Wie sieht das Leben eines Zeugen Jehovas aus

WDR: Wie würdest du die Zeugen Jehovas beschreiben? 

Lars Dietz: Die Zeugen Jehovas sehen sich nicht als Teil der Welt. Das sagen sie ja von sich selbst. Und sie haben den Anspruch, dass sie den wahren Glauben haben. Es gibt nur diesen einen Gott, den sie haben und alle anderen müssen falsch liegen. Dieser Gott wird die Zeugen Jehovas dadurch belohnen, das sie irgendwann mal unendlich auf der Erde leben werden, in einem Paradies, wo es keinen Tod gibt, keine Krankheiten, wo alles perfekt ist. Das ist so der Hauptglaube. Das ist natürlich eine schöne Vorstellung - aber absolut unrealistisch.

WDR: Würdest du sagen, dass sie gefährlich sind? 

Dietz: Ja, definitiv. Weil die einen im Leben in einer Situation abholen können, wo man vielleicht glaubt, dass es das Richtige ist. Aber die Konsequenzen, die darauf folgen, die sind einem zu dem Zeitpunkt nicht bewusst. Und wenn man dann in der Glaubensgemeinschaft drin ist und merkt, man passt hier gar nicht rein, das ist nicht das Leben, was ich führen will, dann ist es unfassbar schwer, die Gemeinschaft zu verlassen. Das kann einen auch sehr unglücklich machen und das finde ich sehr gefährlich.

"Als Jugendlicher hinterfragt man nicht"

WDR: Du bist mit drei Jahren in die Gemeinschaft aufgenommen worden. Welche Erinnerung hast du an deine Kindheit? 

Dietz: Es war schon ein schönes Leben. Die Gemeinschaft ist sehr stark, man wird sehr umsorgt, es ist sehr viel Liebe da. Das habe ich als Jugendlicher nicht hinterfragt, dass das der falsche Lebensweg sein könnte.

WDR: Mit 12 Jahren dann die Taufe. Was hat sich danach verändert? 

Dietz: Man war wesentlich mehr an die Regeln gebunden. Also die Regeln vor oder nach der Taufe sind dieselben - aber die Konsequenzen, wenn ich mich nicht an die Regeln halte, die sind ganz anders. Und das hat man natürlich auch gemerkt. Die Leute sind anders mit einem umgegangen, hatten eine höhere Erwartungshaltung.

"Ich wollte frei sein"

WDR: Welche Regeln waren das? 

Dietz: Eine ganz wichtige Regel: bloß kein Kontakte zur Außenwelt, wenn nicht nötig. Die Freunde nur bei den Zeugen Jehovas. Arbeitskollegen ok - aber nicht zum Essen hinfahren, auf keine Geburtstage, keine Weihnachtsfeiern. Man war mehr eingespannt, musste neben dem Bibelstudium von Tür zu Tür gehen. Zusätzlich dazu gab es zwei Versammlungen die Woche. Man hatte weniger Zeit, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit den Zeugen Jehovas.

WDR: Wann war dir klar, dass du kein Zeuge Jehovas mehr sein willst?

Dietz: Kurz nach meinem 18. Geburtstag. Ich wollte endlich frei sein. Ich war vorher nicht frei und nicht glücklich, auch wenn ich das vorher geglaubt habe, aber es war nicht so. Ich war in allem eingeschränkt.

WDR: Wie waren die Reaktionen der anderen Gemeindemitglieder auf deinen Ausstieg?

Dietz: Die Ältesten waren zu dem Zeitpunkt sehr überrascht. Mir wurde erst mal nahegelegt, das alles noch mal zu überlegen. Ich hätte doch etwas anderes in der Bibel gelernt, ob ich all das vergessen hätte. Und später, am selben Abend, hat mich noch ein anderer Ältester angerufen und der war ziemlich direkt. Er sagte: "Das war eine Sünde vom Teufel. Du wirst nicht ins Gottes Königreich kommen. Du verletzt ganz viele Menschen. Schau doch mal, was du da anrichtest."

"Gottes Mundstück"

1870 gründete er eine eigene Bibelstudiengruppe, die sich selbst die "Ernsten Bibelforscher" nannten. 1877 verkaufte er seine Anteile am Bekleidungsgeschäft seines Vaters und widmete sich ganz seiner religiösen Tätigkeit.

