1989 wer heute nicht in berlin ist ist nicht lebendig

Am 9. November 1989 kommen Ost- und Westdeutsche an der Mauer zusammen. Prominente und Zeitzeugen erzählen von dem historischen Tag und einer magischen Stadt. 38 persönliche Protokolle über die Stunden des Mauerfalls.

Angela Merkel, 55, Bundeskanzlerin

Als die Mauer gebaut wurde, war ich zwar erst sieben Jahre alt, aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass wir am Freitag vor dem Mauerbau in den Wäldern um Berlin schon überall Stacheldraht gesehen haben. Deshalb war meinen Eltern klar, dass irgendetwas passieren würde. Die meisten Menschen konnten sich allerdings nicht vorstellen, dass die Stadt geteilt werden würde.

Doch dann kam der 13. August 1961, ein Sonntag: Mein Vater hielt als Pfarrer den Gottesdienst in seiner Gemeinde - ich werde nie vergessen, wie tieftraurig die Menschen waren. Schon aus meiner Kinderperspektive war mir klar: Es muss etwas Furchtbares passiert sein.

Die DDR war auf Unrecht aufgebaut, und es gab nie freie Wahlen. Neben dem SED-Regime gab es auch ein privates Leben. Wir hatten Freundschaften, wir haben gelacht und geweint wie jeder Mensch. Wir hatten mal gut und mal schlecht gelaunte Eltern, schöne Weihnachtsferien und wunderbare Urlaube. Leben bestand Gott sei Dank nicht nur aus dem Staat. Aber beispielsweise im ehemaligen Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen kann man sehen: Wenn man auch im Privatleben eine bestimmte Grenze überschritt, dann schlug der Staat zu.

Ich habe im Lauf meines Lebens in der DDR durchaus darüber nachgedacht, einen Ausreiseantrag nach Westdeutschland zu stellen. Aber meine Bindung an Freunde, an Eltern, an Verwandte war zu groß, als dass ich meine gesamte Umwelt und Lebenswelt hätte verlassen können.

Der Fall der Mauer am 9. November 1989 war für uns in der DDR ein unbeschreibliches Ereignis. Er war der Anfang vom Ende der SED-Diktatur. Er bedeutete das Ende des Kalten Krieges. Ich selbst habe diesen Abend in Berlin miterlebt. Ich sah Schabowskis Pressekonferenz im Fernsehen und rief sofort meine Mutter an, um sie an eine alte Verabredung zu erinnern: Wenn uns die Mauer nicht mehr am Reisen hindern würde, würden wir, so sagten wir immer in meiner Familie, im Kempinski Austern essen gehen. Wir rechneten allerdings beide nicht damit, dass sich die Grenze noch am selben Abend öffnen würde.

Also ging ich wie jeden Donnerstagabend in die Sauna. Als ich zurückkam, hörte ich, der Grenzübergang Bornholmer Straße sei offen. Ich bin sofort hingelaufen und habe wie tausend andere Menschen den Grenzübergang nach Westen überquert. Ich empfand - wie alle anderen - eine unglaubliche Freude. Der Empfang in West-Berlin war sehr, sehr herzlich. In einer wildfremden Wohnung haben wir mit einer Dose Bier auf die Maueröffnung angestoßen. Dann bin ich wieder nach Hause nach Ost-Berlin gegangen.

Bono, 49, Sänger der irischen Rockband U2 und Mitbegründer der Afrika-Hilfsorganisation "One"

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Am Tag, als die Mauer fiel, waren U2 gerade am anderen Ende der Welt, auf Tournee in Neuseeland. Einen Tag später, am 10. November, gaben wir ein Konzert in Auckland mit B.B. King. Ich habe an einer Stelle zum Publikum gesprochen und den mutigen Menschen in Ost-Deutschland einen Song gewidmet dafür, dass sie ohne Gewalt eine solch epochale Veränderung herbeigeführt hatten.

Die Ereignisse und die Folgen des 9. November sollten mich und meine Band noch längere Zeit beschäftigen. Wir waren mit U2 damals auf dem Zenit angekommen, brauchten dringend eine Umorientierung, wir mussten uns neu erfinden, um als Künstler relevant zu bleiben. Das im Umbruch befindliche Berlin, das legendäre Hansa-Studio in der Nähe der Mauer, schien uns der ideale Platz, um unsere eigene Verwirrung mit den Wirrungen der Zeit abzugleichen.

Wir kamen am Abend des 3. Oktober 1990, am Tag der offiziellen Wiedervereinigung Deutschlands, in Berlin an. Wir flogen mit dem letzten Flugzeug der British Airways, das noch auf ostdeutschem Boden landete, bevor die DDR aufhörte zu existieren. Unser Tour-Manager hatte uns in einem Hotel eingebucht, das früher das Gästehaus für sowjetische Führer war. Und mich hatten sie zufällig in der ehemaligen Suite von Breschnew einquartiert. Draußen auf den Straßen wurde überall gefeiert. Wir wollten dabei sein, mischten uns unter die Menschenmenge. Nach einer Weile waren wir allerdings etwas irritiert, weil wir nicht den Eindruck hatten, dass sich die Leute um uns herum groß amüsieren würden. Wir dachten nur: "Mensch, diese Deutschen haben wirklich keinen Sinn für ausschweifende Partys."

Bis sich herausstellte, dass wir bei der falschen Parade mitgelaufen waren - Schulter an Schulter mit unverbesserlichen Kommunisten, die gegen den Fall der Mauer protestierten. Das hätte eine prima Schlagzeile abgegeben: U2 treffen in Westberlin ein und protestieren gegen den Fall der Mauer.

Günter Schabowski, 80, war 1989 Mitglied im Politbüro und 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin

Als ich mich aus der Sitzung des Zentralkomitees in die Pressekonferenz verabschiedete, schob Egon Krenz mir den Regierungstext zu. Die Essentials, Reisefreiheit und das Recht auf ständige Ausreise, waren enthalten. "Das wird ein Knüller", sagte er und drängte mich, auf der Pressekonferenz die neue Regelung bekannt zu geben. Wir waren uns einig, uns damit vom zunehmenden öffentlichen Druck zu entlasten.

Ich entschied mich, erst kurz vor Ende meiner einstündigen Information auf die veränderte Reiseregelung zu sprechen zu kommen. Dass meine beiläufige Mitteilung über die Grenzöffnung die Reformansätze der SED um- und abwerten sowie letztlich die politische Landkarte des Kontinents verändern würde, lag damals jenseits meiner Vorstellung. Der Text lautete: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt … Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Westberlin erfolgen."

Krenz hatte mir jedoch nichts von der Sperrfrist zu der Verordnung gesagt: Die Neuerung sollte erst am 10. November um vier Uhr früh durch einen Rundfunksprecher bekanntgegeben werden. Bis dahin sollten die Grenzposten von der Regelung in Kenntnis gesetzt werden. Davon stand nichts in meiner Vorlage.

Es ist bezeichnend, dass ich nicht von mir aus, sondern durch eine unverhoffte Zwischenfrage eines italienischen Journalisten mit der Sensation herausrückte. Gegen 18.50 Uhr gab ich kurz angebunden die Auskunft, dass die neue uneingeschränkte Reiseregelung "sofort, unverzüglich" in Kraft sei. So kam es, dass die Grenze einige Stunden früher passierbar wurde, als es sich der Amtsschimmel ausgedacht hatte. Bald nach der Pressekonferenz wollte vor allem in Berlin eine rasch zunehmende Zahl von Bürgern die Öffnung "testen". Eine mehrstündige gefährliche Phase der Unsicherheit an den Berliner Passierstellen war die Folge.

Als ich davon erfuhr, wurde ich nervös: Mein Gott, wenn es durch die Informationspanne zu einer Zuspitzung kommt! Ich musste sofort zurück, um das bedrohliche Knäuel am Übergang Bornholmer Straße aufzulösen. Wir kamen von Norden, über die Schönhauser Allee, ich wollte dem Bornholmer Posten die Anweisung zum Öffnen der Grenze geben. Doch als ich aus dem Wagen stieg, näherte sich ein Zivilist, straffte sich und meldete: "Genosse Schabowski, sie lassen sie schon durch. Keine besonderen Vorkommnisse."Die Bürger zogen mit gezücktem Personalausweis durch den Trichter, die Posten winkten sie durch. Ein Riesenstein fiel mir vom Herzen: Kein gewalttätiger Ausbruch. Keine Schüsse. Keine Verletzten. Dass mit der Maueröffnung das Ende der DDR seinen Anfang genommen hatte, ahnte auch ich noch nicht. Das ZK wollte die DDR damit stabilisieren. Doch das ging nicht auf, konnte nicht aufgehen, weil die Öffnung der Grenzen nicht flankiert war von anderen substanziellen Änderungen des sozialistischen Systems. Es war dazu nicht fähig. Die Frage nach der Lebenstauglichkeit einer sozialistischen Ideologiegesellschaft war beantwortet.

Ulrich Tukur, 52, deutscher Schauspieler und Sänger

Am 9. November machte ich mit meiner damaligen amerikanischen Frau und meiner kleinen Tochter Marlene Urlaub in Braunlage im Harz, dem sogenannten "Zonenrandgebiet". In den Wochen zuvor hatten wir immer wieder die Fernsehbilder von Ostdeutschen gesehen, die über die grüne Grenze in Ungarn in den Westen kamen. Und an diesem Abend brach auf einmal die Mauer in Berlin, wieder sahen wir die Fernsehbilder in unserem Hotelzimmer.

Aber die Folgen konnten wir sofort in den Straßen von Braunlage beobachten. Überall fuhren Trabant-Wagen herum, jeder drückte auf die Lichthupe. Wir setzten uns in unser Auto, fuhren mit. Und immer wenn uns ein Trabbi entgegenkam, drückten wir die Lichthupe. Die Freude war riesengroß. Das alles war sehr bewegend, wenn auch schwer zu begreifen. Kurz darauf wurde der Grenzzaun auf einem Berg oberhalb von Braunlage eingerissen, und viele Menschen, die auf der bisherigen DDR-Seite gelebt hatten, strömten mit ihren Einkaufstaschen nach Braunlage.Wir standen nur da und sahen zu, weil wir es selbst nicht wirklich fassen konnten, was da eigentlich passierte.

