen analysiert Wagenknecht. Auf den Punkt gebracht: Rechtsparteien prägen so Weltanschauungen und tragen zu rechten Wahlerfolgen bei.

Prüft man die argumentative Basis der Aussage, lohnt sich ein Blick auf die Wahlergebnisse bei den Bundestags-und Landtagswahlen in den Bundesländern. Mehr als deutlich ist zu erkennen, dass es gravierende Unterschiede der Stimmenanteile für die AfD zwischen den neuen und alten Bundesländern gibt. Eine Deutung in Richtung auf die Wirkung der Medien und das jeweilige politische Klima wäre die wesentliche Ursache des Wahlerfolgs greift zu kurz. Im Vergleich der Bundesländer zeigt sich, dass (rechts-)populistische Einstellungen in Hamburg am wenigsten verbreitet sind gefolgt von Hessen, Berlin und Rheinland-Pfalz. Am stärksten ausgeprägt sind (rechts-)populistische Haltungen in den ostdeutschen Bundesländern und hier vor allem in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Das ist – wie eine Vielzahl von Studien belegen – keinen zufälligen, oder regionalen Erscheinungen geschuldet. Natürlich drückt sich hier ein „Zeitgeist“ aus. Er ist ein gesellschaftlicher Stimmungsbarometer das allgemeine und langfristige Prozesse und Einstellungen in den neuen Bundesländern abbildet.

Es sind diese einfachen monokausalen Erklärungen, die beim Lesen manchmal stören. Ist es wirklich so, dass Menschen nicht wählen gehen, weil Mindestlohnforderungen nicht durchgesetzt werden, Renten gekürzt und unsichere Niedriglohnjobs ermöglicht werden? Geht man deshalb nicht wählen: Vielleicht auch, aber nur? Ärgern sich die Reichen über Zuwendungen an Asylanten. Umgekehrt ginge es argumentativ übrigens auch: wer wählt will Veränderungen – und wer nicht wählt ist resigniert oder zufrieden mit der Situation und sieht kein Handlungsbedarf. Nicht zu vergessen, manche Menschen interessieren sich überhaupt nicht für Politik (- ein Zeitgeist?). 

Fazit

Insgesamt realisiert das Buch das, was es ankündigt: Alternativen zu einem Linksliberalismus vorzustellen, der nach Meinung der Autorin zu Unrecht vorgibt progressiv, zukunftsorientiert, weltläufig, wirtschaftsliberal und individualistisch die Probleme der Zeit bewältigen zu können. An dieser „Speisekarte“ lässt Wagenknecht kein gutes Haar und glaubt eher, dass sich die Mehrheit der Deutschen mit diesen Speisen schon ordentlich den Magen verdorben hat. Sie entwickelt ein politisches Programm für Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand. Wagenknecht appelliert an die politische Elite, elementaren Bedürfnissen beim Zusammenleben in menschlichen Gemeinschaften mehr Rechnung zu tragen. Sie wirbt für soziale Wertehaltungen, die es lohnen, politische Konzepte zu entwickeln, die den sozialen Zusammenhalt und den Gemeinsinn fördern und nicht Gesellschaften spalten. Die Argumente für ihre Konzepte werden kenntnisreich, wissenschaftlich fundiert – wenngleich nicht immer ausgewogen – in jedem Fall anschaulich dargestellt. Es macht Spaß, die kontroversen Positionen verdeutlicht zu bekommen.

Wer Positionen in den verschiedenen Flügeln der Partei „Die Linke“ kennenlernen will, den bedient Frau Wagenknecht mit ihrem Buch vorzüglich. Sie informiert und argumentiert jedenfalls meist umfassend – wenn auch gelegentlich einseitig, aber engagiert. Die Recherchen werden stets gut dokumentiert und die vielen Quellenangaben verweisen auf weiterführende Literatur.

Es ist sicher nicht unfair oder übertrieben, das Klima innerhalb der Partei „Die Linke“ als vergiftet zu bezeichnen. Zumindest wird dies bei vielen Positionierungen der Autorin bei der Lektüre ihres Buches deutlich. Wer also zu den Ursachen und Triebkräften dieser Spaltungen genaueres erfahren will, sollte das Buch unbedingt lesen. Wenn man sich allerdings eine nach wissenschaftlichen Kriterien ausgewogene, interdisziplinäre politische Studie zu gesellschaftlichen Phänomenen unter dem Blickwinkel der linken Parteienlandschaft erhofft, wird Kritikpunkte sammeln können. Es ist bekannt: Frau Wagenknecht steht für Themen wie „Freiheit statt Kapitalismus“ oder „Reichtum ohne Gier“ – das polarisiert gelegentlich.

Rezension von
Dr. Peter Michael Hoffmann
Dipl. Sozialwissenschaftler, Sozialarbeiter, freier Autor
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Es gibt 29 Rezensionen von Peter Michael Hoffmann.

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Zitiervorschlag
Peter Michael Hoffmann. Rezension vom 17.12.2021 zu: Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag (Frankfurt) 2021. ISBN 978-3-593-51390-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28339.php, Datum des Zugriffs 23.10.2022.


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