Für den Verkauf seiner Geschäftsanteile erhielt er eine Viertelmillion Dollar – eine immense Summe und ein gutes Startkapital für sein religiöses Unternehmen. 1879 gründete er seine erste eigene Zeitschrift: "Zion's Watch Tower and Herald of Christ's Presence", den Vorläufer des heutigen "Der Wachtturm".

Zwei Jahre später gründete er die Wachtturm-Gesellschaft, die 1884 als Aktiengesellschaft gesetzlich eingetragen wurde. Diese sollte sich um Herstellung und Vertrieb der Zeitschrift kümmern.

Den Beginn der Zeugen Jehovas markiert also nicht die Gründung einer Religionsgemeinschaft, sondern die eines Unternehmens. 1931 benannten sich die "Ernsten Bibelforscher" in "Jehovas Zeugen" um. Gestützt auf Jesaja 43, Vers 10 und 11: "Ihr seid meine Zeugen (…). Ich — ich bin Jehova, und außer mir gibt es keinen Retter."

Um Produktions- und Vertriebskosten der Zeitschrift gering zu halten, gründete Russell die "Bethelfamilie", die es bis heute gibt. "Bethel" kommt aus dem Hebräischen und bedeutet "Haus Gottes".

Die Zeugen Jehovas verwenden den Begriff bis heute für ihre zentralen Produktionsstätten, in denen die Schriften der Wachtturm-Gesellschaft hergestellt werden. Die Mitarbeiter dort erhalten für ihre Vollzeitarbeit freie Kost und Logis, plus ein kleines Taschengeld.

Auch den Vertrieb der Zeitschrift hat Russell bis heute geprägt. Er rief seine Leser und Anhänger dazu auf, wenigstens die Hälfte ihrer Zeit dem Predigtdienst zu widmen und dabei die Wachtturm-Literatur zu vertreiben.

Bis heute spielt der Predigtdienst eine große Rolle im Leben der Zeugen. 1907 bezeichnete sich Russell selbst in einem Wachtturm-Artikel als "Gottes Mundstück", der die Wahrheit an die "anderen Knechte" weitergibt.

Gott als alleiniger Befehlshaber

In den nachfolgenden Jahren prägten vor allem zwei Präsidenten die Wachtturmgesellschaft. Zum einen der Nachfolger von Russell, der Anwalt Joseph Franklin Rutherford (1869-1942).

Für ihn galt Gott Jehova als alleiniger Befehlshaber, demokratische Strukturen waren damit ausgeschlossen. Er sah die Wachtturmgesellschaft als "theokratische Organisation", abgeleitet von den griechischen Worten "Theos" für Gott und "Krat(e)ía" für Herrschaft oder Regierung.

Die Hierarchie ist pyramidenförmig. An der Spitze steht Christus, der mittels des Heiligen Geistes die "Leitende Körperschaft" führt. Das ist die oberste Leitungsinstanz der Zeugen Jehovas in New York City. Anfang 2018 bestand sie aus acht Männern.

Die Leitende Körperschaft hat die Lehrautorität, der sich alle Zeugen Jehovas unterzuordnen haben. Zu Russells Zeiten konnten die Versammlungen noch ihre Vorsitzenden, die sogenannten Ältesten, wählen – dies war nun vorbei. Ab nun sollten alle Funktionäre vom jeweiligen Zweigbüro eingesetzt werden. Dies ist bis heute so.

Ein Heer von Verkündigern

Nach Rutherford arbeitete Nathan H. Knorr daran, die Produktion der Wachtturmprodukte zu verbessern, den Umsatz zu steigern und neue Absatzmärkte zu erschließen. Und er führte die Mitarbeiter-Schulung ein.

Die Zeugen Jehovas sollten die Literatur nicht mehr nur als einfache "Hausierer" verbreiten, sondern als eloquente Prediger. Daher entwickelten sie die "Theokratische Predigtenschule", bei der die Zeugen einmal wöchentlich rhetorisch geschult werden. Bis heute ist dies zentraler Bestandteil des Studiums eines Zeugen.