Ich hatte in den 80ern immer wieder in Berlin gearbeitet und beispielsweise die Bedingungen für die Grenzüberschreitung am Friedrichsstadtpalast als absurd empfunden. Mir war klar, dass dies nicht auf ewig so bleiben würde. Dass es dann so schnell gehen würde, hätte ich allerdings nicht gedacht.

Seit dem Mauerfall hat sich Berlin unglaublich verändert. Als ich 1984 mit Peter Zadek in der Freien Volksbühne gearbeitet habe, war die Stadt sehr still, die Sommer in der Mauerstadt waren unendlich ruhig, West-Berlin träumte seinen Traum von Großstadt nach. Es war wenig los, man konnte nirgendwo wirklich gut essen. Dennoch, es waren zauberhafte stille Sommer. Die Stadt war leer. Jetzt bewegt sich alles. Berlin setzt heute eine unglaubliche Energie frei. Und: Man kann dort inzwischen sehr gut essen. Als Stadt mitten in Europa an der Schnittstelle zwischen Westen und Osten übernimmt Berlin wieder die Rolle, die es mal hatte, nimmt wahnsinnig Fahrt auf. Es wird sicher noch zehn, zwanzig Jahre dauern, dann wird Berlin denselben Rang einnehmen wie Paris und London. Es wird immer spannender.

Heinz Schäfer, 78, ließ als Grenztruppen-Oberstleutnant die ersten Ost-Berliner über den Übergang Waltersdorfer Chausee

Ich war am 9. November zu Hause, wir saßen auf der Couch, alle zusammen, und sahen die Pressekonferenz mit Schabowski. Ich war erst mal erschrocken: "Das kann doch nicht wahr sein!" Mein Regimentskommandeur rief mich an, fragte: "Hast du das gehört?" Ich sagte: "Ja, ich hab die Uniform schon an, ich fahr los." Es gab aber keinen Befehl. Mein Kommandeur hatte keinen Befehl, mein Vorgesetzter vom Kommando Mitte hatte keinen Befehl, der Chef der Grenztruppen hatte keinen Befehl. Der Minister für Nationale Verteidigung auch nicht. Was sollten wir jetzt machen?

Da standen Hunderte Menschen: "Wir wollen durch! Wir wollen durch!" Da blieb uns weiter nichts übrig, als zu sagen: "Na gut: entweder, oder." Zwischen halb neun und neun sind die dann durch bei uns. Da war offen. Wenn ein Soldat da gesagt hätte, "Ich mach das nicht mit, hier lasse ich keinen durch", und hätte die Maschinenpistole genommen und geschossen: furchtbar. Furchtbar!

Michael Schumacher, 40, Formel-Eins-Weltmeister

Wie wahrscheinlich bei jedem anderen auch sind die Bilder von der Maueröffnung fest in meinem Hirn eingebrannt - Leute, die auf der Mauer tanzen, die auf die Mauer einschlagen, lachen, weinen, sich umarmen. Das waren unglaubliche Momente, die einem heute noch Gänsehaut bereiten und natürlich alles verändert haben. Vielleicht nicht bei mir direkt, aber doch in Deutschland und der Welt.

Helme Heine, 68, Satiriker und Kinderbuchautor aus Berlin

Als die Mauer fiel, befanden wir uns gerade auf einer sehr einsamen Insel im Pazifik. Es gab nur eine einzige Kneipe. Der einheimische Kellner fragte uns, woher wir kämen. Deutschland, sagten wir. West-Deutschland oder Ost-Deutschland, wollte er wissen. Wir fanden die Frage ziemlich abenteuerlich, denn Ostdeutsche hielten sich zu dieser Zeit eher selten im Pazifik auf. Aber dann berichtete er uns, dass die Berliner Mauer gefallen sei. Wir hatten ihn zunächst im Verdacht, auf ein großzügiges Trinkgeld aus zu sein. Doch über Bordfunk erfuhren wir dann wenig später tatsächlich das Unglaubliche.

Walter Momper, 64, 1989 -1991 Regierender Bürgermeister von Berlin

Ja, am 9. November erlebten wir ein Wunder. Wenn auch ein Wunder mit Ansage - denn Günter Schabowski hatte mich als Regierenden Bürgermeister von West-Berlin vorab informiert. Das Treffen war nicht einmal geheim. Es hat hinterher eine Presseverlautbarung über die besprochenen Punkte gegeben, dass wegen der geplanten Erleichterungen im Reiseverkehr gemischte Arbeitsgruppen aus der DDR und dem West-Berliner Senat gebildet werden sollen. Schabowski hat zwei Stunden selbstkritisch über die DDR geredet.

Am Ende sagte er ziemlich unvermittelt, dass es Reisefreiheit geben werde. Aber nur, dass die DDR ein neues Reisegesetz plante und dass es irgendwann Reisefreiheit für alle DDR-Bürger geben würde. Einzelheiten oder gar ein Datum kannte ich nicht.

Schabowski sah das eher als bürokratischen Vorgang. Als ich ihn auf den möglichen Ansturm von 500.000 Menschen am ersten Tag ansprach, meinte er nur, machen Sie sich mal keine Sorgen, es besitzen ja nur zwei Millionen DDR-Bürger überhaupt einen Pass. Und bis die dann ein Visum haben, können wir das steuern. Ich sagte, der Druck wird doch von Tag zu Tag größer. Daraufhin sprachen wir über praktische Fragen, zusätzliche Grenzübergänge, das Transportproblem und das Begrüßungsgeld zum Beispiel.

Über die Tragweite war ich mir damals nicht in der ganzen und tatsächlichen Dimension im Klaren . Wir waren natürlich sehr vorsichtig in der Außendarstellung Dritten gegenüber. Ich war ja nicht der Pressesprecher von Schabowski. Aber es war uns eigentlich schon klar, dass diese Regelung, egal wie sie genau aussehen würde, früher oder später den Sturm von hinten über die Mauer bedeuten würde. Wie lange das noch dauern würde, war uns nicht klar. Wir haben eher später damit gerechnet. Schabowski hatte gemeint, "noch vor Weihnachten", und uns zugesagt, uns rechtzeitig zu informieren, wenn es soweit ist. So kam der tatsächliche Ablauf auch für uns total überraschend. Wir hatten uns damals zwar nicht getraut, das offensiv zu verkünden. Aber durch unser Vorwissen konnten wir dazu beitragen, dass es kein Chaos gab, sondern dass wir auf den zu erwartenden Massenansturm relativ gut vorbereitet waren.

Ich hatte eigentlich immer damit gerechnet, dass es nach dem Druck durch die Massenausreisen über die Botschaften irgendwann einen Sturm von hinten über die Mauer geben würde. Seit dem 3. November wussten auch die Alliierten und Bundeskanzler Kohl über Schabowskis Ankündigung Bescheid. Auch in Bonn hat man das nicht richtig eingeschätzt. Kohls Antwort kam am 25. November - als die Mauer längst gefallen war.

Iggy Pop, 62, US-amerikanischer Rocksänger, lebte und arbeitete Ende der 70er in Berlin

Ich habe in den 70ern zwei Jahre mit David Bowie in Berlin gelebt und gearbeitet, dort zwei Alben aufgenommen. Eine wilde Zeit, die ich nie vergessen werde. Der Fall der Mauer hat mich Anfang der 90er zu eine Liedzeile in "Louie, Louie" inspiriert. Ich habe da gesungen: "Life after Bush and Gorbatschow, the wall is down, but something is lost." Als ich dazu in einem Berliner Radiosender 1994 von Hörern befragt wurde, musste ich mir wüste Beschimpfungen anhören: Wie ich denn nur sowas sagen könnte, der Mauer nachjammern.

Dabei habe ich doch Recht. Nach dem Mauerfall war in der Stadt auch vieles verloren gegangen. Die Menschen aus dem Osten wurden entwurzelt. Es hat sich so viel verändert, das hat viele verrückt gemacht. Ich bin trotzdem immer gerne da, weil es sich ständig verändert.

Aber ich habe vor allem sehr lebendige Erinnerungen an meine Zeit in Berlin in den 70ern. Die Stadt hat mich damals bezaubert, ich kam mir vor, als würde ich auf einer Insel leben. Ich und Bowie in Schöneberg, Ecke Kleistpark an der Hauptstraße 155, später bin ich in eine eigene Wohnung umgezogen, weil wir uns auf die Nerven gegangen sind, für 180 Mark, ich schlief auf einer Pritsche, duschte kalt, hatte nur einen Kohleofen. Ich hatte damals erhebliche Probleme mit Drogen; ich lebte von Koks, Hasch, Rotwein, Bier und deutscher Wurst. Trotzdem war es rückblickend eine glückliche Zeit in Berlin, weil ich dort zum ersten Mal als Künstler ernst genommen wurde.

Hans-Dietrich Genscher, 82, war von 1974 bis 1992 Außenminister

Der 9. November 1989 - ein unvergesslicher Tag. Mit Helmut Kohl war ich zu einem offiziellen Besuch in Warschau bei der neuen, von der Reformbewegung "Solidarnosc" getragenen Regierung. Während des Abendessens kam die Nachricht: Die Mauer ist offen. Jeder wird verstehen, dass das ein ziemlich kurzes Abendessen wurde.

Wir sind dann ins Gästehaus zurückgefahren, haben uns zusammengesetzt und überlegt: Was machen wir mit dem Besuch? Es war schnell klar, jetzt gehören wir nach Berlin. Dann kam die Nachricht, dass am nächsten Tag vor dem Schöneberger Rathaus eine Großkundgebung stattfinden würde. Da war endgültig entschieden, dass wir zurückgehen.

So kam es auch. Wir flogen am nächsten Tag mit der Bundeswehr-Maschine nach Norden und über die Ostsee nach Hamburg. Dort mussten wir umsteigen in eine amerikanische Militärmaschine, weil deutsche Flugzeuge nicht nach West-Berlin fliegen durften.Ich muss sagen, die Nacht vom 9. November war zwar nicht schlaflos, aber der Schlaf war dauernd unterbrochen. Diese Nachricht war einfach so überwältigend, und dann natürlich die Frage: Was muss man jetzt tun, was muss geschehen?

Was für mich ebenfalls unvergesslich ist, war das Treffen am nächsten Morgen. Ich hatte schon lange eine Begegnung vereinbart mit Lech Walesa. Er kam mit seinem außenpolitischen Berater Bronislaw Geremek, der später auch Außenminister war. Die Agenda, die wir für das Gespräch vorgesehen hatten, wurde zur Seite gelegt und es ging nur um eine Frage: Was bedeutet der Fall der Mauer? Geremek sagte: "Der Fall der Mauer bedeutet, dass Deutschland wiedervereinigt wird. Das ist ein großer Tag für Deutschland, aber es ist auch ein großer Tag für Polen. Denn wenn Deutschland vereinigt sein wird, dann wird Polen Nachbar der Nato und der Europäischen Gemeinschaft sein."

Heute ist Polen Mitglied von beidem. Und Bronislaw Geremek, dieser große Mann, hatte schon damals das richtige europäische Verständnis dessen, was geschehen war.

Henning Mankell, 61, schwedischer Schriftsteller und Theaterregisseur

Ich bin alt genug, mich grob an den Bau der Mauer zu erinnern. Damals war ich zehn, elf Jahre alt. Trotzdem bin ich später, als junger Theatermacher, sehr oft von Stockholm direkt nach Ost-Berlin geflogen: um das Berliner Ensemble zu sehen. Sicherlich fast ein Dutzend Mal. Ich bin nämlich sogar so alt, dass ich damals noch Helene Weigel auf der Bühne erlebt habe. Sie war damals schon sehr alt, aber ich fand sie großartig.

In jenen Jahren, Ende der 60er, war ich fast niemals in West-Berlin - für mich war nur Ost-Berlin interessant. Ich gewann mit der Zeit einige Freunde da, aber mich zog es nicht ihretwegen oder gar wegen des politischen Systems dahin, sondern allein wegen des Theaters. Mein letzter Besuch dort muss im Jahr 1985 gewesen sein. Damals war offensichtlich, dass sich das System nicht würde halten können.

Ich traf gelegentlich einige der Dramaturgen und Theaterleute, ein paar Mal sprach ich zum Beispiel mit dem späteren Leiter des Berliner Ensembles, Manfred Wekwerth. Ich sprach sehr gern mit ihm, weil er noch ein Student von Bertolt Brecht war, und diese direkte Verbindung faszinierte mich. Worüber wir aber niemals sprachen, war Politik. Das wollte er nicht, und ich war noch sehr jung und hatte das Gefühl, nicht genug zu wissen. Er merkte natürlich, dass etwas in dem Staat nicht stimmt. Aber ich fühlte mich nicht genug gewappnet für ein Streitgespräch. Also sprachen wir die ganze Zeit übers Theater.

Im Land selbst herrschte eine sehr befremdliche Atmosphäre. Es war ein abgeriegelter Staat, man fühlte sich umzingelt von Spitzeln - es war eine fast kafkaeske Situation. Anfang der 80er war mir schon klar: Das geht nicht mehr lange weiter. Wir Schweden sahen unseren Wohlfahrtsstaat ja von jeher als Alternative zu einem ungerechten Raubtierkapitalismus. Aber für uns war ganz klar: Unser wahrer Feind steht im Osten. Das ging so weit, dass die Schweden sich vor DDR-Spionen fürchteten, das war eine regelrechte Mär damals. Wir fürchteten uns also vor der DDR, aber ich dachte immer, sie wird sich nicht halten. Und doch hat mich der Mauerfall 1989 dann wie jeden anderen sehr überrascht.

Damals lebte ich schon die meiste Zeit des Jahres in Mosambik, aber die Fernsehbilder sah ich mit meiner damaligen Frau in Schweden. Wir hatten nicht erwartet, das noch in unserer Lebenszeit zu sehen. Und ein paar Monate später geschah das Gleiche noch einmal, als die Apartheid in Südafrika endete. Auch da dachte ich, der Wandel wird auf jeden Fall kommen, aber ich werde es wohl nicht mehr erleben. Und auch da geschah es, wie in Berlin, rasend schnell. So lächerlich das ist, aber das Einzige, was wir sicher über geschichtlichen Wandel wissen, ist: Wenn etwas passiert, geschieht es schnell.

Marita Koch, 52, DDR-Spitzen-Leichtathletin, Olympiasiegerin, bis heute Weltrekordhalterin über 400 m

Ich wollte immer raus aus Rostock, aus der DDR, um die Welt zu entdecken. Das war für mich die Motivation, Hochleistungssportlerin zu werden. Nur so konnte ich Europa kennen lernen, nach Australien und Amerika reisen. Als ich in den Nachrichten Günter Schabowski gehört hatte, fragte ich mich schnell: Wenn das jetzt möglich ist, warum war das nicht schon fünf oder zehn Jahre früher möglich? Das hätte mein Leben einfacher gemacht, ich hätte selbst bestimmen können, wann ich Mutter werde, und hätte nicht bis zum Ende der Karriere warten müssen, ich hätte die Orte fürs Trainingslager selbst bestimmen können, hätte reisen können, ohne großen Aufwand.

Unvergessen ist ein Anruf ein paar Tage nach Maueröffnung. Ich wurde zum Sport-Presseball nach Hamburg eingeladen. "Da muss ich erst fragen, ob das geht", war meine Antwort. "Sie müssen niemanden mehr fragen", sagte der Anrufer. Wir mussten beide lachen.

Und heute? Kurz nach der Wende eröffnete ich ein Sportgeschäft, in dem ich Markenartikel, die es im Osten nicht gegeben hatte, anbieten konnte. Heute habe ich ein Modegeschäft. Zu Hause genieße ich täglich den kleinen Luxus, keine Kohlen mehr aus dem Keller holen zu müssen, sondern dank Ölheizung immer eine warme Wohnung zu haben. Ich genieße auch das Reisen, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Aber ich ärgere mich, dass kurz nach der Wende so vieles aus dem Osten schlecht geredet und kaputt gemacht worden ist - wie die Konzepte der Kinderbetreuung und die Sportschulen.

Bleibt noch ein Aspekt: Mir ist oft vorgeworfen worden, dass ich gedopt hätte, um Topleistungen zu erzielen. Ich kann nur wiederholen, was ich schon oft gesagt habe: Ich habe damals Medizin studiert, ich wusste um die Nebenwirkungen und habe versucht, mich Medikamenten zu entziehen, wo immer ich konnte.

Tom Cruise, 47, US-amerikanischer Schauspieler

Als ich vom Fall der Berliner Mauer erfuhr, war ich gerade in New York. Ich habe diese Fernsehbilder von den Menschenmassen an und auf der Mauer nie vergessen, sie haben mich sehr bewegt.

Als ich für die Dreharbeiten von "Operation Walküre" mehrere Wochen in Berlin lebte und arbeitete, habe ich meine deutschen Kollegen wie Christian Berkel und Thomas Kretschmann ständig ausgefragt, wie sie diesen Tag damals erlebt hatten, wo sie waren, wie sie das wahrgenommen hatten, die Öffnung, die Monate des Übergangs. Wann immer es meine Zeit zuließ, habe ich mir die Stadt angesehen, die so voller Geschichte steckt.

Befreundete Schauspieler luden mich zum Essen ein, wieder fragte ich sie, wie es war. Ich habe meinen Aufenthalt hier sehr genossen. Ich habe zig Bücher über Berlin gelesen, nicht nur über den NS-Widerstand, auch über die Mauer. Die Mauerstadt ist heute eine offene Stadt.

Ich ging am Wannsee spazieren, dort wo die Mauer mal stand, entlang an vielen historischen Stätten. Ich hatte manchmal den Eindruck, die Geschichte des 20. Jahrhunderts abzuschreiten. Das Holocaust-Memorial, in das ich mich eher hineingeschlichen habe, weil ich nicht wollte, dass mein Besuch dort in eine Pressekonferenz mündet. Oder eben auch die Babelsberg Filmstudios, mit ihrer großen Tradition. Billy Wilder, der lange hier gearbeitet hat. Ich wollte immer schon hierher kommen.

Rainer Eppelmann, 66, gründete die Oppositionspartei Demokratischer Aufbruch mit, später CDU-Minister in der freien, letzten DDR-Regierung

Als Schabowski seine folgenschweren Worte sagte, war ich für den Demokratischen Aufbruch bei einer Kirchenveranstaltung in Ostberlin, wo sich alle neuen Gruppierungen und Parteien vorstellten. Ich fuhr beschwingt von der neuen Meinungsfreiheit nach Hause und da traf ich meinen Nachbarn, den damaligen Stadtjugendpfarrer von Berlin, Wolfram Bösemann: "Du, haste schon gehört, die Mauer soll offen sein." Das wollten wir uns nicht vor dem Fernseher ansehen, sondern vor Ort! Also sind wir zur Bornholmer Straße gefahren.

Am Grenzübergang ein exotischer Eindruck: An der Grenze standen Leute, direkt am Schlagbaum. Vorher undenkbar! Wir drängten uns ganz nach vorne, bis in die erste Reihe, mit den Händen fast auf dem Schlagbaum. Die Leute riefen: "Nun lasst uns doch mal durch, der Schabowski hat gesagt, wir dürfen durch." Die Grenzer standen ganz anders da, als sie bisher immer gestanden hatten: nicht mehr breitbeinig im vollen Bewusstsein ihrer Macht mit ihrer Kalaschnikow an der Brust, sondern unbewaffnet. Wie ein Häufchen Elend. Später stellte sich heraus, die sollten verhindern, dass jemand rübergeht, aber der Kommandant war so klug, sie zu entwaffnen.