Knorr führte auch die Kreis-, Bezirks- und internationalen Kongresse ein. Hier waren die Zeugen keine Außenseiter, sondern konnten sich als Teil einer großen Masse erleben.

Auch eine eigene Bibelübersetzung trug zu diesem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl bei: die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift. Aus ihr zitieren Zeugen bis heute. Trotz des Widerstandes von Präsident Knorr wurde am 1. Januar 1976 die Machtfülle des Präsidenten auf die Mitglieder der "Leitenden Körperschaft" verteilt.

2018 gab es weltweit laut eigenen Aussagen knapp acht Millionen Zeugen Jehovas, davon rund 170.000 Zeugen in Deutschland.

Die richtige Lesart der Bibel

Die Zeugen Jehovas glauben, dass ihre neue Übersetzung der Bibel von Gott Jehova eingegeben ist, sich die Übersetzung besonders genau an den Urtext hält und gleichzeitig in einer verständlichen Sprache geschrieben ist. Wer diese Übersetzung verfasst hat, haben die Zeugen Jehovas nicht veröffentlicht, um "den göttlichen Autor" zu ehren.

Sie sind der Auffassung, dass nicht alles in der Bibel wörtlich zu verstehen ist. Bei der richtigen Lesart helfen Zeitschriften wie "Der Wachtturm" oder "Erwachet!", herausgegeben von der Wachtturmgesellschaft, interpretiert von der "Leitenden Körperschaft".

Alle Feinde Gottes werden vernichtet

Jehovas Zeugen legen viel Wert darauf, dass der richtige Name Gottes "Jehova" ist. Im Hebräischen gibt es keine Vokale und so steht im Alten Testament als Name Gottes: J-H-W-H.

Die Mehrheit der Forscher ist der Meinung, dass "Jahwe" die richtige Übersetzung ist. Doch die Zeugen Jehovas glauben an die Übersetzung eines Mönches aus dem 13. Jahrhundert, der J-H-W-H mit den dabeistehenden Vokalzeichen des Gottestitels Adonaj (Herr) kombiniert und daher Jehova übersetzt.

Die Zeugen Jehovas sehen Jesus als ein von Gott erschaffenes Wesen. Für sie ist er nicht Teil einer Dreieinigkeit, wie beispielsweise im christlichen Glauben. Sie glauben, dass im Gotteskrieg "Harmagedon" alle Feinde Gottes vernichtet werden. Danach beginne ein 1000-jähriges Friedensreich.

144.000 "wahre Zeugen Jehovas" sollen mit Christus im Himmel regieren, die "anderen Schafe" dürfen für immer als Untertanen des Reiches Gottes auf der dann paradiesischen Erde leben.

Alle jetzt lebenden Menschen, die keine Diener Gottes sind, werden nach der Vorstellung der Zeugen Jehovas in Harmagedon vernichtet – ohne Aussicht auf Auferstehung. Deswegen muss diesen Menschen gepredigt werden, damit sie sich den Zeugen Jehovas anschließen und so gerettet werden.

Die Zeugen Jehovas sagten bereits für 1914, 1925 und 1975 Harmagedon voraus – den Krieg, der das Ende der Welt einleiten sollte. Als er an den angekündigten Daten nicht eintrat, wurden von der "Leitenden Körperschaft" Erklärungen verlangt. Mit geschickter Verknüpfung von Bibelzitaten konnten viele Zeugen besänftigt werden, es gab dennoch verstärkt Austritte.

Gottes Wort ist Gesetz

Für die Zeugen gilt: Gottes Wort ist Gesetz. Und Gottes Wort wird von der "Leitenden Körperschaft" in den unterschiedlichen Wachtturmpublikationen verkündet. Viele Regeln bestimmen daher das Leben eines Zeugen: Weihnachten, Ostern, Advent, Geburtstage, Namenstage, Fasching, Muttertag, Silvester und vieles mehr sind als "heidnische Feste" verboten.