Sie machten aber einfach nicht auf, obwohl sich hinter uns Tausende Menschen drängten. Da kamen wir Berliner auf einen grandiosen Gedanken: Wir haben den Schlagbaum einfach selbst geöffnet. Das war nicht Herr Krenz, nicht Herr Schabowski. Ich gestehe Herrn Schabowski zu, dass seine Äußerung uns erst auf die Idee gebracht hat, an diesem 9. November dahinzugehen. Aber als wir hinkamen, war der Schlagbaum noch unten und wir, die wir da waren, haben ihn hochgehoben. Die meisten Ostberliner sind dann über die Bornholmer Brücke in den Westen gegangen, später kamen die ersten Westberliner über die Brücke nach Ostberlin. Mein Nachbar und ich, wir sind dann nicht in den Westen rüber und haben uns am Ku’damm die Birne vollgetrunken. Wir sind an der Grenze stehengeblieben.

Und das war für mich bis heute die anrührendste, emotionalste und schönste Nacht meines Lebens: Menschen, die da immer wieder durchgingen, die sich in die Arme fielen, die juchzten, die lachten, die weinten. Wie außergewöhnlich und emotional diese Situation war, merkt man daran, das keiner rief "Freiheit!" oder "Sieg!" oder so etwas. Das einzige Wort, das immer wieder gesagt wurde, war: "Wahnsinn!". Die Leute riefen ununterbrochen "Wahnsinn!"

Sido, 30, Erfolgsrapper aus Ostberlin

Einige Wochen bevor die Mauer fiel, war ich mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Stiefvater von Ostberlin in den Berliner Wedding geflüchtet. Wir wohnten im Asylantenheim mit einigen anderen in einem Raum voller Stockbetten. Am 9. November ging meine Mutter nachts noch raus, um eine Tante zu treffen, ich wurde wach davon, schlief aber schnell wieder ein.

Am nächsten Morgen habe ich mich gefühlt, als hätte ich an Silvester den Jahreswechsel verpennt: "Scheiße, warum hat dich das nicht interessiert, was Mama da macht?" Alle waren am 10. November glücklich. Ich habe meine Tante und meine Oma wiedergesehen, obwohl ich im Westen war. Da habe ich erst kapiert: "Oh, die Mauer ist auf!"

Ich hatte im Westen eine völlig neue Freiheit. Bevor uns im Osten das erste Einmaleins beigebracht wurde, hat man uns gezeigt, wie man gerade sitzt. Hände auf den Tisch. Melden mit der Hand ganz gerade. Der Knoten musste auf eine bestimmte Art ins Pioniertuch gebunden sein. Alles musste nach Plan laufen. Im Westen gab es diesen Plan nicht mal annähernd. Wenn du aufs Klo musstest, konntest du gehen. Dieses Lockere habe ich schnell ausgenutzt. Die erste Scheiße habe ich drüben ganz schnell gebaut, als ich mit Leuten bei Aldi eingebrochen bin. Auf solche Gedanken zu kommen, war auch eine Folge des Mauerfalls.

Die Ostler waren dann zum Fertigmachen prädestiniert. Es gab Ostler-Witze, in der Schule wurde es schwer. Kinder können da eklig sein. Ich war das Opfer. Es gibt Opfer, die dadurch stärker werden, und irgendwann Doktoren. Und dann gibt es die, die ihr Leben lang denken, sie seien wirklich die dummen Ostler. Aus denen wird nie was, höchstens Alkoholiker. Die anderen sagen: "Okay, ich bin Ostler, und jetzt haue ich dir in die Fresse." Das war ich. Drei, vier Mal habe ich mir das angehört: "Scheiß Ostler." Dann war Ende. Die erste Schlägerei in meinem Leben hatte ich, weil irgendeiner einen Ostler-Spruch gebracht hat.

Ulf Merbold, 68, erster Westdeutscher im All, arbeitete in den 80ern und 90ern an Bord der russischen wie der US-Raumstation

Am Tag des Mauerfalls war ich mit meinem ostdeutschen Kollegen Sigmund Jähn - dem ersten Deutschen im All - in einem Hotel im saudi-arabischen Riad. Wir waren zum Jahrestreffen ehemaliger Raumfahrer aus Ost und West gekommen, und dann saßen wir plötzlich mit tränenfeuchten Augen vor dem Fernseher und hörten, wie Schabowski mit stotternden Sätzen die Reisefreiheit verkündete.

Ich hatte schon auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen im Radio die Geschichte eines Mannes aus Eisenach gehört, der mit seinem Wartburg in Kassel aufgetaucht war. Der erzählte dem hessischen Reporter, dass er gehört habe, in Herleshausen sei die Grenze offen. Das wollte er nicht glauben. Als der Mann nach Schicht-Ende am frühen Morgen hin fuhr, wurde er wirklich durchgewunken - und war in Kassel. Da sind plötzlich Dinge passiert an diesem Tag, die kein Mensch zuvor für möglich gehalten hätte. In Saudi-Arabien haben Jähn und ich dann im Fernsehen verfolgt, wie die Mauer endgültig fiel.

Gregor Gysi, 61, war 1989-93 Chef der SED, später PDS, heute Vorsitzender der Linken im Bundestag

Da ich eine schwierige Strafverhandlung vor dem Stadtgericht Berlin am nächsten Morgen hatte, schlief ich bereits, als mich meine Lebensgefährtin anrief, um mir zu erklären, dass die Mauer offen sei. Ich teilte ihr mit, dass ich um die Uhrzeit für Scherze nicht aufgelegt sei.

Sie blieb dabei. Daraufhin schaltete ich den Fernseher ein (noch mit Knopf, nicht mit Fernbedienung) und stellte fest, dass sie Recht hatte. Sie wollte mich dazu bewegen, sofort aufzustehen, um mit ihr nach Westberlin zu fahren, wozu ich aber aus mehreren Gründen keine Lust hatte. Erstens war ich vorher schon in Westberlin gewesen, zweitens laufe ich nicht gerne in Massen, drittens sagte ich ihr, dass das der Anfang vom Ende der DDR sei, worüber ich erst nachdenken müsse. Meine Lebensgefährtin erwiderte, dass dies Unsinn sei, die Leute gingen dort nur einen Kaffee trinken, kämen wieder und damit wäre das Problem erledigt.

Viertens kenne ich deutsche Gerichte und wusste deshalb, dass die Verhandlung am nächsten Tag pünktlich stattfinden würde, egal was in der Nacht zuvor geschehen war.

Eine Stunde später rief sie mich erneut an und versuchte mich wiederum zu bewegen, mit ihr zusammen nach Westberlin zu fahren, was ich aber nicht tat. Mein Gefühl war ein doppeltes: Einerseits wusste ich, es ist ein großer Akt der Befreiung, andererseits kam ich mit dem Ende der DDR noch nicht klar und letztlich war es mir zu willkürlich. Wenn man ohne Gesetz eine Mauer öffnen kann, kann man sie ohne Gesetz auch wieder schließen. Das dachte ich eben wie ein Jurist.

Am nächsten Tag fand die Verhandlung genau so statt, wie ich es befürchtet hatte. Einen Monat später sprach ich auf dem außerordentlichen Parteitag meiner Partei und erklärte, wie man die DDR grundlegend reformieren müsste. Anschließend sagte meine Lebensgefährtin zu mir, dass sie meine Rede erstaune, denn ich hätte ihr doch schon am 9. November gesagt, dass dies der Anfang vom Ende der DDR sei. Wieso meine ich, dass noch all diese Reformen in der DDR durchgeführt werden könnten?

Recht hatte sie.

Lionel Richie, 60, US-Popstar

Ich war oft in Berlin, bevor die Mauer fiel. Ein Konzert in der DDR durfte ich leider nie geben, also ging ich immer mal wieder auf einen Besuch rüber, um Ostberlin einfach mal erlebt zu haben.

Und dann rief eines Tages mein deutscher Konzertveranstalter Fritz Rau bei mir an: "Lionell! Die Mauer fällt gerade!" Ich war erst sprachlos, aber bat ihn dann um einen Gefallen: "Fritz, geh bitte raus und besorg mir ein kleines Stück aus der Mauer, als Souvenir!" Und eines Tages, etwa fünf Monate später, hält plötzlich ein Truck vor meiner Haustür daheim in Los Angeles: mit einem Teilstück der Berliner Mauer - ein Block, von oben bis unten! Das hatte Fritz mir gekauft und schicken lassen.

Seitdem steht also ein komplettes Stück der echten Berliner Mauer auf meinem Grundstück, hinter meiner Villa in Beverly Hills. Mit den den Grafitti-Sprayereien drauf und allem Drum und Dran. Ich habe das bisher kaum jemandem erzählt, weil es doch irgendwie komisch klingt: "Unten durch meinen Meditationsgarten verläuft die Mauer." Aber genauso ist es.

Olaf Martens, 46 , Fotograf der Leipziger Schule aus Halle/Saale

Ich war bei meiner Großmutter. Dort habe ich gelebt. Ich hatte zwar eine eigene Wohnung in Halle-Neustadt, die ich aber eher als Atelier und Labor nutzte. Meine Oma hatte eine größere und schönere Altbauwohnung in der Innenstadt und hat mich während meines Studiums durchgefüttert. Wir haben gerade ferngesehen, als zur Pressekonferenz mit Günter Schabowski geschaltet wurde.

Der Mauerfall war keine große Sensation für mich, eigentlich war er absehbar. Es kam ja schon davor zu Demonstrationen, vor allem in Leipzig. Ich bin erst Monate nach der Öffnung der Mauer in den Westen gefahren. Ich dachte, ich warte erst mal ab, bis der ganze Trubel vorbei ist.

Edgar Dick, 47, Bundestags-Saaldiener, war am 9. November im Plenarsaal

Im Bundestag wurde gerade über Sozialpolitik debattiert, als mir ein Kollege um 19 Uhr das Fax gab, in dem stand, dass die Mauer geöffnet sei. Mir war in dem Moment gar nicht richtig bewusst, was ich in den Händen hielt. Ich wusste nur, dass das Fax unheimlich wichtig sein musste, weil ich es unverzüglich der Bundestagspräsidentin Frau Annemarie Renger aushändigen sollte, damit die es den Abgeordneten vorliest.

Ich hatte also gar keine Zeit, einen Blick darauf zu werfen, sondern habe das Schreiben gleich Frau Renger gegeben. Die hat den aktuellen Redner noch zu Ende sprechen lassen und dann das Fax verlesen. Daraufhin stand der gesamte Plenarsaal, die Abgeordneten, auf, und sang das Deutschlandlied.

Das war schon ein ergreifender Moment. Ich hatte ein bisschen Gänsehaut und dachte nur: "Jetzt bist du wirklich in einem historischen Moment hier anwesend. Und dann auch noch mitten im Plenarsaal." Das hat nicht jeder. Das gibt es nur einmal.

Nana Mouskouri, 75, griechische Sängerin

Meine Generation kann stolz darauf sein, was sie seit Ende der 60er Jahre alles erkämpfte: die Bürgerrechtsbewegung in den USA, das Ende der Diktatur in Griechenland, die weltweite Friedensbewegung, der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika - und eben der Kampf um die Freiheit in Osteuropa. Als 1989 die Mauer fiel, war auch das einer der Meilensteine zu einer besseren Welt.

Ich habe meinen ersten deutschen Hit, "Weiße Rosen aus Athen", 1961 in Berlin eingesungen - als gerade die Mauer gebaut wurde. Ich wohnte in einem alten Hotel in Westberlin, ein sehr schönes Haus, trotz der Bombenschäden. Ganz in der Nähe verlief die Grenze: Ich konnte sehen, wie die Mauer errichtet wurde, wie die Menschen auf beiden Seiten standen, mit Taschentüchern in der Hand, weinend, das war so herzzerreißend. Aber ich sagte auch: So wie in Griechenland der Bürgerkrieg ein Ende gefunden hatte, wird auch diese Mauer fallen.

Alle diese Erinnerungen sind wiedergekommen in diesem Moment, als es nach 28 Jahren tatsächlich passierte. Ich erinnerte mich auch daran, wie ich 1984 an der Mauer auf Einladung der Franzosen in französischer Uniform Freiheitslieder gesungen habe. Mich hat überrascht, dass mich die DDR-Kulturfunktionäre trotzdem zu sich in den Ostberliner Friedrichstadtpalast einluden. Aber das ostdeutsche Publikum war immer so dankbar, so enthusiastisch und emotional, dass es sich gelohnt hat. Zumal mir in der DDR nie Vorschriften gemacht wurden, welche Titel ich singen darf. Um zu dieser Zeit in Moskau aufzutreten, musste man sein Programm ganz genau anmelden - mir wollten sie alle Freiheitslieder oder Songs von Bob Dylan oder Donovan streichen. In der DDR hatte ich das Problem nie. Ich durfte sogar mein "Lied der Freiheit" singen: "Keine Macht und kein Zaun den Weg dir verwehren!" Die Leute hatten Tränen in den Augen.

Christoph Matschie, in der DDR Oppositioneller und 1989/90 SPD-Vertreter am Zentralen Runden Tisch, heute Thüringens SPD-Landeschef

Wir sind zehn Leute aus verschiedenen oppositionellen Gruppen und haben uns an jenem 9. November in einer Wohnung in Jena versammelt. Gemeinsam wollen wir, wenn schon nicht die Welt, zumindest die DDR verbessern - zuerst das, was jungen Menschen in Schule und Unterricht zugemutet wird. Darüber reden wir. Von der Dame mit den lila Haaren, die das alles zu verantworten hat. Die ist zwar weg vom Fenster, aber Wehr- und Staatsbürgerkunde sind noch da. Und mit ihnen Drill und ideologische Bevormundung. Nein, so darf es nicht bleiben. Uns ist klar, da muss Frischluft rein ins System, auch wenn man den Zigarettenqualm in der kleinen Bude schneiden kann. Was wir nicht mehr wollen, das wissen wir ganz genau.

Aber was soll an dessen Stelle treten? Freies Denken. Vor allem das. Dafür werden wir streiten. Es ist Mitternacht geworden. Ein bisschen Schlaf wäre nicht schlecht. Ich lenke meine Schritte nach Hause, schnappe im Weggehen eine Radiomeldung auf. Irgendwas ist an der Grenze. Bei mir zu Hause gibt’s kein Radio und keinen Fernseher - besitze ich nicht. Ich falle ins Bett und bin noch ganz aufgewühlt: Wird unser Aufbäumen Erfolg haben? Nur langsam dusele ich ein. Ich wache auf, frühstücke, gehe zur Uni, treffe Leute. Erst jetzt erzählt es mir einer: Die Grenze ist offen. Ich denke: Unglaublich. Was heißt das jetzt? Viele Leute setzen sich auf der Stelle ins Auto. Ich entscheide mich - wieder einmal - fürs Dableiben, muss zur nächsten Versammlung.

Etwas tun zu können, wenn mir danach ist, es aber nicht zu müssen: Das ist Freiheit. Ein unheimlich starkes Gefühl. Es gibt mir den entscheidenden Anstoß. Jetzt weiß ich: Wir schaffen es.

Otto Waalkes, 61, deutscher Komiker

Ach ja, der 9. November ’89! Da war ich noch in Ostfriesland, und die Mauer war derart weit weg, dass wir uns damals noch wunderten: Was ist denn da für ’ne Riesenparty in Berlin?! Einige Freunde sind noch an dem Abend von Hamburg nach Berlin gefahren: Party, Party, Party! Das große Glück. Ich war in dem Jahr in Amerika, und sogar dort wurde ich darauf angesprochen: Now you’ll really get the unification! Germany is big and tall - and funny! Wohl wegen der Party in Berlin.

Ich selbst war schon vor dem Mauerfall oft im Osten. Die Leute drüben durften ja ganz offiziell Otto hören. Westfernsehen war verboten, aber Otto war erlaubt. Es gab eine "Best Of Otto"- LP des Staatslabels Amiga, in Lizenz. Und mein erster Film ist 1985 fast parallel zum Westen auch in der DDR angelaufen. Der hat fünf Millionen Zuschauer da drüben gemacht: Die Ossis sind völlig wahnsinnig! Ich durfte in der DDR sogar live auftreten, das lief ganz offiziell über den staatlichen Kulturbetrieb. Die Nachfrage war riesig: Die Leute wollten "ijorrn Öddö": "Mir wolln dän Öddö!" Es gab Scherze, die sie nicht verstanden, und andere, die besonders gut ankamen: Wenn ich in einem Koch-Sketch Tomaten oder Bananen erwähnte, gab es immer gleich große Begeisterung, weil gerade bei Frischobst Mangel bestand - das habe ich zuerst gar nicht kapiert.

Besonders gern erinnere ich mich an einen Geheimgig in Eisenach, 1978, im Bluesclub "Zur Sonne". Echt abenteuerlich, wie wir da inkognito der Stasi ausgewichen sind, durch die Hintertür aus dem Hotel raus, dann heimlich in den Club. Daran erinnern sich dort noch ein paar Leute, ich treffe sie ab und zu mal wieder, wenn ich im Osten spiele.

Einmal war ich offiziell als Gastkünstler bei einer Feier des VEB Volksgruppe Puppenhersteller oder sowas, das war im Stadtpalast, da saßen dann die Blauhemden und alte Herren mit Schlips, und ich dachte: "Lasst mal bitte die anderen rein." Ich hatte ein Stück, in dem eine Friedenstaube abgeschossen wurde, das sollte ich auf Geheiß der Offiziellen weglassen. Aber da konnte ich sie beruhigen: "Wir können das ruhig drin lassen, ich bin völlig unpolitisch, keine Angst!" Das ging dann sogar, auch wenn sie fanden, das "Hollerehidi" sei doch zu kapitalistisch gewesen.

Flake Lorenz, 42, heute Keyboarder bei Rammstein, 1989 bei der DDR-Kultband Feeling B

Unglaublich, aber wahr: Wir sind Ost-Berliner, aber als die Mauer fiel, waren wir in West-Berlin. Wir hatten mit unserer damaligen Band Feeling B schon Visa für West-Berlin in unsere DDR-Pässe gestempelt bekommen. Wie sich später herausstellte, in der Hoffnung, dass wir im Westen bleiben. Wir waren denen als Punkband einfach zu aufmüpfig geworden. Die Kulturfunktionäre ließen uns im Westen Konzerte geben, und der Stasi-Beauftragte, der uns begleitete und sich als unser Manager ausgegeben hat, sagte im Westen immer so Sachen zu uns wie: "So, ich fahre dann zurück, aber ihr MÜSST ja nicht mitkommen." Aber wir sind immer ganz brav mit zurückgefahren. Wir hätten doch nie drüben bleiben wollen! Alle unsere Freunde, Familien, Fans waren in der DDR!

Wir spielten also am 9. November in West-Berlin, da ging mitten im Konzert die Tür auf und die ganzen Ostpocken kamen rein. Die wussten ja alle, dass wir an dem Abend im "Pike" in Schöneberg spielen. Als die plötzlich alle ankamen, dachte ich: "Oh Gott, seid ihr denn alle abgehauen?!" In der Zeit vor der Maueröffnung gab es im Prenzlberg extreme Fluktuation, viele sind über Ungarn und Prag abgehauen. Ich dachte: "Mann, die können doch nicht ALLE einfach so abhauen!" Es wurde doch gerade erst geil im Osten: Honecker war abgesetzt, die Stasi löste sich auf, es gab endlich freie Wohnungen. Jetzt würd’ ich doch nicht mehr abhauen!

Aber nach dem Konzert, so gegen Mitternacht, sagten sie mir: "Nee! Die Mauer ist offen!" Und ich: "Ach so? Siehste mal." Wir haben dann unsere ganze Gage, die wir in Westmark gekriegt hatten, ausgegeben, um den Ostlern Bier zu kaufen. Danach sind wir zurück nach Ost-Berlin gefahren - gegen den Strom sozusagen. Am frühen Morgen waren wir die ersten, die wieder in Ost-Berlin waren.