Die Zeugen Jehovas sehen die Ehe als von Gott gegeben, Untreue ist Sünde, Scheidung nur möglich, wenn der Partner untreu war. Homosexualität lehnen sie ab: "Der Standpunkt der Bibel ist ganz klar: Gott hat die Sexualität nur für die Ehe zwischen Mann und Frau gedacht. (…) Wenn die Bibel 'Hurerei' verurteilt, sind damit sowohl homosexuelle als auch bestimmte heterosexuelle Handlungen gemeint", steht in einem "Wachtturm" zum Thema "Wie kann ich erklären, was die Bibel zu Homosexualität sagt?".

Der Mann ist der Vorstand der Familie, der Frau "wird ans Herz gelegt, ihren Mann zu lieben und ihn als Haupt der Familie zu respektieren", so das Informationsportal der Zeugen Jehovas zum Thema Ehe.

Den getauften Zeugen Jehovas ist es außerdem verboten, Bluttransfusionen anzunehmen. Dies wird als Verstoß gegen das göttliche Gebot gesehen. 1994 wurden in der Glaubenszeitschrift "Erwachet" die Fotos von 26 Kindern abgebildet, die starben, weil die Zeugen Jehovas Bluttransfusionen aufgrund ihres Glaubens ablehnen. In "Erwachet" heißt es, dass diese Kinder Gott an erste Stelle in ihrem Leben gesetzt hätten.

Für die Zeugen Jehovas gibt es nur eine einzige Regierung: das Königreich Gottes. Offiziell stellen sie es jedem Mitglied frei, wählen zu gehen. Doch sie sind der Auffassung, das komme der Unterstützung einer weltlichen Regierung gleich. Und die Welt steht nach dem Glauben der Zeugen Jehovas unter dem Einfluss des Teufels. Daher ist intensiver Kontakt mit Welt-Menschen, also Nicht-Zeugen, zu vermeiden. Und auch die aktive Teilhabe am weltlichen System.

Körperschaftsstreit

2006 erhielten die Zeugen Jehovas nach einem über zehnjährigen Rechtsstreit in fast allen Bundesländern den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts – außer in Baden-Württemberg, Bremen und Nordrhein-Westfalen. Damit dürfen sie Kirchensteuern erheben, kirchliche Beamte beschäftigen oder Stiftungen gründen. Zudem sind sie von der Pflicht zur Entrichtung von Körperschafts-, Vermögens- und Grundsteuer entbunden.

Die Zeugen Jehovas hatten im Verfahren erklärt, dass sie kein Interesse an der Kirchensteuer und am Beamtenverhältnis hätten. Ihnen gehe es vor allem um die Steuervorteile und die mit dem Status verbundene Anerkennung. Seit 2017 sind sie in allen Bundesländern als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt.

(Erstveröffentlichung 2014. Letzte Aktualisierung 22.07.2019)

Welche Pflichten hat man als Zeuge Jehovas?

Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist durch ihre ausgeprägte Missionstätigkeit, ihre Ablehnung von Bluttransfusionen, das Nichtbegehen aller religiösen Feier- und Festtage außer dem Abendmahl und das Nichtfeiern von Geburtstagen bekannt.

Was dürfen Kinder von Zeugen Jehovas nicht?

Weihnachten, Ostern und Geburtstag sind tabu. Die Zeugen Jehovas verweigern sich der übrigen Gesellschaft nicht nur, indem sie Bluttransfusionen verbieten, weder zu Wahlen noch zum Militär gehen. Auch christliche Feste wie Weihnachten oder Ostern lehnen sie als heidnisch ab, Geburtstage feiern sie nicht.

Was ist bei den Zeugen Jehovas anders?

Die Zeugen Jehovas lehnen die Lehre der Dreifaltigkeit ab. Das ist einer der Haupteckpfeiler ihres Dogmas und unterscheidet sie grundlegend von den meisten anderen christlichen Glaubensrichtungen. Sie sind davon überzeugt, dass die Bibel bei korrekter Übersetzung und Auslegung die Lehre der Dreieinigkeit nicht stütze.

Haben Zeugen Jehovas einen Fernseher?

Ein paar Bücher liegen unter dem Tisch, "Steppenwolf" von Hermann Hesse und "Alles ist erleuchtet" von Jonathan Safran Foer. Es gibt ein Aquarium, aber keinen Computer, keine Musikanlage, keinen Fernseher.