Gojko Mitic, 66, gebürtiger Jugoslawe, heute Berliner; in der DDR durch seine Indianerrollen einer der bekanntesten Filmschauspieler

Ich bin seit 40 Jahren Berliner, ich habe den Fall der Mauer auf den Straßen der Stadt mitgefeiert. Aber ich verbinde nicht nur schöne Erinnerungen an die Zeit, als der Eiserne Vorhang fiel. Denn ich stamme aus Jugoslawien, und dass kurz nach der Wende meine alte Heimat zerfiel und in den Krieg gestürzt wurde, hat mir das Herz gebrochen. Ich konnte es nicht begreifen: Wir waren all die Jahre neutral gewesen, die Menschen lebten friedlich zusammen. Der Krieg ging ja auch nicht vom kleinen Mann aus - Politiker haben ihn geschürt. Wahrscheinlich hat Jugoslawien den Kollaps des Kommunismus so schlecht verkraftet, weil es nicht so aufgebaut gewesen war wie die anderen Ostblockstaaten. Die Jugoslawen waren schon vor 1989 viel freier.

Ich konnte zum Beispiel mit meinem jugoslawischen Pass ohne Visum von Ost- nach West-Berlin fahren, da war ich innerhalb der DDR wirklich privilegiert. Aber es war immer ein ungutes Gefühl, an diese Grenze zu kommen. Dadurch hat es mich auch nicht gereizt, ich bin nur selten nach West-Berlin gefahren, habe Freunden und Kollegen im Osten dies und das besorgt oder habe einer Oma etwas mitgebracht.

Am Abend, als die Mauer fiel, zog es mich dann auch nach unten auf die Straße. Es herrschte eine unbeschreibliche Atmosphäre. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Alle feierten. Die Menschen waren wie besoffen von dem Trubel und Jubel. Das war sehr bewegend - auch für mich, denn ich hatte all die Jahre ein schlechtes Gefühl, unter Menschen zu leben, die gegen ihren Willen eingesperrt waren.

Nach der Wende mussten wir DDR-Schauspieler alle von Null anfangen - die Defa stand vor dem Aus, das DDR-Fernsehen wurde abgewickelt, die Theaterleitungen wurden ausgetauscht. Viele Kollegen haben den Sprung nicht geschafft. Ich selbst musste nach Jahrzehnten voller Hauptrollen und großer Kino-Erfolge in der DDR auch erst mal kleinere Brötchen backen, habe viele kleinere Fernsehrollen angenommen und auch eine Weile gezögert, als aus Bad Segeberg die Anfrage kam, bei den Karl-May-Festspielen dort den Winnetou zu spielen. Ich dachte mir, naja, es ist ja wie ein Jahr ein Theaterstück zu spielen. Am Ende sind dann 15 Jahre daraus geworden - und für mich war es eine Möglichkeit, auch in Westdeutschland bekannt zu werden. Nun habe ich mir gerade einen Traum erfüllt: Am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin spielte ich auf der Open-Air-Bühne den Sorbas, eine herrliche Altersrolle - sogar mit Gesang!

Oskar Lafontaine, 66, 1989 Vize-Chef der SPD und 1990 ihr Kanzlerkandidat, heute Co-Chef der Linkspartei

Ich war am 9. November 1989 zu Hause. Als ich Schabowski hörte, dachte ich, er habe sich versprochen. So unwahrscheinlich klang zunächst dessen Botschaft.Die Bilder der jubelnden Menschen an der Bornholmer Straße sind unvergesslich. Ich freute mich mit den Menschen und den fröhlich hämmernden Mauerspechten, die auf ihre Weise den Fall der Mauer symbolisierten.

Die Ereignisse des Jahres 1989 und die Realität im Jahr 2009 führen uns zweierlei deutlich vor Augen: In der DDR erfuhren die Menschen, dass Gleichheit ohne Freiheit zur Unterdrückung führt. Heute erfahren Hartz-IV-Betroffene und Niedriglöhner, dass Freiheit ohne Gleichheit Ausbeutung ist. Die Einheit ist erst verwirklicht, wenn Freiheit, Gleichheit und Solidarität unser Leben in Ost und West bestimmen.

David Bowie, 62, englischer Rock-Musiker und Schauspieler, lebte und arbeitete von 1976 bis 1978 in Berlin und nahm dort einen seiner größten Hits, "Heroes", auf

Ich habe viele Erinnerungen an Berlin, gute wie schlechte, aber sie alle sind noch immer sehr intensiv, sehr stark. Einer von vielen bewegenden Berlin-Momenten war zweifellos mein Open-air-Auftritt 1987 in West-Berlin, vor dem Reichstag. Als wir anfingen, die ersten Takte von "Heroes" zu spielen, konnten wir hören, dass auch auf der anderen Seite der Mauer mehrere tausend Menschen mitsangen. Erst später erfuhr ich, dass die Volkspolizei zeitweise die Fans in der DDR auseinandergeprügelt hatte - nur weil sie dem Konzert zuhören wollten. Sie hatten sich dort am Brandenburger Tor versammelt, sie konnten uns zwar nicht sehen, aber sie konnten uns hören. Und wir hörten sie auch, denn sie sangen sehr laut. Als ich nach dem Mauerfall wieder einmal im vereinten Berlin auftrat, spielte ich wieder "Heroes", und wieder sang das Publikum mit. Nur dass es diesmal eben doch anders war, mir wurde auf einmal klar, dass an diesem Abend auch die Leute im Publikum waren, die 1987 noch auf der anderen Seite der Mauer standen. Und da stand ich dann auf der Bühne, sang mein Lied von den beiden Liebenden, die sich an der Mauer küssten - es war wunderbar.

Als ich Ende der 70er dort hinzog, war ich auf der Flucht vor meinem ausschweifenden Leben in Los Angeles, ich war innerlich ausgebrannt. In Berlin habe ich wieder zu mir selbst gefunden. Ein Exzentriker wie ich konnte dort anonym bleiben. Es war eine eigentümliche Stimmung, die man heute nur schwer nachvollziehen kann: Man war in der Mauerstadt zwar isoliert und doch herrschte dort eine ganz eigentümliche Gemeinschaft - unvergleichlich. Ich persönlich empfand das als sehr befreiend. Es war eine Stadt der Extreme. Dort hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass die Spannungen eher um mich herum waren als in mir drin. Diese Spannungen in der eingemauerten Stadt waren förmlich greifbar. Das war für mich, der selbst so unter Spannung stand, auf gewisse Weise sehr erleichternd und es war ein stimulierendes Umfeld, um Songs zu schreiben. Musikalisch war es die konstruktivste Phase meines Lebens.

Ich bin immer wieder von anderen Künstlern zu meinen Alben, die ich in Berlin geschrieben habe, angesprochen worden. Einige haben sich später ebenfalls auf den Weg nach Berlin gemacht, auf der Suche nach dieser besonderen künstlerischen Spannung, die es in anderen Städten so nicht gibt. Nur hat sich die Qualität der Spannungen verändert. Die Mauer-Stadt Berlin - das war eine ganz andere Welt als das, was Berlin heute darstellt, eine Schnittstelle zwischen Ost und West. Für mich wird Berlin immer eine magische Stadt bleiben.

Philip Roth, 76, US-amerikanischer Schriftsteller

Es war ein überwältigender Moment: Die Mauer in Berlin fiel und ich saß in meinem Apartment in New York, sah mir die Bilder im Fernsehen an. Ich war außer mir vor Freude. Was sich mir eingeprägt hat, war diese unglaubliche Ausgelassenheit der Menschen, wie sie auf der an vielen Stellen brüchigen Mauer standen, feierten. Diese fast schon hysterische Freude. Wunderschön.

Ich war so ergriffen, dass ich meinen Freund, den rumänischen Schriftsteller Norman Manea anrief, während ich mir weiter im Fernsehen ansah, was dort in Berlin vor sich ging. Ich selbst bin nie in der Stadt gewesen, leider. Aber ich habe in den 70er Jahren mehrmals den Ostblock bereist, mich mit Schriftsteller-Kollegen hinter dem Eisernen Vorhang ausgetauscht und sie in den USA herausgegeben, um ihnen ein Forum außerhalb der repressiven Regimes, in denen sie leben mussten, zu geben. Ich habe teils sehr genau miterlebt, wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang zu leben. Insofern war der Fall der Mauer, das Ende des Kalten Krieges. ein besonderer Moment für mich.

Pastor Uwe Holmer, 80, beherbergte 1990 Margot und Erich Honecker für zehn Wochen in seinem Pfarrhaus bei Berlin, ehe das Paar nach Chile floh

Am 9. November 1989 wurde meine 87-jährige Mutter in Recklinghausen beerdigt. Ich hatte eine Reisegenehmigung bekommen, ausnahmsweise mit meiner Frau. Wir saßen mit der Familie zusammen, plötzlich sagte einer: Wir müssen die Nachrichten anmachen. Im Fernsehen haben wir dann den Fall der Mauer gesehen - als Trauergemeinde.

Wir waren immer eine gespaltene Familie. Mein Vater war in der DDR arbeitslos geworden, weil er sich in der Kirche engagierte. Deshalb waren meine Eltern und vier meiner Geschwister in den Westen gegangen. Ich blieb in der DDR, dort wurden Pastoren gebraucht. Als mein Vater im Sterben lag, konnte ich ihn nicht besuchen. Wegen kritischer Worte wurde mir mit Gefängnis gedroht, meine Kinder wurden bespitzelt und nicht zur Universität zugelassen. Wir weinten Glückstränen, als die Mauer endlich fiel.

Doch wenig später, im Januar 1990, bat mich die Kirchenleitung, Erich und Margot Honecker Asyl zu gewähren. Zum Schutz vor Übergriffen der Bevölkerung. Ich zögerte nicht lange; meine Überzeugung war: Wenn wir den gleichen Hass zurückgeben, mit dem wir bedrückt worden waren, gibt es keinen Neuanfang. Beten wir nicht jeden Sonntag: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern."? Ich spürte, dass wir unseren Glauben verraten, wenn wir allen vergeben außer Honecker. Also nahmen wir die Honeckers auf.

Wir haben Honecker als ganz normalen, sympathischen Menschen erlebt. Stets stand er auf, gab uns freundlich die Hand, wenn wir Post brachten. Es war nichts Arrogantes oder Brutales an ihm. Man fragt sich, wie man damit die Schüsse an der Mauer vereinbaren kann. Meine Erklärung: Honecker war nicht grausam, aber bis zum Fanatismus vom Sozialismus überzeugt. Als unsere Gäste sich von uns verabschiedeten, sagten wir: "Frau Honecker, Herr Honecker, wir beten für Sie." Sie bedankten sich höflich. Was in ihnen vorging - und wie wir das empfanden -, darüber redet man nicht. Mit Frau Honecker stehe ich noch heute in Briefkontakt.

Mein tiefstes Erlebnis in dieser Zeit war es, als ein ehemaliger politischer Häftling zu mir sagte, ich habe kein Recht, Honecker zu vergeben. Der Mann war zum Tode verurteilt und später begnadigt worden. Fünf Jahre hatte er abgesessen, bevor die Bundesrepublik ihn freikaufte. Ich sagte ihm, dass ich Honecker nur vergebe, was er mir angetan hat. Was er ihm angetan hat, das müsse er selbst vergeben. Aber ich warnte ihn auch: Wenn Sie das nicht tun, wird die Bitterkeit Ihres Herzens sie auffressen. Der Mann war so wütend, ich dachte, der springt mir ins Gesicht. Aber er sagte: Sie haben Recht, ich muss vergeben.

Andrew Fletcher, 48, Keyboarder der englischen Band Depeche Mode

Den Fall der Mauer verfolgte ich gebannt im Fernsehen, denn Depeche Mode hatte eine sehr enge Verbindung zu Berlin - 1988 haben wir ja sogar einmal in Ost-Berlin gespielt. Vor allem aber hat Martin Gore von 1985 bis 1987 drei Jahre lang mit seiner deutschen Freundin in West-Berlin gelebt, und wir anderen sind für die Produktion von drei Alben zu ihm gefahren und wohnten für diese Zeit auch dort. Unser Studio lag buchstäblich neben der Mauer: Ein paar hundert Meter entfernt von uns standen die Grenzer - damals eine unglaubliche Szenerie für uns!

Wir waren junge Kerle, gerade 21, 22 Jahre alt, nach Berlin zu gehen, war für uns ein abgedrehtes Abenteuer, irgendwie dekadent und aufregend. West-Berlin war Mitte der 80er eine Insel für Lebenskünstler aller Art. Eine eingeschworene, abgeschottete Clique, das Gegenteil von dem, was das vereinte Berlin heute ist. Und es war damals unheimlich frustrierend für uns, mitten in dieser Stadt plötzlich vor einer unüberwindbaren Grenze zu stehen. Martin hat einmal versucht, nach Ost-Berlin zu kommen, einfach nur als Tourist, und sie haben ihm die Einreise verweigert. Ich glaube nicht, dass sie wussten, dass er ein Popstar ist. Vermutlich wollten sie an diesem Tag einfach keine Engländer reinlassen oder so was.

Wenn ich heute durch die Stadt laufe, weiß ich nicht mal mehr, ob ich gerade im Osten oder Westen bin. Ich mag die neue Stimmung im vereinten Berlin, sie ist aufgeregt, die Menschen sind umtriebig, alles ist sehr beeindruckend. Mir gefällt es viel besser als vorher im alten West-Berlin.

Mark Knopfler, 60, schottischer Gitarrist und früher Kopf der Band Dire Straits

Der 9. November veränderte die Welt - auch unsere: Die Dire-Straits-LP "Communiqué" war in der DDR verboten. Es gab ein Lied darauf, "Once upon a time in the West", das empfanden die Machthaber als antirevolutionär. Unsere Fans in Ostdeutschland verstanden das Lied nämlich anders, als wir es gemeint hatten. Sie sangen "Once upon a time we will be in the West": Eines Tages werden wir im Westen sein. Der Song entwickelte sich im Osten zum echten Underground-Hit.

Als wir nach dem Mauerfall zum ersten Mal durch die Ex-DDR tourten, erzählten uns die Fans, dass sie das Album aus dem Radio aufgenommen und die Tapes untereinander getauscht hatten. Da steckt eine Botschaft drin, finde ich: Egal wie streng die Zensur ist, die Technik wird sie schlagen.

Peter Maffay, 60, in Rumänien geborener Deutschrock-Star

Es waren Tage der Freude und eine einschneidende geschichtliche Wende in jenem November ’89 - und meine Band und ich hatten zu einem winzigen Teil dazu beigetragen: 1986 hatten wir zum ersten Mal in der DDR gespielt, in Rostock. Es war alles andere als einfach, im Osten aufzutreten. Oskar Lafontaine hatte uns diesen Auftritt mit seinen Kontakten beschafft, dafür bin ich ihm bis heute dankbar. Dass wir da spielen durften, hatte vielleicht auch damit zu tun, dass wir 1980 "Über sieben Brücken musst du gehen" der Ost-Berliner Band Karat gecovert hatten. Dadurch waren wir sehr beliebt im Osten.

Was vor und während unserer Reise in die DDR wirklich passiert ist, habe ich erst später aus meiner Stasi-Akte erfahren. Wann und mit wem ich in mein Zimmer gegangen bin, wie lange ich da geblieben bin und was ich da gemacht habe, alles steht da drin. Fans aus Suhl, ganz im Süden der DDR, sollten daran gehindert werden, anzureisen. Man wollte nicht, dass zu viele Leute zusammenkamen. Uns schärfte man ein, wir sollten nicht mit Leuten auf der Straße sprechen, sonst bekämen die später Ärger.

Wir waren eine der ersten Bands, die mit einer großen Konzertbühne, Lichtanlage und Boxentürmen in der DDR auftrat. Die Bereitschaft, da zu spielen, hat die Leute motiviert - und wir haben ihnen das gegeben, was sie sich erhofft haben. Eins blieb mir besonders im Gedächtnis, es war bei unserem zweiten Auftritt in Rostock. Als Dekoration hing hinter uns auf der Bühne ein Vorhang aus Metall-Lamellen, an die 300 Kilogramm schwer.Während wir spielten, krachte das Ding plötzlich auf den Boden. Wir hörten auf zu spielen und ich ließ mich hinreißen zu dem Satz: "So, dieser eiserne Vorhang wäre schon mal unten." Die Zuschauer haben gejohlt. Mir war einen Moment lang nicht klar, ob da nicht jemand auf die Bühne kommen und sagen würde: "Maffay, das war’s, geh’ nach Hause!" Aber das hat sich die Stasi wohl nicht getraut, weil die wussten, dass die Leute ohnehin gegen den Staatsapparat eingestellt waren und sich das nicht gefallen lassen hätten.

Ein Höhepunkt war immer "Über sieben Brücken musst du gehen". Da sind die Leute immer ausgeflippt, weil das Lied ja aus der DDR kam. Die waren stolz, dass ein Ost-Produkt so ein Hit werden konnte. Das hat für die Leute eine Achtung vor ihrem eigenen Leben ausgedrückt, denke ich. So wurde es womöglich die achte Brücke zwischen beiden deutschen Staaten.

James Hetfield, 46, Sänger der US-Hardrockband Metallica

Ich weiß noch, was mir zuerst in den Sinn kam, als ich die Bilder vom Mauerfall auf CNN sah: der berühmte Ruf von Ronald Reagan: "Tear down this wall!" Ich dachte sofort daran, dass wir jetzt dahin fahren können, da spielen, quer durch Osteuropa! Vor dem Mauerfall waren wir nie drüben, aber danach haben wir uns das Museum am Checkpoint Charlie angesehen: Diese Leidenschaft, mit der die Leute ihre Freiheit erkämpft haben, ist beeindruckend.

Wir erfuhren, dass wir eine riesige Fangemeinde in Ostdeutschland hatten, obwohl unsere Platten da verboten waren. Wir wissen heute, dass - so albern das klingt - Musik keine Grenzen kennt. Wo es einen Bedarf gibt, wird es auch einen Weg geben. Ob Russland, DDR, Iran oder Irak: Überall kursierten auch in Diktaturen Metallica-Kassetten. Wir sind keine politische Band, aber es hat uns immer stolz gemacht, für all die Werte zu stehen, die in diesen Diktaturen verhasst waren: Freiheit. Freie Rede. Auflehnung.Ich erinnere mich gut an unsere erste Tour durch Osteuropa, nach 1989. Alles war ganz anders als im Westen, besonders für uns, die wir aus Amerika kamen und gerade einmal in Europa gewesen waren. Das war ziemlich genau das Gegenteil von New York: Die Städte waren grau, sehr farblos, keine Werbetafeln oder Leuchtreklame. Es war auf gewisse Art sogar hübsch, dass einem nicht überall Werbung ins Gesicht sprang. Aber insgesamt wirkte die Stimmung eher trübe und düster, fast melancholisch oder traurig.

Aber sobald wir auf die Bühne gingen, war alles anders: Es gibt diesen Ausdruck in den Menschen, diese Hingabe, die sie nicht mehr in sich halten konnten. Unser erstes Konzert in Moskau spielten wir 1991, kurz nach dem Putschversuch gegen die neue demokratische Regierung: Wir gaben ein Gratiskonzert auf einem Flugplatz, zwei Millionen Menschen sollen dagewesen sein. Es war umwerfend, die Soldaten zu sehen, die das Ganze absichern sollten, und die sich plötzlich dachten "Scheiß drauf!", sich umdrehten und sich tanzend und kopfschüttelnd mitten ins Gedränge warfen. Boom - sag hallo zur neuen Freiheit!

Heinz Rudolf Kunze, 52, Deutsch-Rocker, der in der DDR ein Popstar war

Ich werde nie vergessen, wie mich die Nachricht vom Mauerfall erreichte: Wir verbrachten einen freien Tournee-Tag in Gießen, und am Abend standen plötzlich meine vier englischen Bläser im Hotelflur und spielten mir die deutsche Nationalhymne. So erfuhr ich vom Mauerfall!

Für mich war es besonders bewegend: Ich kannte Ost-Berlin gut, weil meine Tante und meine Oma da wohnten und ich sie schon vor dem Mauerfall oft besucht habe. Ich stamme selbst aus dem Osten, alle meine Verwandten lebten da, ich habe als Kind oft die Ferien da verbracht. Und ich kannte die DDR von meinen Tourneen 1987, ’88 und ’89: Ich hatte 1986 auf einer Ost-West-Künstlerkonferenz in Weimar die DDR-Kulturbetriebsleute kennen gelernt und fand die Vorstellung reizvoll, als erster westdeutscher Musiker durch die DDR zu touren.

Ich weiß noch, wie die Kulturfunktionäre vorher auf mich zukamen: "Wir haben uns deine Tour in der BRD angesehen. Willst du die ganzen Sprechtexte auf der Bühne auch im Osten machen?" Ich sagte, so sei die Verabredung gewesen, da sagten sie verlegen: "Dann musst du aber damit leben, tut uns sehr leid, dass die Ansagen dann im Fernsehen der DDR nicht zu sehen sind." Da konnte ich nur grinsen: "Jungs, meine Sprechtexte werden im Fernsehen der BRD auch nicht gezeigt."

Das Publikum in der DDR war so wenig verwöhnt mit westlichen Bands, dass die Konzerte dann aus allen Nähten platzten. Jedes Kunze-Konzert im Osten hatte Springsteen-Dimensionen, unfassbar! Da kamen jedes Mal mindestens 40.000 Leute, manchmal auch 100.000. Und jedes Wort wurde choralmäßig mitgesungen. Die Leute hatten ihre Codewörter. Wenn ich sang "Bald erreichen wir die offene See" oder "Ich geh’ meine eigenen Wege", hatte das eine spezielle Bedeutung.

Kurz vor dem Mauerfall habe ich die Kulturfunktionäre dann zum letzten Mal gesehen: Am 4. November, dem Tag der großen Kundgebung auf dem Alexanderplatz, als Ulrich Mühe gesprochen hat, Christa Wolf und viele andere, war ich zufällig im Gästehaus der FDJ in Weißensee. Die Funktionäre starrten gelähmt vor Angst und fassungslos auf die Bildschirme und sahen die Live-Übertragung. Die Stimmung da hatte schon was vom Führerbunker, sehr bedrückt. Fünf Tage später fiel die Mauer, und ich habe diese Riege nie wieder gesehen.

Ich war Ende 1989 noch mehrmals in Ost-Berlin und erinnere mich, wie aufgekratzt die Stimmung war. Mir fiel aber auf, dass man in der Trubelstimmung die vielen Leute nicht zu Gesicht bekam, die damals schon Bedenken gehabt haben müssen - die zumindest leise und innerlich Skepsis anmeldeten. Aber das wurde alles weggewischt und ging in dem allgemeinen Volksfest unter.

Gunter Gabriel, 67, deutscher Country-Sänger

Ich saß auf einem grünen Ledersofa in einem Bahnhof südlich von Münster und zappte mich durchs Programm. Dann sah ich Menschen, die über die Mauer sprangen. Ich dachte erst, das wäre ein Film, blieb dran hängen und ging erst ins Bett, als es schon hell war. Ich trank alle Flaschen leer, die noch im Kühlschrank waren. Aber ich weiß, dass ich nicht vom Alkohol betrunken war, sondern von den Bildern und Ereignissen berauscht. Am nächsten Tag bin ich mit meinem Wohntruck mit einer Handvoll Freunden nach Berlin und habe auf der Straße des 17. Juni eine Woche lang geparkt. Wir haben einen ganzen Sack voll Tempotaschentücher verbraucht für all die Tränen der Freude.

Jim Kerr, 50, Sänger der schottischen Band Simple Minds

Als die Mauer fiel, war ich gerade mit den Simple Minds auf Tournee in Australien, ich saß mitten in der Nacht in einem Hotelzimmer in Sydney und starrte gebannt auf den Fernsehschirm, sah die Bilder von der bröckelnden Mauer. Ich konnte es nicht fassen. Ich bin vor Freude im Zimmer auf- und abgesprungen.

Das hatte sich zwar angedeutet, aber ich hätte nie gedacht, dass die Leute von einem Moment auf den anderen über Nacht über die Grenze spazieren würden. Ich wäre in dem Augenblick gerne in Berlin gewesen, weil wir vorher oft in der Stadt gespielt haben, immer wieder dorthin gereist sind. Für mich war es immer eine einzigartige Stadt.

Ich weiß noch genau, wie wir 1978 von Hamburg aus durch den ostdeutschen Korridor nach Berlin gefahren sind, in dieser Grenzstadt, die von kulturellen Einflüssen überzuborden schien. Berlin hatte immer eine magnetische Anziehungskraft für Bands vor und nach dem Mauerfall. Franz Ferdinand sind auch hierher gekommen, um ein Berlin-Album aufzunehmen. Einst Frontstadt im Klammergriff der Sowjetunion, heute Schmelztiegel zwischen Ost und West: Berlin war und ist immer eine Entdeckungsreise. Früher sind wir als Touristen in den Ostteil gefahren, heute kann man sich dort frei bewegen und die Stadt dennoch nie erfassen. Es gibt immer etwas zu entdecken. Ich höre oft, Leute hätten den Berlin-Hype satt, kann ich für mich gar nicht sagen. Berlin wird all meinen Erwartungen gerecht.

Jan Josef Liefers, 45, Schauspieler aus Ost-Berlin

Wenn ich mich richtig erinnere, war es kurz vor 19 Uhr, als Johanna Schall, eine Kollegin vom Deutschen Theater, mich anrief. Sie fragte mich, ob ich das eben im Fernsehen gesehen hätte. Ich hatte. "Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich..." Ich musste eigentlich dringend ins Theater, zur Vorstellung. Außerdem war ich mit zwei Freunden aus West-Berlin verabredet. Nach der Aufführung saßen wir in der Kantine und tranken noch etwas. Um Mitternacht wollte ich meine Freunde aus dem Westen zum Tränenpalast bringen und dann nach Hause fahren. Doch wir gerieten in den Sog der Menschen, die Schabowski beim Wort genommen hatten - und in den Westen strömten.

Während wir im Theater gesessen hatten, waren nach und nach alle Grenzübergänge geöffnet worden. Bei dem ungeheuren Ansturm Tausender Menschen schien den Grenzposten die beste Lösung zu sein, mit oder ohne entsprechenden Befehl von oben einfach den Schlagbaum aufzumachen. Unsere vage Phantasie vom dritten Weg, einem demokratischen Sozialismus, einer eigenen selbstbestimmten Variante des Traums von der vernünftigen und gerechten Gesellschaft - sie war nur fünf Tage nach der großen Demo auf dem Alexanderplatz geplatzt.

Kardinal Joachim Meisner, Erzbischof von Köln

Die ganze Zeit vor dem 9. November war bereits so aufgeladen! Dann bekam ich am Abend einen Anruf von einem befreundeten Priester aus Westberlin, der mich fast atemlos beschwor, sofort den Fernseher einzuschalten. Mein erster Gedanke war "Das kann nicht wahr sein!" Und als ich die Nachricht vom Fall der Mauer hörte und die Geschehnisse in Berlin mit eigenen Augen sah, musste ich mich wirklich in den Arm kneifen. Zugleich ergriff mich Sorge und ich dachte "Wenn das mal gut geht!"

Zuerst habe ich mit meinem Bruder Peter in Thüringen telefoniert und ihn gefragt, ob die neuesten Ereignisse schon zu ihm gedrungen seien. Er sagte mir, dass die Menschen über die Medien alles mitverfolgten und der Mauerfall wie ein Beben durch jedes Dorf gehe. Überall sei ein tiefes Gefühl der Befreiung zu spüren. Wie viele andere Menschen saß ich vor dem Fernseher und habe stundenlang die Nachrichten verfolgt.

Da ich neun Monate vorher mein neues Amt als Erzbischof in Köln angetreten hatte und mich ganz dem Kölner Erzbistum widmen wollte, war ich deswegen sozusagen nicht unmittelbar dabei. Wohl aber hatte ich die Teilung der Stadt und des Landes, das ganze menschliche Leid und den permanenten Druck unmittelbar gespürt, der besonders auf den Christen im Osten lastete. So war ich, der ich lange in Berlin gelebt hatte, schon zutiefst innerlich dabei. Mir war sehr bewusst, welche Bürde die Menschen abgeschüttelt hatten.

Heute haben wir allen Grund, den 20. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November zu feiern. Dabei sollten wir aber die 40 Jahre davor nicht vergessen. Sie waren vor allem für die Christen in der DDR ein wirklicher Wüstenweg gewesen, der ihnen viele Entbehrungen und Opfer abverlangt hatte. Viele haben sich nicht beirren lassen, sind ihrem Glauben treu geblieben und haben dadurch den totalitären Anspruch des Staates unterwandert. Ihr Glaube hat diesen Menschen einen Freiheitsraum inmitten der Unfreiheit geschaffen. Von ihren Erfahrungen können wir noch heute viel lernen.

Aufgezeichnet von: Sebastian Amaral Anders, Che Berberich, Harald Biskup, Serge Debrebant, Karl Doemens, Nadja Erb, Johannes Gernert, Steven Geyer, Boris Halva, Stephan Hebel, Bernhard Honnigfort, Jörg Hunke, Rudi Novotny, Jörg Schindler, Martin Scholz, Tanja Schwarzenbach, Katharina Sperber, Thomas Wolff